12. Reflexion | Halloween-Edition
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Heute gibt es zur Abwechslung eine Geschichte, die nicht nur surreal, sondern auch ein bisschen gruselig ist. Happy Halloween!
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"Dafür ist es jetzt schon wirklich ein bisschen spät. Es ist immerhin bald Schlafenszeit", sagte der schnauzbärtige Mann mit feixendem Unterton in der Stimme und tippte mit dem Finger auf seine bunte Plastik-Armbanduhr. Es war kurz vor zweiundzwanzig Uhr. Mara und Lorena sahen sich gegenseitig missmutig an. Es war der letzte Tag der Kirmes und sie hatten noch unbedingt das Spiegelkabinett besuchen wollen. Das Beste hatten sie sich für den Schluss aufheben wollen, aber gerade sah es danach aus, als hätten sie es zu lange hinausgezögert.
"Hey, wir sind schon achtzehn, okay?", schnappte Mara. Der Mann hob beschwichtigend die Hände. Lorena zog sich ihren Blouson enger um den Körper. Sie hatte die Oktobernächte eindeutig unterschätzt und fror nun durch die dünne Strumpfhose, die sie zu ihrem Strickkleid trug. Auch das leichte Jäckchen war eindeutig die falsche Wahl gewesen. Das durchlässige Kunstfasergewebe hielt kaum die schneidend kalten Windzüge zurück.
"Schau mal, hier ist fast nichts mehr los. Nicht, dass hier noch jemand im Spiegelkabinett vergessen wird", sagte der Mann. An seinem Gesicht konnte man nicht ablesen, ob er den letzten Satz scherzhaft oder ernst meinte.
"Ach, kommen Sie schon. Sonst müssen wir noch ein ganzes Jahr warten", sagte Mara. Lorena kannte die Überredungskünste ihrer besten Freundin. Sie würde den Schausteller schon weich klopfen. Das hoffte Lorena zumindest, obwohl es ihr jetzt gerade mehr darum ging, endlich ins Warme zu kommen. Außerdem musste sie auf Toilette und ihr schwirrte der Kopf von der Weinschorle, die Mara ihr vorhin aufs Auge gedrückt hatte. Da war es ihr lieber, im warmen Spiegelkabinett zu stehen, als im kalten Wind. Lieber Kopfweh im Warmen als in der zugigen Nacht.
"Na gut. Ich mache eine Ausnahme. Aber nicht herumtrödeln, ich muss den ganzen Kram noch abbauen. Morgen geht es schon in die nächste Stadt", sagte der Mann und trat vom Eingang weg, um den beiden Mädchen den Weg frei zu machen.
"Geht doch", sagte Mara, als sie an ihm vorbei ging. Lorena murmelte ein schüchternes "Danke". Das Verhalten ihrer besten Freundin war ihr endpeinlich. Mara spielte sich manchmal derart auf, dass man sich am liebsten verkrümeln würde. Die beiden gingen eine schmale Treppe hinauf und hinter einer Tür begann der Spaß auch schon. Mara schritt entschlossen voraus, Lorena folgte ihr.
"Wow, das ist ja richtig ... abgefahren", staunte Mara und sah sich nach allen Seiten um. Spiegel wohin man sah; oben, unten, links, rechts, überall Spiegel. Die Wand war lückenlos bedeckt mit der reflektierenden Oberfläche. Auch der Boden und die Decke war gepflastert mit Spiegeln. Es gab keinen Punkt, an dem man seine Augen ausruhen konnte, denn wohin man auch sah, erblickte man sich selbst in einer der endlosen Reflexionen. Lorena war noch nie in einem Spiegelkabinett gewesen, aber dieses hier machte einen gewaltigen Eindruck auf sie.
"Man weiß gar nicht, wo man hinschauen soll", entgegnete sie. Die beiden gingen langsam durch den Gang und sahen sich wie zwei staunende kleine Kinder nach allen Seiten um. Dabei übersah Mara, dass der Gang vor ihr abknickte und lief gegen einen der zahllosen Spiegel.
"Hmpf."
"Was ist?", fragte Lorena.
"Mist, ich bin gegen den Spiegel gelaufen", sagte Mara. Dort waren jetzt Abdrücke ihrer Wange und ihrer Hände zu sehen, die bei dem Versuch sich abzufangen, entstanden waren. Eilig versuchte sie, diese mit ihrem Ärmel abzureiben.
"Lass sein, die machen das sauber. Ist doch deren Job", sagte Lorena und zog Mara weiter. So faszinierend es auch war, irgendwie war ihr das Spiegelkabinett unheimlich. Am liebsten war es ihr, wenn sie nicht allzu lange an ein und derselben Stelle verweilen musste. Allerdings fühlte sie sich auch nicht unbedingt wohl dabei, durch das Kabinett durch zu laufen. Sie hatte es wie Mara auch nicht kommen sehen, dass der Gang an dieser Stelle nach rechts weiterging. Sie wäre genauso wie ihre Freundin dagegen gelaufen.
"Das hier ist aber schon ziemlich cool, oder?", fragte Mara und strahlte Lorena an. Diese zwang sich zu einem Lächeln und nickte. Wenn ihre Blase nicht so drücken und ihr Kopf nicht wummern würde, dann wäre das Ganze sicherlich noch viel cooler.
"Oder hast du Angst?", fragte Mara und zwinkerte ihrer besten Freundin zu.
"Nein", protestierte Lorena und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie sah sich demonstrativ interessiert um, auch wenn sie am liebsten im Eiltempo hier heraus marschiert wäre. Sich selbst hundertfach gespiegelt zu sehen, hatte sie noch vor einigen Minuten als erstaunlich und interessant empfunden, aber jetzt war es anstrengend.
"Wir sollten weitergehen, der will den Laden bestimmt bald abschließen", merkte Lorena an.
"Klar, klar. Aber wir sollten unbedingt ein Foto machen, findest du nicht? Das sieht bestimmt richtig cool aus", sagte Mara und hatte auch schon ihr Handy gezückt. Sie sah sich im Spiegelkabinett um und schien zu überlegen, aus welcher Perspektive man am besten das Foto machen könnte.
"So, komm mal her", sagte sie dann und zog Lorena näher zu sich heran.
"Bitte ohne Blitz, das halten meine armen, alten Augen nicht aus", sagte Lorena mit müdem Sarkasmus und versuchte, ein Lächeln aufzusetzen, das nicht so abgeschlagen aussah, wie sie sich fühlte.
"Aber hier ist das Licht so schlecht ...", protestierte Mara und tippte auf ihrem Bildschirm auf das Blitz-Zeichen. Ja, doch, es würde so gemacht werden, wie Mara es wollte. Lorena gab keinen weiteren Kommentar dazu ab, da sie wusste, dass sie gegen ihre Freundin nicht ankommen würde. Während Mara noch mit sich haderte, ob sie ihr Handy lieber quer oder hochkant halten wollte, fuhr Lorenas Blick über die zahllosen Reflexionen ihrer selbst.
"Bitte lächeln! Du guckst, als hätte man dich gerade aus dem Bett geholt", sagte Mara und kicherte. Lorena riss sich noch einmal zusammen, um Mara das beste Lächeln zu geben, das sie aufbieten konnte. Mara tippte auf den Auslöser und beide wurden geblendet von dem Blitzlicht. Durch Lorenas Hirn, das immer noch vom ungewohnten Alkoholkonsum vernebelt war, zuckte ein kurzer Schmerz und sie rieb sich die Augen. Als sie sie wieder öffnete, stand Mara ein Stück von ihr entfernt. Nur einen Meter hatte sie sich von Lorena entfernt. Aber wie war sie so schnell dorthin gekommen?
"Hast du jetzt dein Foto?", fragte Lorena mürrisch.
"Ja, aber du hast die Augen zu. Wir müssen es nochmal machen", sagte Mara. Lorena seufzte und wollte sich wieder neben Mara stellen, da bemerkte sie einen glatten, kalten Widerstand gegen ihre Schulter.
"Was ist jetzt? Kommst du her?", fragte Mara irritiert. Lorenas Augen suchten nach der Barriere, die sie davon abhielt, sich neben ihre Freundin zu stellen, aber sie konnte nichts sehen.
"Was machst du da?", fragte Mara und klang allmählich genervt.
"Nichts, ich ... du ... da ist eine unsichtbare Wand ...", murmelte Lorena und tastete in der Luft herum.
"Was? Ich glaube, du hättest lieber auf die Weinschorle verzichtet ...", sagte Mara und verlagerte ungeduldig ihr Gewicht von einem Bein auf das andere.
"Nein, wirklich", sagte Lorena und streckte ihre Hand aus. Wenige Zentimeter vor Maras Gesicht wurde sie gestoppt. Mara zog die Augenbrauen zusammen und streckte nun ihrerseits die Hand aus. Auf ihrem Gesicht machte sich Entsetzen breit. Sie konnte es auch fühlen.
"Mara, ich glaube, du bist im Spiegel", sagte Lorena.
"Scheiße, wie komme ich hier wieder raus?", fragte Mara. Panik schwang in ihrer Stimme. Ihre Gesichtszüge entgleisten. Sie hämmerte mit der Faust gegen die Barriere, aber es tat sich nichts. Nicht einmal ein Geräusch war zu hören. Es war, als sei da einfach nur nichts.
"Du hast ein Foto mit Blitz gemacht", sagte Lorena, "und danach warst du im Spiegel ... gefangen. Mach doch einfach noch ein Foto, vielleicht kannst du es dann wieder rückgängig machen."
Mit zitternden Händen und fahrigen Fingern tippte Mara auf ihrem Handy herum. Dabei fiel es ihr aus der Hand direkt mit dem Display nach unten auf den Boden. Eilig hob sie es auf und sah Lorena einen kurzen aber intensiven Moment lang entsetzt an. Wie wild tippte Mara auf dem Bildschirm herum, aber er blieb schwarz.
"Scheiße, es ist kaputt, es geht nicht mehr an", wimmerte sie. "Hast du dein Handy dabei?"
Lorena zog ihr vorsintflutliches Mobiltelefon aus der Tasche ihrer Jacke und schaltete es an.
"Hat das Ding überhaupt Blitz?", fragte Mara hoffnungslos.
"Ich ... glaube nicht ... warte", sagte Lorena und musste ihre zittrigen Hände unter Kontrolle bringen.
"Mach bitte schnell", trieb Mara sie an.
"Ja, ich ...", fing Lorena an, als sie von einem Rufen unterbrochen wurde.
"Ich schließe jetzt gleich ab! Bitte raus kommen!", rief der Schausteller, der die beiden ins Spiegelkabinett gelassen hatte.
Mara sah Lorena mit großen Augen an, in denen das Entsetzen stand.
"Wir kommen gleich", rief Lorena mit zitternder Stimme.
"Hast du mich gehört? Ich muss gleich abschließen", rief der Mann erneut, diesmal etwas lauter.
"Verdammt nochmal, sind Sie eigentlich taub? Ich habe gesagt, WIR KOMMEN GLEICH!", rief Lorena schrill.
"Hey! Bist du überhaupt noch da drin?", rief die männliche Stimme zurück.
"Sag mal, hört der mich nicht?", fragte Lorena gereizt.
"Wir kommen gleich!", rief nun Mara ihrerseits.
"Alles klar!", kam die Antwort prompt.
Maras und Lorenas verschreckte Blicke trafen sich. Lorena hatte noch so laut schreien können, der Mann hatte sie nicht gehört. Als Mara gerufen hatte, hatte er sie direkt gehört und auch sofort geantwortet. Das bedeutete, er konnte Lorena nicht hören. Aber Mara hörte jedes Wort, das Lorena sagte. Ihr dämmerte, dass nicht Mara diejenige war, die im Spiegel steckte, sondern sie selbst. Die schreckliche Erkenntnis konnte sie auch in Maras Augen deutlich ablesen.
"Ich ... was sollen wir machen? Ich glaube, ich hole den Mann, vielleicht kann er uns helfen", stammelte Mara.
In dem Moment konnte Lorena die Silhouette des Mannes hinter Mara um die Ecke biegen sehen. Genau dort, wo Mara kurz vorher gegen gerannt war. Er selbst lief natürlich nicht dagegen, er kannte sein Spiegelkabinett sicher schon auswendig. Wusste er auch davon, dass man hier in den Spiegeln eingeschlossen werden konnte?
"So, jetzt wird es aber Zeit", sagte er und sah Mara an. Lorena würdigte er keines Blickes. Als ob sie gar nicht da wäre. Als ob sie für ihn nicht da wäre.
"Aber ... meine Freundin ist noch da drin", sagte Mara drängend.
"Wer?", fragte der Mann und sah sich um. Seine Augen streiften Lorena nur kurz, schienen sie aber nicht zu erfassen.
"Meine Freundin! Sie ist doch vorhin mit mir hier hereingekommen!", rief Mara verstört.
"Da war niemand, außer dir", sagte der Mann und runzelte die Stirn.
Mara deutete auf den Spiegel, genau auf die Stelle, an der sich Lorena befand.
"Dort steht sie doch! Sehen Sie sie nicht?", quietschte sie ganz außer sich.
"Das ist dein Spiegelbild, Mädchen. Und jetzt sieh zu, dass du hier raus kommst."
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