30 | Worte aus der Vergangenheit
GRACE
Er hat angerufen. Mit Video! Aus seinem Schlafzimmer! Ich kann nicht glauben, dass dieser Mann es schafft, jedes Mal noch attraktiver zu werden.
Es ist ungerecht. Wie kann er da von mir verlangen, dass ich mich mit meinen Tagträumen zusammenreiße?
Arg! Aber ich werde es wohl müssen. Ich schiele zu Owen, der quer auf der anderen Seite des Raumes sitzt und übertrieben laut lachend telefoniert. Immer wenn er sich so verhält, ist es in der Regel jemand Wichtiges. Ich habe ihn schon häufig genug auf diese Weise mit Ethan oder mit großen Kunden erlebt.
In unserem Telefonat habe ich Ethan noch gefragt, was das für eine Aufgabe ist, die ich mir eingefangen habe. Daher weiß ich jetzt auch, dass ich die komplette nächste Woche damit beschäftigt sein werde Dienstleister für die verschiedensten Themen abzutelefonieren und Angebote zu vergleichen. Ethan meinte, dass es etwas wäre, das man auf mehrere unter uns hätte aufteilen können und dass er mit Owen spricht, aber ich habe ihn gebeten, es nicht zu tun. Selbst wenn er behauptet hat, dass es nichts mit unserer Beziehung zu tun hat und er es auch bei keinem anderen gut gefunden hätte, was Owen gemacht hat, hat es sich trotzdem falsch angefühlt. Wenn das irgendwann mit uns rauskommt, auf welche Weise auch immer, wird man jede Kleinigkeit, die Ethan getan hat, die zu meinem Vorteil war, gegen mich verwenden. Ich weiß es einfach.
Das heißt jetzt aber auch, dass ich verdammt viel auf dem Tisch habe, von dem ich gerade keine Ahnung habe, wie ich es schaffen soll. Zumal Owen es bisher noch nicht einmal für nötig gehalten hat, mir die Listen zu schicken.
Als dann etwa eine Stunde später die E-Mail mit den Dokumenten bei mir eingeht, kann er sich natürlich nicht den Zusatz „Beim nächsten Mal erwarte ich Pünktlichkeit" verkneifen. Innerlich verdrehe ich die Augen, lasse mir aber nach außen nichts anmerken. Die Gefahr, dass er mich von irgendwo beobachtet ist zu groß.
Statt mich weiter über Owen zu ärgern, öffne ich die Anhänge an der Mail. Habe ich vorhin noch gedacht, dass ich viel auf dem Tisch haben werde? Das war wohl eine Untertreibung meinerseits. Ich werde jeden Tag Überstunden machen müssen, um das nur annähernd zu bewältigen.
***
Meine nächsten Tage bestehen aus langen Arbeitstagen und danach Ethan für eine halbe Stunde sehen. Es ist das, wozu ich zugestimmt habe, trotzdem wünsche ich mir jedes Mal, dass er länger bleiben würde. Aber es ist okay. Es ist so viel mehr, als ich zu hoffen gewagt habe. Es ist bloß jetzt, wo ich ihn wieder habe, will ich ihn gar nicht mehr hergeben.
Ja, man kann sagen, was ihn angeht, bin ich wohl eindeutig besitzergreifend. Aber er ist auch einfach so verdammt perfekt. Selbst wenn es nur dreißig Minuten sind, er macht jede Minute zu der besten meines Tages. Er küsst mich, hält mich in seinen Armen und gibt mir zu jeder Sekunde das Gefühl, dass ich besonders für ihn bin.
Das ist Ethan, wie ich ihn in Erinnerung habe. So war er schon immer und trotzdem war es nur einer der vielen Gründe, warum ich mich in ihn verliebt habe. Nicht nur verliebt habe, ihn auch nie ganz loslassen konnte. Jeder andere Mann in meinem Leben musste, ohne es zu wissen, gegen ihn antreten, aber keiner hatte je eine Chance. Ethan war meine erste Liebe und er hat die Latte verdammt weit nach oben gesetzt.
Eigentlich sollte ich mich jetzt freuen, dass das Wochenende vor der Tür steht, aber leider bedeutet es auch, dass ich Ethan nicht sehen werde. Er verbringt das Wochenende mit seinem Sohn. Aber auch wenn ich traurig bin, ihn nicht zu sehen, liebe ich ihn auch dafür, dass ihm sein Kind so wichtig ist. Ich würde es nicht anders wollen.
„Sollen wir heute Abend einen Filmmarathon machen und uns ganz viele total kitschige Liebesfilme reinziehen?", fragt mich Selena von ihrem Schreibtisch.
„Und Popcorn in Massen?"
„Definitiv!"
Ich gebe ihr grinsend ein Daumen hoch.
„Wie lange musst du noch arbeiten?", fragt sie mich. „Es ist Freitag Nachmittag. Du erreichst doch sicher sowieso niemanden mehr."
Ich seufze auf. „Nein, aber ich muss noch alles in die Liste eintragen."
„Soll ich warten?", fragt sie mich.
„Nein, geh ruhig schon. Ich komme, so schnell ich kann."
Sel wirft mir noch einen tröstenden Blick zu, bevor sie ihre Sachen zusammenrafft. Winkend sagt sie noch zu mir: „Dafür bereite ich schon das Popcorn vor."
Gerade als sie weg ist, leuchtet mein Handy neben mir auf. Sofort greife ich danach, als ich sehe, dass die Nachricht von Ethan ist.
Ethan
Bist du noch im Büro?
Grace
Ja. Owens Liste ...
Ethan
Sag mir, wenn du gehst. Ich fahre dich nach Hause.
Ich will ihm gerade antworten, da erscheinen die drei Pünktchen, dass er noch etwas schreibt.
Ethan
Ich will dich wenigstens kurz sehen.
Gott, er hat ja keine Ahnung, wie sehr ich ihn sehen will. Ich versehe seine Nachricht mit einem Herz und widme mich mit deutlich mehr Elan der Liste. Jetzt trennt sie mich nicht nur vom Wochenende, sondern auch von Ethan.
***
Nachdem ich Ethan geschrieben habe, dass ich fertig bin, haben wir verabredet, dass wir uns in der Tiefgarage treffen. Selbst wenn um diese Uhrzeit an einem Freitag Abend nicht mehr viele Mitarbeiter da sind, sehe ich mich trotzdem nach allen Seiten um, um sicherzugehen. Wenn jemand sieht, wie ich in Ethans Auto steige, wird das definitiv zu Fragen führen.
Als ich sicher bin, dass die Luft rein ist, beschleunige ich meinen Schritt für die letzten Meter zu seinem Auto. Ethan sitzt bereits auf dem Fahrersitz und ich lasse mich auf den Beifahrersitz plumpsen. Bevor ich mich allerdings anschnalle, beuge ich mich noch zu ihm herüber, um wenigstens kurz seine Lippen auf meinen zu spüren. Das ist zwar nicht vergleichbar, mit dem, was wir an den letzten Abenden bei mir getan haben, aber es fühlt sich trotzdem unglaublich gut an.
„Du siehst müde aus", sagt Ethan besorgt zu mir, nachdem ich mich angeschnallt habe und er den Motor gestartet hat.
„Die Arbeit war anstrengend. Aber ich komme mir seltsam vor, wenn ich das zu dir sage", gebe ich zu.
„Warum?"
„Weil du so viel mehr arbeitest. Bei mir sind es gerade mal ein paar Tage gewesen. Außerdem kann ich mich einfach auf dem Sofa ausstrecken, wenn ich nach Hause komme."
„Darum geht es doch nicht, Grace."
„Ich bin okay. Keine Sorge." Lächelnd füge ich hinzu: „Ich bin glücklich."
Ethan legt seine Hand auf meinen Oberschenkel und drückt ihn leicht bestätigend. „Ich auch."
Von dieser Aussage von ihm werde ich noch das ganze Wochenende zerren, wenn ich ihn nicht sehen kann. Ich lege meine Hand auf seine und halte sie fest umschlossen.
Leider ist es egal, wie glücklich ich bin, meine Angst, dass er mir doch wieder entgleitet, will nicht weggehen.
***
Nach einem wirklich tollen Freitagabend mit Selena kann ich das von dem Samstag nicht behaupten. Ich habe meinen Vater seit unserem letzten Telefonat erfolgreich ignoriert. Leider habe ich nicht damit gerechnet, dass er beschließt, vor meiner Tür aufzutauchen. Vielleicht war das naiv von mir, da es mir vermutlich hätte klar sein müssen, dass er nicht einfach locker lässt.
„Was willst du hier?", frage ich ihn absolut nicht begeistert.
Am liebsten würde ich ihm die Tür wieder vor der Nase zuschlagen. Das Einzige, was mich aufhält, ist die Tatsache, wie unglaublich erschöpft er aussieht.
„Rede bitte mit mir, Grace", sagt er flehentlich, wobei seine Stimme abgekämpft klingt.
Ich seufze und bedeute ihm, mir in mein Zimmer zu folgen. Auch wenn ich so unglaublich wütend auf ihn bin, ich kann nicht anders als auch traurig zu sein. Er ist mein Dad und er hat mich hintergangen. Trotzdem vermisse ich ihn.
„Was erwartest du von mir, Dad?"
„Grace, es tut mir leid", ruft er verzweifelt aus.
„Das hast du bereits gesagt", werfe ich ein und verschränke die Arme vor der Brust.
„Ich habe das alles aus Sorge um dich getan. Aber ... aber vielleicht war es falsch. Ich hätte dir mehr vertrauen müssen, dass du weißt, was du tust. Nur weil ich–" Er bricht ab und sieht kurz zur Decke, bevor er mich wieder ansieht. „Egal, das ist jetzt nicht wichtig. Ich bin eigentlich auch hier, um dir das zu geben."
Er zieht ein weißes Papier aus seiner Jacke und reicht es mir. Da sehe ich erst, dass es sich dabei um einen Briefumschlag handelt.
„Was ist das?", frage ich ihn abwesend und starre den Brief an.
„Das, was du haben wolltest."
„Ethans Brief", wispere ich ungläubig.
Mit zitternden Fingern greife ich danach und hätte ihn beinahe fallen lassen.
In Zeitlupe sehe ich von dem Brief wieder zu meinem Vater. Meine Finger krallen sich in das Papier, aus Angst, dass er irgendwie wieder verschwinden könnte. „Du hast gesagt, du hast ihn nicht mehr."
„Ich wusste es nicht sicher. Und ich hatte Sorge, was es mit dir macht, wenn du das liest."
„Hast du ein Problem mit Ethan?", frage ich ihn verärgert. Weil warum sollte er mir den Brief sonst heute auch noch vorenthalten?
„Nein, Gracy. Wenn es stimmt, was du sagst, dass er dir nie etwas getan hat, dann habe ich kein Problem mit ihm. Ich habe ihn immer für einen netten Jungen gehalten, als ich noch für die Tyrells gearbeitet habe. Aber er war bloß ein Junge damals, Grace. Zu dieser Zeit mag es noch keine Rolle für euch gespielt haben, aus welcher Familie er kommt oder wer er mal werden wird ... Am Anfang hätte er dich vielleicht sogar noch an seiner Seite gelassen, bis er gemerkt hätte, wie wenig du ihm nützt, ihn vielleicht sogar blamierst. Wie groß wäre dein Schmerz dann erst gewesen?"
Tränen treten mir in die Augen. „Das hätte er niemals getan."
Mein Vater lässt den Kopf sinken und sagt erschöpft: „Ich gehe und lasse dir deine Zeit. Aber lass mich nur noch eine Sache sagen. Ich wollte dich immer nur beschützen, aber du hast recht, ich bin zu weit gegangen."
„Das bist du", erwidere ich mit einem harten Ausdruck, doch in mir drin sieht es ganz anders aus.
Ich vermisse meinen Dad und es tut mir weh, zu streiten. Aber gerade fällt es mir schwer, ihn anzusehen und nicht daran zu denken, was uns sein Schweigen gekostet haben könnte.
Doch am Ende ist es vielleicht auch egal. Ich habe die Entscheidung getroffen, abzuhauen. Schlussendlich bin ich diejenige, die an allem Schuld ist. Nicht mein Dad, nicht Annalynn und am allerwenigsten Ethan.
***
Ich bin erleichtert, dass mein Vater ohne weiter etwas zu sagen, gegangen ist. Ich sitze jetzt auf meinem Bett und starre den Briefumschlag vor mir an. Mein Name steht darauf und es ist deutlich sichtbar, dass er schon einmal geöffnet wurde. Bei dem Gedanken, dass mein Vater den Brief nicht nur verheimlicht hat, sondern ihn auch noch gelesen hat, steigt die nächste Welle der Wut in mir hoch.
Doch Wut ist gerade nicht die Emotion, die mich beherrscht. Ich werde endlich erfahren, was er mir geschrieben hat, und das lässt meinen ganzen Körper, vor Aufregung zittert.
Wie ferngesteuert, hole ich den Brief aus dem Umschlag und breite ihn vor mir aus. Sofort erkenne ich die kraklige Jungenhandschrift, was schon ausreicht, um mich aufschluchzen zu lassen. Hastig wische ich mir die Tränen weg und atme tief durch. Und dann beginne ich ganze elf Jahre später endlich seinen Brief zu lesen.
_____
A/N
Da mich eine Erkältung diese Woche komplett auf die Couch verbannt hat, habe ich jede Menge Zeit für Grace und Ethan. Daher gibt es ein paar zusätzliche Kapitel.
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