27 | Tränen
GRACE
Vermutlich kam mir eine einzelne Sekunde noch nie so lange vor, wie in diesem Moment. Wenn ich nur wüsste, woher ich den Mut genommen habe, ihm das alles gerade zu sagen. Ich könnte definitiv noch mehr davon gebrauchen. Gerade würde ich nämlich am liebsten wegrennen.
Aber schlussendlich sollte ich stolz auf mich sein, richtig? Ich habe ihm offen gesagt, was ich will. Ich habe dieses Mal nicht einfach aufgegeben.
Warum fühlt es sich dann nur so verdammt beschissen an? Tränen steigen mir in die Augen und ich spüre, wie sich die erste bereits daraus löst und meine Wange hinunterläuft.
Ethans macht einen Schritt auf mich zu und plötzlich liege ich in seinen Armen. Auch, wenn er es tröstend meint, gibt es mir den Rest. Die Tränen sprudeln nur so aus meinen Augen und ein unterdrückter Schluchzer löst sich aus meiner Kehle. Ich vergrabe mein Gesicht an Ethans Brust, weil es sich trotz allem noch viel zu gut anfühlt.
„Ich will dir nicht wehtun", wispert Ethan an meinen Kopf, während er mich fest umschlungen hält.
„Es ist okay, Ethan", sage ich mit vor Tränen erstickter Stimme. „Du musst dich dafür nicht rechtfertigen. Es ist dein gutes Recht, dass du das nicht willst. Denk nicht, dass ich das nicht verstehen kann."
Er drückt mich ein Stück von sich weg, damit er mich ansehen kann.
Ich bin mir sicher, dass ich schrecklich aussehe. Aber Ethan hat mich schon in vielen schlechten Situationen gesehen. Für ihn sollte dieser verheulte Anblick von mir also nichts Neues sein.
Er atmet tief durch und plötzlich habe ich das Gefühl, dass auch er nervös ist. „Grace, ich bin nicht mehr so ungebunden, wie ich es früher war. Ich habe einen Sohn."
„Das weiß ich."
„Weißt du auch wirklich, was das bedeutet?"
Verwirrt sehe ich ihn an. „Was meinst du?"
„Dass es nie nur ich bin, sondern immer auch Noah."
Ich nicke. „Ich kenne Noah nicht, aber ich bin mir sicher, dass er toll ist."
Ethan seufzt und sieht mich bekümmert an. „Was ich sagen will, ist, dass wenn man mit mir zusammen sein will, man auch über kurz oder lang eine Mutter für Noah sein wollen muss."
„Oh", erwidere ich betroffen, als mir klar wird, was er meint.
Er lässt seinen Kopf leicht hängen und sein Kiefer ist angespannt. „Ja", ist alles, was er dazu sagt und weicht dabei meinem Blick aus.
Ich schlucke tief. Es tut weh. Vielleicht tut es sogar noch mehr weh, als wenn er einfach nein gesagt hätte, weil es ihm mit unserer Vergangenheit zu viel ist.
„Du denkst, ich könnte das nicht", sage ich und höre selbst, wie verletzt meine Stimme klingt.
Tränen schimmern wieder in meinen Augen und ich versuche, sie wegzublinzeln. Keine Ahnung, warum es mich so trifft, vielleicht hat er sogar recht und ich wäre schrecklich darin.
„Was?", fragt er irritiert. „Nein, das denke ich natürlich nicht."
„Nicht?", frage ich verblüfft.
„Nein, alles, was ich meinte, war, dass du das wollen musst."
„Oh", kommt es erneut ziemlich einfallslos aus mir heraus.
Ethan steht noch immer dicht vor mir, so dicht, dass ich mich nur schwer konzentrieren kann, weil seine Nähe mich einfach immer durcheinanderbringt.
Er sagt nichts mehr, seine Gesichtszüge sind allerdings noch immer angespannt.
Mit belegter Stimme sage ich: „Ich weiß nicht, ob ich gut darin wäre, aber ich würde mein Bestes geben."
Seine Augen treffen meine. „Nichts anderes tue ich."
Ja, aber ich bin mir sicher, dass er auch wirklich ein toller Vater ist.
„Ich weiß, dass Noah bei dir an erster Stelle kommt, Ethan. Es sollte auch nicht anders sein. Das ändert nichts daran, dass ich das mit dir mehr als alles andere will. Und ich bin sicher, dass ich auch Noah lieben werde."
Dieses Mal weicht er meinen Blicken nicht mehr aus. Stattdessen fahren seine Augen über mein Gesicht, als würde er darin etwas suchen.
„Kannst du mir versprechen, dass du dieses Mal mit mir sprichst?", fragt er mich. „Wenn dich etwas stört oder beschäftigt? Wenn du wegen etwas unsicher bist oder Zweifel hast. Egal, was. Ich will, dass du es mir sagst. Ich kann nicht ein zweites Mal so etwas durchmachen, wie vor elf Jahren."
„Ich verspreche es dir", erwidere ich flüsternd und auch etwas überrumpelt. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass er einen Schritt näher zu mir macht, statt den Abstand zwischen uns zu vergrößern.
Ethan hebt seine Hand und legt sie in meinen Nacken. Sanft fährt er mir über die Haut und streicht mit seinem Daumen meine Wange, auf der noch die Tränen hängen. Seine Berührungen sind zart und doch brennt sich jede einzelne in meine Haut, hallt nach, während alles in mir nach mehr schreit. Mehr Nähe, mehr von ihm.
Seine Augen wandern weiter über mein Gesicht, als würde er jede Regung aufnehmen wollen. Auch ich sehe ihn an und als unsere Blicke aufeinandertreffen, hält er inne. Sein Kehlkopf hebt und senkt sich schwer und mein Herz pocht so heftig gegen meinen Brustkorb, dass ich mich frage, ob er es hören kann.
Ein ungläubiger Ausdruck wandert über sein Gesicht und er schüttelt seinen Kopf leicht, als könne er das, was er sieht selbst nicht glauben. „Was machst du nur mit mir?" Seine Stimme klingt rau, was ihn aber gleichzeitig noch so viel unwiderstehlicher macht.
Wenn ich ihn ansehe, sind da so viele Gefühle, dass es droht mich zu überwältigen. Sehnsucht und das übermächtige Verlangen nach ihm, dass wenn ich ihn nicht haben kann, ich auseinanderbreche.
Ein zaghaftes Lächeln legt sich auf seine Lippen. „Ich habe das Gefühl, ich sollte dich erst auf ein Date ausführen, bevor ich dich küsse."
„Was? Nein!", platzt es aus mir heraus, was prompt Hitze in meine Wangen steigen lässt. „Ich meine ... Was ich sagen will ..."
Ethans unterdrücktes Lachen lässt mich innehalten. „Ich werte das dann mal so, dass du nichts von dieser Idee hältst."
Auch auf mein Gesicht legt sich ein verlegenes Lächeln. „Ich meine, es ist süß."
Amüsiert zieht er seine Augenbrauen hoch. „Süß?"
Ich zucke mit den Schultern. „Ja, aber du könntest auch einfach die Reihenfolge ändern."
„Dich also erst küssen und dann auf ein Date ausführen?"
Meine Augen werden groß und mir fällt jetzt erst auf, dass ich mittlerweile regelrecht an ihm klebe. Unsere Oberkörper liegen aufeinander und ich muss meinen Kopf weit in den Nacken fallen lassen, um ihm noch ins Gesicht sehen zu können. Mein Blick fällt auf seine Lippen, die einen kleinen Spalt geöffnet stehen. Lippen, die ich auf meinen spüren will und danach auf meinem ganzen Körper.
Ethans Griff um mich herum verstärkt sich, bevor er seine Hand in meine Haare gleiten lässt. Mich noch etwas zu sich zieht und sich dann selbst hinunterbeugt.
Und dann endlich streift er mit seinem Mund über meinen.
Es ist ganz sanft. Nur der Hauch einer Berührung. Aber das, was es in mir auslöst, hat nichts mit leicht oder sanft zu tun. Es ist ein Wirbelsturm, der durch meinen Körper fegt, durch meine Venen und alles zum Pochen bringt. Ich weiß nicht, wann ich mich das letzte Mal so lebendig gefühlt habe.
Ich schwanke zwischen, dass ich nach mehr schreie und gleichzeitig damit kämpfe überhaupt mit diesen Empfindungen zurechtzukommen, die Ethan in mir auslöst. Es ist der Moment, an den ich mich nicht einmal mehr gewagt habe, zu träumen.
Es ist einer dieser Momente, die dich überrollen. Sie machen dich zu einem Durcheinander und halten dich trotzdem zusammen, weil es einfach alles ist. Er alles ist. Es ist die schönste Art Durcheinander, die es geben kann.
Meine Hand lasse ich über seine Brust zu seinen Schultern gleiten. Dabei spüre ich auch seinen harten Herzschlag. Dass ich diejenige bin, die dazu in der Lage ist, das in ihm auszulösen, lässt mein eigenes Herz noch ein paar Takte schneller schlagen.
Er verstärkt den Druck auf meinen Lippen, presst seinen Mund härter auf meinen. Ich öffne ihn einen kleinen Spalt und er stößt mit seiner Zunge hindurch und trifft auf meine. In mir explodiert das nächste Feuerwerk, während tausende Schmetterlinge in meinem Magen wild tanzen.
Meine Hände lasse ich weiter über seine Schultern gleiten, bis ich sie in seinen Haaren am Hinterkopf vergrabe. Ich lege alles in diesen Kuss. All meine Gefühle, das Verlangen, die Sehnsucht und ich hoffe, dass er nur annähernd spüren kann, was es mir bedeutet.
Doch es ist nicht nur das Gefühl seiner unglaublich weichen Lippen, seines betörenden Dufts oder seiner muskulösen Arme, die sich wieder um mich geschlossen haben. An erster Stelle ist es das Gefühl, dass es sich so richtig anfühlt, was mich glücklicher macht, als alles andere. Es ist wie ankommen, wie der Moment, wenn man so lange nach dem richtigen Weg gesucht hat und ihn endlich gefunden hat.
Ich lasse mich nach hinten auf mein Bett fallen und ziehe Ethan mit mir. Er ist halb über mir und leckt langsam mit seiner Zunge über meine Lippen. Ich öffne sie wieder für ihn und als seine Zunge sich ihren Weg zurück in meinen Mund sucht, seufze ich leise auf. Meine Hände nehme ich aus seinen Haaren und lasse sie langsam über seinen Oberkörper gleiten. Das T-Shirt spannt über seine angespannten Armmuskeln und die Hitze seiner Haut drückt sich durch den Stoff.
Er presst mich weiter mit seinem Körper in die Matratze und ich würde ihn am liebsten unter meine Bettdecke ziehen, wo ich die ganze Nacht mit ihm verbringe – bevorzugt ohne Kleidung – doch ich weiß, dass es nicht geht. Er kann nicht einfach spontan bei mir bleiben, nicht wenn sein Sohn zuhause auf ihn wartet.
Anstelle daran zu denken, was wir nicht machen können, denke ich lieber daran, wie viel mehr ich heute Abend bekommen haben, als ich je für möglich gehalten hätte. Er ist in meinem Bett und küsst mich, während seine Hände so zärtlich über meinen Nacken, meine Schultern und Arme fahren. Es ist perfekt und er verdirbt mich einmal mehr dafür, dass es je einen Mann geben wird, der ihm das Wasser reichen kann.
Irgendwann löst er sich vorsichtig von mir und legt seine Stirn an meine. „Grace", flüstert er etwas außer Atem. „Ich ... ich kann nicht bleiben."
„Ich weiß", erwidere ich kaum hörbar.
Ethan verharrt noch für einige Sekunden so bei mir, dann stößt er sich zurück und setzt sich auf den Rand des Bettes. Mit seiner Hand streift er sich durch die Haare und er sieht von diesem Kuss genauso durcheinander und aufgeheizt aus, wie ich mich fühle – und ganz sicher auch aussehe.
„Es ist nicht so, dass ich gehen will", sagt er zu mir.
„Es ist okay. Ich weiß das."
Ein kleines Lächeln erscheint auf seinem Gesicht. „Aber ich muss noch nicht sofort gehen."
Mit diesen Worten ist er wieder halb über mir. Drückt mich mit seinem Oberkörper in die Matratze und küsst mich erneut so voller Hingabe, dass ich unter ihm zerschmelze.
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A/N
Einen schönen ersten Advent euch allen! ❤️
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