39 | Familiensonntag
GRACE
Ich bin gerade dabei meine frischgewaschene Wäsche zu falten und in meinen Schrank zu räumen, da ruft Ethan an. Verwundert sehe ich auf die Uhrzeit. Es ist gerade mal kurz nach zwölf. Normalerweise ruft er nie um diese Zeit am Wochenende an. Es ist die Zeit, die er mit Noah hat und er meldet sich immer erst am Abend, sobald der im Bett ist.
Besorgt, ob etwas geschehen ist, haste ich schnell zu meinem Handy. „Hey", begrüße ich ihn. „Ist alles okay?"
„Baby, ja ich–", sagt er, bevor er sich selbst unterbricht und ruft: „Noah, nicht das Glas!"
Noah antwortet irgendetwas, was ich nicht verstehen kann, woraufhin Ethan noch einmal etwas strenger „Nein" sagt. Dann spricht er wieder mit mir: „Tut mir leid. Störe ich dich gerade bei irgendetwas?"
„Nein, das tust du nicht. Außer vielleicht beim Wäschefalten, wobei ich mich sehr gerne stören lasse. Ist bei dir alles in Ordnung?"
„Ja, ich wollte dich etwas fragen."
„Oh, okay ..."
„Willst du zum Abendessen vorbeikommen?"
„Heute?", frage ich verblüfft.
„Ja, ich mache dir auch Gnocchi, wenn das hilft, dich zu überzeugen", erwidert er.
„Du weißt, du musst mich nicht überzeugen, wenn es darum geht, Zeit mit dir zu verbringen. Aber ... ist Noah nicht da?"
„Doch ... uh ich dachte, es ist vielleicht an der Zeit, dass ihr euch kennenlernt. Natürlich nur, wenn du willst."
„Oh ...", erwidere ich, zu überrumpelt, um gerade etwas Anständiges hervorzubringen.
Er will, dass ich Noah kennenlerne? Das ist gut, oder? Das ist sogar richtig gut. Das heißt, er zweifelt nicht mehr daran, dass wir es schaffen, und er vertraut mir genug, um mich ins Leben seines Sohns zu lassen. Er hat mir gesagt, dass er mich liebt, aber das gerade fühlt sich wie eine zweite Liebeserklärung an. Nur ist diese ohne Worte.
Ethan hat meine Reaktion nur scheinbar falsch gedeutet, denn er sagt unsicher: „Du kannst nein sagen, Grace."
„Was?", platze ich erschrocken hervor. „Nein! Also ich meine ja. Ich will gerne kommen. Tut mir leid, ich ... ich freue mich, Noah kennenzulernen. Ich war bloß überrumpelt."
„Bist du sicher?", fragt er zweifelnd nach.
„Machst du Witze? Ja! Zu tausend Prozent!"
Ein Lachen kommt von Ethan und er sagt: „Ich muss leider auflegen. Noah räumt sonst gleich den ganzen Schrank aus. Aber ich hole dich später ab."
„Nein, ich laufe oder nehme den Bus. Verbring du Zeit mit Noah."
„Aber–"
„Ethan, du wohnst vermutlich der sichersten Gegend von ganz Wilbur Creek. Es gibt absolut keinen Grund, warum ich nicht den Bus nehmen sollte."
Nicht, dass es in Wilbur Creek gefährliche Gegenden geben würde.
Er seufzt resigniert auf. „Du wirst stur bleiben, was das angeht. Habe ich recht?"
„So stur, wie du es dir nur vorstellen kannst."
***
Nervös trete ich von einem Bein auf das andere und warte, bis Ethan mir die Tür öffnet. In meiner Hand halte ich eine riesige Tüte mit Muffins, die ich als reine Beschäftigungstherapie den Nachmittag über gebacken habe. Ab dem Moment, als ich wusste, dass ich Noah kennenlerne, war ich das reinste Nervenbündel. Da nicht einmal Selena da war, um mich abzulenken, musste der Backofen herhalten.
Die Tür öffnet sich und Ethan steht in seiner ganzen atemberaubenden Form vor mir. Er trägt eine lockere dunkelblaue Freizeitchino und ein schlichtes T-Shirt. Seine Haare sehen etwas zerzaust aus, als wären sie einmal durchgewuschelt worden.
Er sieht kurz hinter sich und tritt dann auf mich zu, um mich in einen Kuss zu ziehen. Unglaublich, dass es erst gestern Vormittag war, dass ich mich von ihm verabschiedet habe. Er ist wie eine Droge. Umso mehr ich ihn habe, desto mehr will ich ihn und es kann nie genug sein.
„Ich bin nervös", wispere ich ihm zu und kuschel mich dabei noch etwas enger an seine Brust.
Er löst sich von mir und streift mir sanft eine Strähne hinters Ohr. „Dafür gibt es keinen Grund."
„Was ist, wenn er mich hasst?"
„Wird er nicht. Er freut sich, dich kennenzulernen."
Ich frage mich, ob das stimmt oder ob Ethan es nur sagt, damit ich beruhigter bin. Wie dem auch sei, ändert es nichts daran, dass es mir unglaublich wichtig ist, dass Noah mich mag.
„Ich habe Muffins gebacken", sage ich zu ihm und halte demonstrativ die riesige Tüte hoch.
Ethans Augen weiten sich bei dem Anblick und mir wird bewusst, dass ich ihn vorher hätte fragen sollen, ob es okay ist. Vielleicht findet er es nicht toll, dass ich Süßigkeiten zu Noah bringe.
„Grace, ich weiß nicht, wie viel Erfahrung du mit den Mengen hast, die Kinder essen können, aber Noah ist sehr klein", sagt er dann allerdings mit einem neckenden Unterton, woraus ich schließe, dass er zumindest nicht sauer ist.
„Du kannst sie einfrieren oder ... Okay vermutlich tust du so etwas nicht, weil du hast ja Anna, die dir immer frische Muffins backen kann. Bestimmt macht sie das auch viel besser als ich." Ich seufze auf, als ich merke, dass ich brabble. „Ich war nervös und musste etwas mit meinen Händen tun, was mich beschäftigt. Es war nicht geplant, dass es so viele werden."
Ethan zieht mich wieder an sich und drückt mir einen Kuss auf die Stirn. „Ich bin mir sicher, dass es die besten Muffins sind, die ich je gegessen habe. Schon allein, weil du sie gemacht hast."
Dieses Mal hält er mir seine Hand hin, als er mich wieder loslässt und führt mich ins Haus. Er greift noch um mich herum und nimmt mir mit seiner anderen Hand die Tüte mit den Muffins aus der Hand. Umso näher wir dem Wohnzimmer kommen, desto fester umschließe ich Ethans Finger. Er drückt einmal aufmunternd zu, bevor wir in den Raum treten. Ich entdecke Noah, wie er auf einer großen Spieldecke sitzt und um ihn herum jede Menge Spielzeugfiguren verteilt liegen.
Es ist das erste Mal, dass ich Noah sehe und mir stockt der Atem, als ich diese kleine Version von Ethan vor mir sehe. Auf den Bildern sah er ihm schon immer ähnlich, aber in echt tut er es noch viel mehr. Außerdem ist er so unglaublich süß, dass ich gar nicht anders kann, als zu strahlen. Das mag seltsam klingen, aber ich liebe dieses Kind, ohne je mit ihm gesprochen zu haben.
Als wir näher treten, bemerkt Noah unsere Anwesenheit und sieht auf. Seine graugrünen Augen fallen auf mich und irgendetwas, was so ähnlich wie mein Name klingt, kommt aus seinem Mund.
„Er kann deinen Namen noch nicht aussprechen", raunt mir Ethan zu und lässt mich dann los, damit er sich zu Noah knien kann.
Der ist schon dabei selbst aufzuspringen. Er verliert allerdings wieder den Halt und plumpst zurück. Ethan lacht und hilft ihm, sich wieder aufzurichten. Dann habe ich Noah plötzlich vor mir stehen. Zwei süße Kulleraugen sehen zu mir nach oben und sein Mund steht leicht offen. Ich gehe ebenfalls in die Knie und komme so auf Augenhöhe mit ihm.
„Hey Noah", begrüße ich ihn. „Ich bin Grace und ich habe mich schon unglaublich darauf gefreut, dich kennenzulernen."
„Spielst du mit mir, Gra?"
Erleichtert atme ich innerlich aus, dass er es mir so einfach macht. „Klar. Was willst du spielen?"
Noah zieht mich zu sich auf die Spieldecke und zeigt mir die verschiedenen Figuren, die zu irgendeiner Fernsehsendung gehören, von der ich noch nie gehört habe. Ich sollte wohl dringend anfangen, Kinderprogramm zu schauen.
Nachdem Ethan gesehen hat, dass wir miteinander zurechtkommen, hat er sich in die Küche verzogen. Zunächst war ich nervös, dass er mich mit Noah allein zurückgelassen hat, aber mir wird schnell klar, warum er es getan hat. Als er noch hier war, hat Noah immer wieder nach seinem Vater geschaut, aber jetzt konzentriert er sich voll auf mich.
Man kann Noah nicht gerade als schüchternes Kind bezeichnen, was es noch leichter macht, sich mit ihm zu beschäftigen. Er plaudert munter vor sich hin und selbst, wenn ich inhaltlich nicht viel zu seinen Figuren beizutragen habe, ist er glücklich mir alles ganz genau zu erklären.
Irgendwann ist er zu mir auf den Schoß geklettert und ist jetzt dabei seine Figur, die nach einem Hund aussieht, über meine Schultern und meinen Kopf wandern zu lassen. Kein Wunder, dass Ethans Haare so aussehen. Vermutlich hat er bereits mehrere Durchläufe davon hinter sich. Und ich kann nur daran denken, wie sehr ich das hier liebe.
***
Wie angekündigt, hat Ethan uns Gnocchi gemacht, die zu meiner Freude auch von Noah mit großem Elan verschlungen werden. Nach Ethans Blick zu urteilen, als er auf den halbleeren Teller seines Sohns schaut, teilt er meine Freude nicht so sehr. Vermutlich befürchtet er wirklich schon, dass er zukünftig nur noch Gnocchi essen muss.
„Daddy", sagt Noah mit vollem Mund, was ihm eine hochgezogene Augenbraue von Ethan einbringt. Daraufhin schluckt er erst, bevor er weiterspricht: „Kann ich auch eine Kuss-Freundin haben?"
Irritiert halte ich mit der Gabel inne, die ich mir gerade in den Mund schieben wollte und Ethan hätte sich fast an seinem Wasser verschluckt.
„Vielleicht wartest du damit noch ein bisschen", erwidert er hustend.
„Wie lange?"
„Bis du erwachsen bist."
„Warum?"
„Hast du mir nicht gestern noch erzählt, dass die Mädchen in deiner Klasse alle doof sind?"
„Ja."
„Siehst du."
Noah verzieht das Gesicht und sieht dann mich an. „Mein Daddy und meine Mom küssen sich nie."
Mein Mund klappt auf und ich sehe mit geweiteten Augen zu Ethan, der auch nicht sonderlich erfreut darüber aussieht, wohin das Gespräch abdriftet.
„Hey Bud, wie wäre es, wenn du Grace lieber mal davon erzählst, was du sie fragen wolltest?"
Nachdenklich sieht Noah zu seinem Vater. „Was wollte ich Gra fragen?"
„Dein Bild."
„AHH, Gra kannst du mit mir einen Zaun malen?" Bei dem Wort Zaun überschlägt sich seine Stimme leicht.
Erleichtert über den Themenwechsel sage ich lächelnd: „Na klar. Was ist es für ein Zaun?"
„Mit einem Pferd und einer Wiese und ganz vielen Bäumen", berichtet Noah aufgeregt und wippt auf seinem Stuhl herum. „Darf ich aufstehen, Daddy?"
Ethan nickt und Noah rutscht von seinem Stuhl. Er ist schon dabei loszurennen, da dreht er sich noch einmal zu mir um. „Daddy sagt, er und meine Mom mögen sich nicht auf diese Weise. Aber er kann jetzt ja dich küssen."
Zum Glück erwartet Noah darauf keine Antwort, sondern rennt schon mit kleinen trappeligen Schritten zurück zu seiner Decke und schmeißt sich darauf.
Ich sehe zu Ethan, der sich mit seinen Fingern durch die Haare streift und mir einen entschuldigenden Blick zuwirft. „Tut mir leid. Diese Wortkreation stammt nicht von mir."
„Kuss-Freundin?"
„Ja ... Er hat damit angefangen, als ich ihm von dir erzählt habe. Er muss es bei seinem Kumpel aufgeschnappt haben."
Ich grinse in mich hinein. „Irgendwie ist es süß. Und er hat uns die Erlaubnis gegeben, dass du mich küssen darfst."
Ethans Mundwinkel zucken nach oben und er lehnt sich zu mir vor. „Was für ein Glück ich doch habe und ich beabsichtige, davon sehr häufig Gebrauch zu machen."
Anstatt mich zu küssen, drückt er nur leicht meinen Oberschenkel, aber ich habe auch nicht wirklich damit gerechnet, dass er es vor Noah tun würde. Ganz sicher nicht bei unserem ersten Treffen.
„Er ist großartig, Ethan. Du kannst so stolz auf ihn sein", sage ich mit einem zärtlichen Blick zu Noah gewandt.
„Das bin ich. Danke, dass du hergekommen bist."
„Natürlich! Danke, dass ich ihn kennenlernen durfte."
Mein Blick schweift wieder zu Noah, während ich unter dem Tisch nach Ethans Hand greife. Das hier fühlt sich wirklich an, als wäre ich angekommen und als wären die ganzen fehlenden Puzzleteile endlich an ihren Platz gerückt.
Dabei ist es so leicht zu vergessen, dass außerhalb unserer kleinen Welt, die wir uns selbst geschaffen haben, so viele Probleme lauern, die das alles hier zerstören könnten.
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