7 | Privatgespräch
GRACE
Ich sehe auf den schwarzen Regenschirm in meiner Hand und dann wieder zu dem Büro von Ethan. Die Tür ist geschlossen und die Jalousie vorgefahren, sodass ich nicht weiß, ob er dort drin ist. Vermutlich ist er es. Er ist immer vor mir da.
Nach der Autofahrt gestern habe ich die Nacht schlecht geschlafen und war den ganzen Morgen, nervös ins Büro zu gehen. Es ist lächerlich. Es ist alles wie zuvor. Aber dieses Ende ... Dieser eine Moment, als er mir direkt in die Augen gesehen hat, ich konnte einfach nicht aufhören, daran zu denken.
„Hi Ella", begrüße ich Ethans Assistentin mit einem Lächeln, das hoffentlich nichts davon preisgibt, was in mir vorgeht.
„Grace", sagt sie herzlich zu mir. „Wie kann ich dir helfen?"
„Uhm, ist Ethan zufällig frei?"
„Er ist nicht da. Er arbeitet heute von zuhause."
Es sollte mich nicht interessieren und geht mich nichts an, aber trotzdem wird mir bei dieser kleinen Information warm ums Herz. Ethan ist wirklich für seinen Sohn zuhause geblieben.
„Er ist telefonisch oder per Mail erreichbar", fügt Ella hinzu.
Ich sehe auf den Schirm in meiner Hand und halte ihn dann hoch. „Ich wollte ihm den eigentlich nur zurückgeben. Er ... Er hat ihn mir geliehen, weil ich keinen hatte und es gestern so geregnet hat."
Wenn Ella daran etwas seltsam findet, sagt sie es nicht. Fröhlich erwidert sie nur: „Leg ihm den doch einfach auf den Schreibtisch. Das Büro ist offen."
Ich nicke und bin mir unsicher, ob ich enttäuscht oder erleichtert darüber bin, ihn nicht zu sehen.
Im Büro verharre ich kurz. Es ist blank und nichts Persönliches von Ethan ist zu sehen, aber trotzdem fühlt es sich ein wenig so an, als wäre es sein Ort. Obwohl er das nicht einmal wirklich ist. Sein echtes Büro befindet sich in dem gigantischen Bürokomplex von Tyrell.
Als ich zurück an meinen Schreibtisch gehe, stehen Ruth und Gemma bei Selena und sie scheinen sich über irgendetwas Lustiges zu unterhalten. Alle vier sind zumindest am Lachen.
„Hey Leute", begrüße ich sie.
„Wir wollen am Wochenende ausgehen. Bist du dabei, Grace?", fragt mich Gemma.
„Wann?", frage ich sie.
„Samstag."
Eigentlich habe ich keine große Lust mit Gemma auszugehen. Ich bin mir unsicher, was ich von ihr halten soll und habe so das Gefühl, dass sie eher mit Vorsicht zu genießen ist. Doch Selena sieht mich so bittend an, dass ich nicht ablehnen kann. Vermutlich wusste sie auch nicht, wie sie nein sagen soll. Daher nicke ich und wenn meine Tage so weitergehen, kann ich am Wochenende ganz sicher einen Drink – oder vermutlich eher Drinks – gebrauchen.
***
Die Woche schreitet voran und ich gewöhne mich gleichzeitig an das Zusammenleben mit Selena. Es ist angenehm, wie auch nicht anders zu erwarten. An manchen Abenden sitzen wir noch zusammen, an anderen verbringt jeder Zeit für sich in seinem Zimmer oder Selena trifft sich mit ihren Freunden. Ethan ist auch wieder im Büro und alles ist wie immer. Was bedeutet, wir haben keinen Kontakt. Ich habe für mich beschlossen, dass es besser so ist. Ich werde mich ab jetzt ganz normal vor ihm verhalten, so als würden wir uns nicht von früher kennen. Er ist mein Vorgesetzter, zu dem ich aus diesem Grund höflich sein muss, aber mehr auch nicht.
Heute ist Freitag und das Wetter ist himmlisch. Die Sonne scheint und ich habe beschlossen, nach der Arbeit noch etwas Zeit draußen zu verbringen. Selena hat schon etwas vor, aber ich kann auch allein Spaß haben. Bisher bin ich noch nicht dazu gekommen, durch die Stadt zu schlendern und all die Ecken wiederzuentdecken, die ich von früher kenne. Ich bin zwar in Wilbur Creek aufgewachsen, aber in zehn Jahren entwickelt sich eine Stadt weiter und diese Veränderungen zu entdecken, macht es noch so viel reizvoller. Außerdem ist es eine gute Ablenkung.
Vielleicht sollte ich es mit Online-Dating versuchen. Ich meine, wer tut das heute schon nicht? Okay vermutlich viele Menschen. Aber Singles, wie ich, die neu in einer Stadt sind und niemanden kennen ... und die darüber hinwegkommen müssen, dass sie fünf Tage die Woche den Mann vor der Nase haben, den sie einfach nicht vergessen können.
Als Ethans tiefe Stimme zu mir dringt und ich ihn vor seiner Bürotür, in seiner ganzen beeindruckenden Erscheinung sehe, ziehe ich kurzerhand mein Handy hervor und löse den Download der App aus. Es wird definitiv Zeit, über ihn hinwegzukommen.
Nein, nicht hinwegzukommen. Das ist lächerlich. Ich habe keine Gefühle mehr für ihn. Er ... Er bringt mich bloß durcheinander. Ganz genau. Das ist es. Und es macht mich verrückt. Wenn ich mich also auf andere Männer konzentriere, kann ich mich nicht mehr auf Ethan konzentrieren, was genau das ist, was ich brauche.
„Ist das diese Online-Dating-App?"
Erschrocken fahre ich herum und sehe in das grinsende Gesicht von Selena. Schnell drehe ich mein Handy um, sodass der Bildschirm nach unten zeigt. Ich bin froh, dass es nur sie ist, trotzdem spüre ich die Hitze in meinem Gesicht.
„Äh ... ich dachte, ich schaue es mir mal an", erwidere ich noch immer verlegen.
„Ich wusste gar nicht, dass du auf der Suche bist. Hättest du etwas gesagt, dann hätte ich dich schon lange ein paar Männern vorgestellt."
Das ich auf der Suche bin? Bin ich eigentlich auch nicht. War ich nicht. Zumindest nicht bis vor einer Minute.
„Spontane Idee. Ich dachte, wieso nicht mal ausprobieren."
„Absolut. Und du hast Glück, du hast jemanden mit jahrelanger Erfahrung vor dir."
„Oh, toll", erwidere ich, gezwungen.
Ich wollte daraus gar nicht so eine große Sache machen. Nur einen Versuch und wenn er scheitert, dann wäre es auch nicht weiter schlimm. Mit undercover und mal schauen, was daraus wird, ist es jetzt wohl vorbei.
„Hast du schon Bilder?", fragt sie mich.
„Bilder? ... Oh, ach so. Äh nein. Ich suche noch welche raus."
„Wir können ein kleines Shooting machen oder–"
„Sel", unterbreche ich sie und sie sieht mich fragend an. „Ich will es einfach nur mal ausprobieren. Können wir das bitte für uns behalten?"
„Oh ... ja, natürlich."
Ich sollte mich nicht so anstellen, aber da ist doch noch irgendetwas, was mich zurückhält. Ein ungutes Gefühl, als würde es mir sagen wollen, dass ich das nicht tun soll. Aber es gibt keinen Grund. Es gibt nicht einen einzigen Grund, warum ich mich nicht mit Männern verabreden sollte, um zu schauen, wohin es führt.
***
Ich halte meinen Kaffeebecher in der Hand und laufe damit durch das kleine Waldstück, das sich nicht weit vom Hotel entfernt befindet. Als ich an einem freien Stück Wiese vorbeilaufe, halte ich an und lasse mich nieder. Die Sonnenstrahlen werden bereits schwächer und es ist zu spüren, dass die Abendstimmung anbricht. Trotzdem halte ich mein Gesicht noch für einige Minuten nach oben gereckt und genieße das Gefühl der Wärme auf meiner Haut.
Danach beschließe ich, noch einmal mein Vorhaben von vorhin aufzunehmen und mir einen Account bei der Dating-App zu erstellen. Doch anstelle die App aufzurufen, starre ich nur vor mich hin.
Es ist seltsam, zurück zu sein, aber gleichzeitig fühlt es sich gut an. Ich habe es vermisst meinen Vater in der Nähe zu haben und in mir drin ist Wilbur Creek immer mein Zuhause geblieben, selbst wenn ich kaum noch hier war. Meistens ist mein Vater zu meinen Großeltern gekommen oder wir haben uns an einem anderen Ort getroffen. Die wenigen Male, die ich ihn besucht habe, habe ich mich nur in seinem kleinen Haus verschanzt. Überhaupt bin ich das erste Mal wieder hier gewesen, nachdem er bei den Tyrells aufgehört hat und damit auch nicht mehr auf ihrem Grundstück gelebt hat.
Ich war froh, dass diese Verbindung abgerissen ist, aber für ihn hat es bedeutet, dass er seither kaum noch über die Runden kommt. Dass er aufgehört hat, hatte nichts mit mir zu tun, ich habe ihm immer gesagt, dass er das nicht tun soll, aber die Arbeit wurde irgendwann zu viel für ihn. Er hat immer mehr körperliche Probleme bekommen, bis er den Job endgültig aufgeben musste. Jetzt arbeitet er in einer Gärtnerei und pflegt dort ein bisschen die Pflanzen. Es ist erheblich leichtere Arbeit, als ein ganzes Anwesen zu versorgen, mit Bäumen, Hecken und einem gigantischen Rasen. Allerdings ist die Bezahlung auch echt mies und nicht vergleichbar mit dem, was er zuvor bekommen hat. Ich habe ihm angeboten, ihn zu unterstützen, jetzt wo ich einen Job habe, aber er wollte es nicht. Vermutlich hätte ich es mir denken können. Der Stolz meines Vaters hat in etwa die Ausmaße des Mount Everest, wenn es um so etwas geht.
Gerade als ich mich wieder meinem Dating-App-Vorhaben widmen will, ist es dieses Mal Selena, die mich unterbricht.
Selena
Bist du noch im Büro?
Grace
Nein, warum?
Selena
Ich habe meine Kopfhörer liegen lassen.
Ich rolle nicht ganz ernst gemeint die Augen, als ich die Nachricht lese. Sel und ihre Kopfhörer sind eine einzige Katastrophe. Ich kann nicht einmal zählen, wie häufig, sie die irgendwo liegen lässt. Allein in der kurzen Zeit, in der wir uns kennen, musste sie diese bereits einmal nachkaufen, weil sie nicht mehr auffindbar waren.
Grace
Ich kann sie auf dem Rückweg noch schnell holen.
Selena
Du bist die Beste!
***
Da es gefährlich begonnen hat, nach Regen auszusehen, bin ich schon wenig später im Aufzug des Grand Havens. Als ich die verlassenen Büroräume betrete, geht das Licht des Bewegungsmelders an, doch sonst ist alles dunkel. Es ist Freitag Abend, daher war es nicht anders zu erwarten.
Ich gehe zu Selenas Schreibtisch, da höre ich plötzlich eine Stimme – Ethans Stimme. Erschrocken wirble ich herum und sehe, dass die Tür zu seinem Büro ein Spalt offen steht. Er muss telefonieren, denn ich höre immer nur ihn.
„Das kann nicht dein verdammter Ernst sein!", sagt er mit erhobener Stimme.
Überrascht weiten sich meine Augen. Ich habe ihn auf der Arbeit noch nie wütend erlebt. Selbst, wenn etwas nicht gut läuft, reagiert er immer mit Geduld und einer ruhigen Strenge. Allgemein war er nie jemand, der leicht aus der Haut fährt.
Nach einer Pause, in der vermutlich die andere Person etwas gesagt hat, erwidert er: „Was soll ich Noah erzählen? Er hat sich auf dich gefreut!"
Mir wird bewusst, dass das ein privates Telefonat sein muss und noch dazu geht es um seinen Sohn. Ich sollte wirklich nicht hier sein. Ich sollte das nicht hören, aber ich bin wie angewurzelt.
Ethan lacht ungläubig auf. „Ins Spa? Und das kannst du nicht an einem anderen Wochenende machen?"
Wieder Stille.
Als Ethan dieses Mal antwortet, klingt er mehr abgekämpft als wütend. „Er vermisst dich, Aubrey. Du bist seine Mutter. Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen? Vor einem Monat, vor zwei Monaten?"
Ich schlucke bei Ethans Worten. Das klingt furchtbar.
Und ich sollte wirklich nicht lauschen!
„Wie auch immer", höre ich Ethan bitter sagen, dann herrscht Stille und dieses Mal ist es nicht nur eine Pause. Er muss aufgelegt haben.
Scheiße!
Hektisch ziehe ich Selenas Schreibtischschublade auf und greife die kleine Box mit den Kopfhörern. Leider ist es für einen Abgang zu spät, denn Ethan tritt mit großen Schritten aus seinem Büro, bleibt dann aber abrupt stehen, als er mich entdeckt. Mein Herz klopft wie verrückt und ich bin mir sicher, dass mir das Schuldbewusstsein ins Gesicht geschrieben steht.
Krächzend sage ich: „Kopfhörer", und halte sie demonstrativ hoch.
Ethans Blick ist versteinert und er zieht als Reaktion nur seine linke Augenbraue nach oben.
Auch, wenn sein Ausdruck blank ist, ist ihm anzusehen, wie sehr ihn das Gespräch mitgenommen hat. Seine Haare sind durcheinander und seine graugrünen Augen sehen müde aus seinem Gesicht hervor. Es ist allerdings nur ein Augenblick, bevor sie zur Maske werden.
„Ich bin sicher die letzte Person, mit der du reden willst, aber ... aber bist du okay, Ethan?", frage ich ihn mit belegter Stimme.
Er schnaubt auf. Sein eben noch ausdrucksloses Gesicht sieht verärgert aus und da ist noch etwas ... Verletztheit?
Ethan setzt sich wieder in Bewegung und als er an mir vorbeiläuft, sagt er kalt: „Du hast recht. Das bist du wirklich."
Ich zucke bei seinen Worten zusammen und meine Faust schließt sich fest um die Box mit den Kopfhörern. Seit unserem Wiedersehen war das vermutlich die erste ehrliche Emotion mir gegenüber, die ich bekommen habe.
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