11. Der Kurs
Zwei Dutzend Augenpaare ruhten auf ihr, während sie mit fahrigen Fingern ihre Karteikarten sortierte. Bei jeder Karte hatte sie oben ins Eck eine Nummer geschrieben. Sie waren der Reihe nach durchnummeriert, damit nichts schief gehen konnte. Die Karten waren dicht vollgeschrieben, die Sätze waren alle vorformuliert. Alles war perfekt durchgeplant, auch die Sprechpausen. Der Beamer rauschte zwei Meter neben ihr und projizierte eine rote Fläche an die Wand. Ein schönes, angenehmes Purpurrot.
Tina hatte diese Farbe gewählt, weil sie einen effektvollen Einstieg haben wollte. Die Farbe Rot löste in den Leuten etwas aus, ganz im Gegensatz zu Weiß oder Schwarz. Jeder wählte einen weißen oder schwarzen Hintergrund als Startbild. Tina wählte die Farbe Rot. Es passte nicht nur zu ihren Vortrag, sondern machte auch neugierig. Warum gerade Rot? Die Leute wollten das wissen und deshalb würden sie umso aufmerksamer zuhören.
Tina räusperte sich und schaute durch das Publikum. Die Leute hatten sich alle schon an ihre Plätze gesetzt und warteten. "Fang endlich an", sagten die Blicke der Anwesenden. Na gut, dachte Tina, räusperte sich noch einmal und sagte dann: "Herzlich willkommen zu meinem Vortrag. Es freut mich sehr, dass Sie so zahlreich erschienen sind. Das Thema meines Vortrags scheint also von Interesse zu sein, denn der Kurs ist bis auf den letzten Platz ausgebucht. Zu Beginn möchte ich Sie einmal fragen, was Sie mit dieser Farbe assoziieren - der Farbe Rot. Wer möchte seine oder ihre Eindrücke mit den anderen teilen?"
Die übliche Reaktion: nachdenkliche Gesichter wurden aufgesetzt, manche entdeckten, wie interessant ihre Schuhe waren, andere blätterten durch ihre Unterlagen, als würde dort die Antwort stehen. Tina wollte niemanden einfach so aufrufen. Sie setzte auf Freiwilligkeit. Also wartete sie. Nach gut einer Minute hob eine junge Frau zögerlich die Hand.
"Ja, Sie", sagte Tina, "stellen Sie sich kurz vor und teilen uns dann mit, was Sie mit der Farbe Rot assoziieren."
"Also mein Name ist Franziska und ich bin vierundzwanzig Jahre alt und komme aus ..."
"Das passt schon", unterbrach Tina.
"Okay ... also mit Rot assoziiere ich Gefahr. Weil die meisten Verkehrsschilder, die rot sind, sind solche, die vor einer Gefahr warnen."
"Mhm. An welches Schild denken Sie da als erstes?", fragte Tina.
"An das Stoppschild", sagte die junge Frau.
"Aber das Stoppschild signalisiert doch in erster Linie keine direkte Gefahr, oder nicht? Es sagt einfach: hier müssen Sie stehen bleiben und Vorfahrt gewähren. Aber eine Gefahr ... sehe ich nicht", gab Tina nachdenklich zurück.
Die junge Frau strich sich nervös die Haare aus der Stirn und sagte: "Hmm ja, aber wenn man das Schild missachtet, dann ist es doch eine Gefahr. Also das Schild deutet ja dann doch auf eine potenzielle Gefahr hin. Nämlich die Gefahr, die entstehen kann, wenn man das Schild missachtet ..."
Ein paar Leute aus der letzten Reihe fingen an, zu kichern. Tina sagte: "Na gut, das stimmt. Vielen Dank, Franziska, für Ihre Eindrücke. Wer möchte auch etwas zur Diskussion beitragen?"
Tina sah in die Runde und versuchte die Leute auszumachen, die gekichert hatten. Sie rief zwar nicht gerne Leute unfreiwillig auf, aber bei solchen, die andere auslachten, würde sie wahrscheinlich eine Ausnahme machen. In der Zwischenzeit meldete sich ein älterer Herr, der eine Reihe hinter Franziska saß. Tina rief ihn auf.
"Mein Name ist Holger Winzer ich bin vierundsechzig. Wenn ich die Farbe Rot sehe, dann denke ich an Wut. Wenn man zum Beispiel sehr wütend ist, dann läuft man ja auch rot an. Oder man sagt sprichwörtlich, dass man rot sieht."
"Vielen Dank, Herr Winzer. Sie assoziieren Rot also mit primär negativen Emotionen?", hakte Tina nach.
"Ja ... ja, so ist es. Wobei Rot auch für Leidenschaft stehen kann, was ja nicht negativ zu bewerten sei. Obwohl in Leidenschaft auch Leiden steckt ..."
Tina lächelte. Herr Winzer wäre sicherlich in der Lage, einen vollständigen Roman zu der Farbe Rot zu schreiben. Es tat Tina fast schon leid, nicht näher mit dem Herrn in die Diskussion einsteigen zu können, aber die Zeit drängte.
"Ja, das haben Sie gut beobachtet. Vielen Dank, für den differenzierten Beitrag. Wer möchte noch etwas sagen?", fragte Tina und sah in die Runde.
Dabei sah Tina, wie hinten in der letzten Reihe eine junge Dame einer anderen jungen Dame etwas ins Ohr flüsterte. Das konnten die beiden sein, die gekichert hatten. Und selbst wenn nicht, dann waren sie spätestens jetzt fällig.
"Sie da hinten. Möchten Sie vielleicht mit der ganzen Gruppe teilen, worüber Sie flüstern?"
Die beiden zuckten zusammen und schauten Tina wie vom Donner gerührt an. Tina musste sich das Lächeln verkneifen. Dieser Blick, wenn man die Leute erwischt hatte ... herrlich. Wie zwei Rehe, die in das Scheinwerferlicht des nahenden Autos schauen. Tina wusste, dass sie sich nicht über die Farbe Rot unterhalten hatten. Das machte die Sache umso spannender. Was würden sie sich aus den Fingern saugen?
Die eine der beiden - die größere - sagte: "Wir haben nichts weiter beizutragen."
Tina erwiderte schnippisch: "Anscheinend ja doch. Oder worüber haben Sie gerade gesprochen?"
"Das ist privat."
"Okay. Dann verschieben Sie solche Gespräche auch bitte in Ihre Freizeit."
Keine der beiden antwortete, aber böse Blicke ruhten auf Tina. Das nahm sie in Kauf. Sie musste doch für Ordnung sorgen, in ihrem Kurs. Privatgespräche gehörten nun einmal in die Freizeit und nicht hierher. Es war komplett legitim, die beiden Frauen darauf hinzuweisen. Tina warf einen schnellen Blick auf die Karteikarte, die oben lag. Dann schaute sie mit einem souveränen Lächeln wieder hoch.
Eigentlich hatte sie nun die Einleitung abhaken und in das Thema einsteigen wollen, doch in der ersten Reihe meldete sich ein junger Mann. Er trug eine Cargohose und ein T-Shirt auf dem getrockneter Gips klebte.
"Ja, bitte", sagte Tina.
"Ich bin Paul und bin achtzehn Jahre alt. Wenn ich die Farbe Rot sehe, dann denke ich an Romantik. An rote Rosen zum Beispiel. Rot ist eine warme Farbe, die Geborgenheit ausstrahlt, im Gegensatz zum kühlen Blau."
"Sehr gut! Ja, das ist bestimmt etwas, woran auch andere denken. Vielen Dank."
Tina ging zu ihrem Computer und drückte die Pfeiltaste. Der Beamer projizierte jetzt eine Collage an verschiedenen Bildern. Da war eine Nahaufnahme einer dunkelroten Rose, dann ein Bild von einem Lagerfeuer, ein Bild von einem Backsteingebäude, ein Bild von einer mit sehr viel Rotstift korrigierten Klausur, ein Bild von einem Korb voll Erdbeeren. Die Anwesenden schauten sich die Bilder bedächtig an und Tina ließ einige Minuten verstreichen, bis sie weiter sprach.
"Also, hier sehen Sie verschiedene Dinge, die rot sind. Darunter finden Sie auch das eine oder andere, das bereits erwähnt wurde. Wer möchte die Bilder kommentieren?"
Direkt meldete sich Holger Winzer. Tina rief ihn auf.
"Ich hätte Lust auf ein Lagerfeuer", sagte er. Zustimmendes Gemurmel im Raum. Tina gab sich zögerlich. "Na, ich weiß nicht. Sinn des Kurses ist es eigentlich, einen kursorischen Überblick über die Farbenlehre bezogen auf die Farbe Rot zu geben. Ein Lagerfeuer können Sie doch auch in Ihrer Freizeit machen ..."
Holger Winzer setzte einen flehenden Blick auf und sagte: "Ach bitte! Die anderen hier im Raum wollen das bestimmt auch."
Er sah sich um. Tina sah sich um. Ausschließlich zustimmendes Nicken.
"Hmm ... ja, na gut. Aber nicht hier drin. Wir gehen raus auf den Hof", sagte Tina.
Freudiges Geplapper, Stühlerücken, und schon waren alle Leute zur Tür hinaus verschwunden. Der Raum war leer bis auf Tina. Sie seufzte und schaltete den Beamer und ihren Computer aus. Die Karteikarten verstaute sie in ihrer Hosentasche. Dann schloss sie den Raum ab und folgte den anderen in den Hof. Dort waren sie schon fleißig damit beschäftigt, Äste zu sammeln. Die Leute wimmelten über den Hof wie Ameisen und trugen die gefundenen Äste mitten auf dem Hof zusammen. Die beiden Frauen aus der letzten Reihe standen etwas abseits und rauchten. Tina wollte zu ihnen gehen und sie darauf hinweisen, dass während des Kurses nicht geraucht werden darf, da stand plötzlich der junge Mann mit der Cargohose vor ihr.
"Bekommen wir die Bescheinigung für das Bestehen des Kurses trotzdem?", fragte er besorgt und trat von einem Fuß auf den anderen.
"Wie? Ja, natürlich. Warum nicht?", fragte Tina irritiert.
"Na, weil das hier mit de Lagerfeuer außerplanmäßig ist. Weil es nicht direkt etwas mit der Farbenlehre zu tun hat ...", sagte er.
"Ach so. Wenn das so ist, dann nein, dann bekommen Sie keine Bescheinigung." Tina genoss einen Moment lang den entsetzten Blick des jungen Mannes, dann lachte sie und sagte: "Quatsch! Natürlich bekommen Sie die Bescheinigung. Was wir jetzt machen werden, ist sogar Farbenlehre in der Praxis! Machen Sie sich keine Gedanken."
Der junge Mann atmete auf. "Okay. Danke. Ich brauche diese Bescheinigung nämlich wirklich dringend. Ich muss immer nur Fugen verspachteln, wissen Sie? Immer graue Fugen. Aber wenn ich diese Bescheinigung habe, dann darf ich endlich auch streichen! Zwar nur in rot, weil das Thema des Kurses nur auf die Farbe Rot abzielt, aber wenigstens eine Farbe und nicht immer das ewige Grau."
Tina nickte. "Na dann. Sehen Sie, wir haben schon genügend Äste. Haben Sie zufällig ein Feuerzeug?"
Der junge Mann holte eines aus der obersten Tasche seiner Hose und Tina drehte sich damit zu den anderen um und hielt es in die Höhe. Die Leute klatschten. In der Mitte des Hofs lagen die Äste aufeinander geworfen. Sie waren trocken und brannten gut. Bald saßen alle um das knisternde Feuer herum.
"So, und nun würde ich Sie bitten, die Farbnuancen zu beschreiben", sagte Tina.
"Wer will grillen?", rief Holger Winzer.
"Ich"-Rufe aus allen Richtungen. Der Mann entnahm mehrere Plastikboxen aus seinem Rucksack. Sie enthielten Würstchen, marinierte Hähnchenbrust und Gemüsespieße. Er öffnete die Boxen und ließ sie reihum gehen. Leicht angesäuert blickte Tina in die Box, als diese bei ihr ankam. Diese Grill-Aktion versaute ihr den Kurs. Aber sie hatte Hunger und deshalb nahm sie sich ein Würstchen. Sie suchte sich einen dünnen Ast, auf den sie das Würstchen spießte und es an das Feuer hielt.
Plötzlich meldete sich jemand. Es war Franziska. Tina rief sie auf.
"Um auf Ihre Frage zurückzukommen: die Farbnuancen, die ich sehe sind Gelb ... Orange ... und Rot. Aber ein grelles Orange", sagte Franziska.
"Vielen Dank. Möchte noch jemand etwas sagen?", fragte Tina und sah in die Runde. Köpfe wurden geschüttelt. Nein, offenbar wollte niemand etwas sagen.
"Na gut. Wo ist denn gerade die Box mit den Gemüsespießen?", fragte Tina.
Die Box wurde ihr gereicht. Nachdem auch das letzte bisschen verspeist worden war, fingen die ersten an, sich hinzulegen. Tina klatschte in die Hände und rief: "Ein Mittagsschlaf ist nicht vorgesehen in unserem Kurs!"
Mit grätigem Blick richteten sich die Angesprochenen wieder auf und rieben sich die Augen.
"Wir löschen das Lagerfeuer jetzt und gehen wieder nach oben", sagte Tina. Protest aus allen Richtungen.
"Wir haben noch eine gute Stunde. Und wenn Sie Ihre Bescheinigung haben wollen, dann müssen wir jetzt auch inhaltlich weitermachen", sagte Tina. Jetzt bewegten sich die ersten. Paul stand als erster auf.
"Ich gehe einen Eimer Wasser holen", sagte er.
"Danke", entgegnete Tina.
Paul kam mit einem kleinen Putzeimer voll Wasser wieder zurück. Er goss es auf das Feuer, das aber weitgehend unbeeindruckt weiter brannte. Der junge Mann machte ein enttäuschtes Gesicht. Er ging wieder ins Gebäude und kam mit einem größeren Eimer wieder. Diesmal ging das Feuer fast komplett aus, nur noch an einer Stelle glimmte es. Ein weiteres Mal ging er ins Gebäude und kam wieder mit dem kleinen Putzeimer zurück. Damit goss er Wasser auf die kleine glimmende Stelle. Nun züngelte das Feuer aber an anderer Stelle wieder. Paul füllte den Eimer erneut. Diesmal war das Feuer gelöscht.
Alle gingen zurück in den Raum. Der Beamer und der Computer waren verschwunden. Nervöses Geflüster breitete sich unter den Leuten aus. Tina wirkte kein bisschen überrascht.
"Ich habe den Beamer und den Computer nur bis vierzehn Uhr dreiundfünfzig Uhr ausgeliehen bekommen. Jetzt haben wir fünfzehn Uhr", sagte Tina.
Paul raufte sich die Haare. "Heißt das, dass wir doch keine Bescheinigung bekommen werden?", fragte er äußerst besorgt.
"Na ja ... ich kann den Kurs ohne Computer und ohne Beamer schlecht zu Ende bringen ... es tut mir leid, wirklich!"
"Aber Sie haben es versprochen! Sie haben es doch versprochen!", rief Paul entrüstet.
"Beruhigen Sie sich! Es ist doch nicht so schlimm. Kommen Sie doch einfach zu meinem nächsten Kurs. Nächste Woche behandeln wir die Farbe Blau."
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