24 | Ein Geheimnis wird gelüftet
GRACE
Über Ethans Gesicht hat sich ein besorgter Ausdruck gelegt. „Ist etwas passiert, Grace?"
Ich schüttle den Kopf. „Nein. Nein, nichts passiert. Ich wollte dich nur ... nur fragen, ob du kurz Zeit hast?"
Er legt seine Stirn in Falten. „Ja, sicher. Lass mich kurz ..."
Aus seinem Jackett holt er sein Handy und tippt darauf herum, bevor er zur Tür geht.
Ethan öffnet sie und sieht hinaus. „Ella, könntest du meinen nächsten Termin verschieben?"
Sie erwidert irgendetwas, was ich nicht verstehen kann, woraufhin Ethan sagt: „Nein, nicht auf heute. Danke."
Als er die Tür wieder geschlossen hat und wieder vor mir steht, sage ich mit piepsiger Stimme: „Das hättest du nicht tun müssen. Ich hätte wann anders wiederkommen können."
„Es war nichts, was nicht warten kann", erwidert er beschwichtigend.
„Vermutlich hätte ich dich vorher anrufen sollen ... Aber ich wollte dich fragen, ob wir reden können über ... Du hattest recht und ich will es dir sagen."
„Wirklich?", fragt er verblüfft.
„Ja, ich vertraue dir."
Es hatte nie etwas damit zu tun, dass ich ihm nicht vertraue, dass ich es ihm nicht gesagt habe. Aber es war mir wichtig, ihm das zu sagen, weil er es so formuliert hatte, dass ich entscheiden muss, ob ich ihm genug vertraue, es ihm zu sagen.
Ein zartes Lächeln legt sich um seine Lippen. „Okay, dann lass uns hinsetzen."
Ich folge ihm zu der Sitzecke, die aus gepolsterten Sesseln und einem kleinen Sofa besteht. Von dort hat man außerdem einen wunderschönen Blick auf die Berge und die sich davor erstreckenden Wälder.
Tief atme ich durch, bevor ich es schaffe, ihn anzusehen. Als ich hierher gekommen bin, war die Erklärung noch so einfach. Zumindest in meinem Kopf. Ethan hat mich benutzt und ich war so dumm, darauf hereinzufallen. Dass an dieser Erklärung über die Jahre immer wieder Zweifel hochgekommen sind, habe ich bestmöglich verdrängt.
„Was ist, wenn du danach denkst, dass du es lieber nicht gewusst hättest?", frage ich ihn.
„Das wird nicht passieren. Allerdings machst du mir mittlerweile echt Angst."
„Oh ... nein, so ist das nicht", beeile ich mich, zu sagen, weil er gerade tatsächlich etwas blass geworden ist. Ich räuspere mich. „An dem Abend ... als wir uns zum letzten Mal gesehen habe, musstest du deinem Vater bei etwas helfen, daher hast du mich nicht nach Hause bringen können."
„Ich erinnere mich."
„Die Tür hinten war zu und ich bin vorne rausgegangen und habe die Straße genommen. Dort ... uh, bin ich jemandem begegnet."
„Du bist jemandem begegnet?", fragt er entsetzt. „Was willst du mir hier sagen, Grace? Hat dir jemand etwas angetan?"
„Was? Oh mein Gott! Nein! Nein, wirklich nicht, Ethan."
Gott, ich vermassel das hier so unglaublich.
Erleichtert atmet er aus und lässt sich wieder in den Sessel zurücksinken.
„Also auf jeden Fall", spreche ich weiter, „hat die Person mir etwas erzählt und–"
„Grace", unterbricht Ethan mich. „Tun wir das wirklich noch immer?"
„Tun?", frage ich verwirrt.
„Dass du mir doch wieder nur die Hälfte der Geschichte erzählst. Welche Person?"
„Ich würde es dir lieber nicht sagen", flüstere ich.
„Warum?"
„Weil es dir wehtun wird."
„Es wäre mir lieber, es zu wissen, als weiterhin herumspekulieren zu müssen."
„Bist du sicher?"
„Sehr, ja."
„Okay", erwidere ich und stoße einen großen Schwall Luft aus, der sich in meiner Lunge angestaut hatte.
Die ganze Nacht habe ich darüber gegrübelt, was ich tun soll. Aber eigentlich bin ich immer wieder zu dem Entschluss gekommen, dass ich es ihm sagen muss. Er hatte recht, als er gesagt hat, dass es nicht normal zwischen uns sein kann, wenn wir es nicht einmal schaffen, uns über unsere Vergangenheit zu unterhalten. Und diese Unterhaltung kann es nur geben, wenn auch er die ganze Geschichte kennt. Er hat mir diese Chance gegeben, er hat mir sogar Zeit gegeben, dabei hätte ich ihm nicht einmal einen Vorwurf machen können, wenn er gesagt hätte, dass er mich nicht mehr in seinem Leben gebrauchen kann. Für ihn sieht es schließlich so aus, als wäre ich einfach abgehauen. Gut, das bin ich auch, aber er weiß noch immer nicht warum. Selbst, wenn mich der Grund vielleicht sogar noch schlechter dastehen lässt, hat er es verdient, es zu wissen.
Es wird Zeit, dass ich endlich aufhöre, so ein Feigling zu sein und mich hinter vorgeschobenen Argumenten verstecke. Sonst muss man nämlich wirklich sagen, dass ich mich kein Stück gebessert habe. Ich würde noch immer das Gleiche tun, wie ich es vor elf Jahren getan habe. Lieber rennen, statt mich der Realität zu stellen.
„Ich habe Annalynn getroffen", bringe ich endlich hervor.
„Annalynn?", erwidert er und man kann ihm die Überraschung ansehen.
„Ich weiß, ihr seid noch immer befreundet."
„Uh, ja ... hat sie etwas gesagt? Ich weiß, dass sie damals eine schwierige Zeit hatte. Es kam häufiger vor, dass sie über die Stränge geschlagen hat."
Ich schließe die Augen, das so von ihm zu hören. Großartig! Und ich bin auf sie reingefallen.
„Ich hätte ihr nicht glauben dürfen", wispere ich.
Seine Augen weiten sich. „Was glauben, Grace? Was hat sie zu dir gesagt?"
„Dass du dich gelangweilt hättest und es dir zum Spaß gemacht hast, zu sehen, wie weit du mich bekommen könntest. Dass alles nur ein Spiel für dich ist."
„Das ist ein Scherz, oder?", fragt er wütend, aber ihm ist anzusehen, dass er weiß, dass das kein Scherz ist. Ich kann ihm nicht verübeln, dass er das hofft, viel zu häufig habe ich das Gleiche getan.
„Es tut mir so leid, Ethan. Ich hätte ihr nicht glauben dürfen. Ich hätte wissen müssen, dass du das nicht tun würdest. Aber ich ... es war in diesem Moment die Bestätigung von dem, was ich immer befürchtet hatte. Ich konnte einfach nicht verstehen, wie du Interesse an mir haben kannst und dann kam sie und hat mir genau das bestätigt. Es klang in diesem Moment für mich so, als wüsste sie, was wir an diesem Abend getan haben und als hättest du das alles geplant gehabt. Als hättet ihr alle hinter meinem Rücken über mich gelacht, wie dumm ich doch bin, wirklich zu denken, dass das echt ist."
„Es war echt", fährt er dazwischen.
„Ich weiß, Ethan. Ich weiß das. Es tut mir so leid, dass ich das nicht damals erkannt habe."
Erschöpft reibt er sich mit der Hand über das Gesicht. „Du hättest mich darauf ansprechen können. Warum bist du einfach abgehauen?"
„Ich ..." Kurz muss ich mich sammeln, bevor ich in der Lage bin, den Satz zu formulieren. „Ich habe die Vorstellung nicht ertragen, dass du vor mir stehst und mir all das ins Gesicht sagst. Mein Vater hatte wenig Zeit, er wollte schon häufiger, dass ich zu meinen Großeltern gehe, aber ich wollte es nie. Und dann klang es plötzlich nach dem perfekten Ausweg."
Er schüttelt ungläubig den Kopf. „Ich dachte all die Jahre, dass du dich gedrängt gefühlt hast, mit mir zu schlafen und deshalb mich nicht mehr ansehen konntest."
„Nein! Auf keinen Fall! Du darfst so etwas nicht denken. Ich war wirklich glücklich. Ich war unglaublich glücklich, als ich von dir an diesem Abend fortgegangen bin."
„Und dann bist du Annalynn begegnet."
Ich nicke.
Sein Kiefer ist angespannt und seine Augen wirken hart. „Ich kann nicht glauben, dass sie das getan hat. Ich wusste, dass sie ein Problem mit unserer Beziehung hatte, aber ich hätte nicht gedacht, dass sie so weit gehen würde."
„Du wusstest es?", frage ich irritiert.
„Es ging nicht um dich, Grace. Falls du das denkst. Es ging eher darum, dass sie sich vernachlässigt gefühlt hat. Wir haben uns einige Male deshalb gestritten."
„Du hast nie etwas gesagt."
„Ich weiß. Du warst immer so unsicher. Ich wollte es nicht schlimmer machen, weil ich wusste, dass du es auf dich beziehen würdest, egal wie häufig ich dir gesagt hätte, dass es nicht an dir liegt."
Vermutlich hat er recht. Ich hätte gedacht, dass Annalynn mich nicht für würdig hält, mit Ethan zusammenzusein.
Ethan streift sich mit seinen Finger durch die Haare. Er sieht noch immer durcheinander aus.
„Wir waren wohl beide nicht die Besten darin, offen zu sprechen", sagt er schließlich.
„Ich wünschte, ich könnte es rückgängig machen", flüstere ich. „Ich wünschte, ich hätte ihr nicht geglaubt."
Nachdenklich sieht er mich an. „Woher wusstest du es? Woher wusstest du, dass sie gelogen hat?"
Ich schlucke tief. „Sie hat es mir gesagt."
„Wann?"
„Vor einigen Wochen. Sie hat mich vor dem Grand Haven abgefangen."
Irritiert zieht er seine Brauen zusammen. „Vor einigen Wochen?"
„Sie hat mich gebeten, es dir nicht zu sagen."
Der Zug um seinen Mund wird wieder hart. „Warum? Und du hast wieder das gemacht, was sie wollte?"
Das klingt furchtbar, wenn er es so sagt. Und es ist furchtbar. Er muss denken, dass ich mich kein Bisschen geändert habe.
„Sie meinte, wir hätten eine Gemeinsamkeit, dass wir das Beste für dich wollen und das Beste für dich wäre, wenn die Vergangenheit in der Vergangenheit bleibt. Ich dachte, sie hat recht. Ich wollte es nicht unnötig aufwühlen. Zu dem Zeitpunkt dachte ich auch noch nicht, dass es eine Rolle spielt. Ich dachte nicht, dass wir ... dass wir überhaupt wieder Kontakt haben werden."
„Du dachtest, dass es keine Rolle spielt, dass eine meiner engsten Freundinnen, mir seit Jahren ins Gesicht lügt? Es mag lange her sein, Grace, aber sie hatte damit auch lange genug Zeit, mir die Wahrheit zu sagen."
Ich schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter und kämpfe dagegen, schon wieder zu heulen. Ich habe mir vorgenommen, dieses Gespräch zu überstehen, ohne wie ein heulendes Wrack vor ihm zu stehen.
„Es war nicht nur das", presse ich hervor. „Ich habe mich so verachtet dafür, dass ich ihr geglaubt und dich so schnell verurteilt habe."
Für einige Sekunden sagt er nichts mehr, sondern starrt nur aus dem Fenster auf die Berge. Ich wüsste so gerne, was er jetzt denkt. Wie muss das alles bei ihm ankommen? Was muss er fühlen?
Schließlich seufzt er auf. „Können wir wann anders weiterreden? Ich denke, ich brauche einen Moment."
„Oh ..." Ich schieße von meinem Platz hoch. „Natürlich."
Auch er steht auf und steht jetzt wieder in seiner vollen Größe vor mir. Ich muss meinen Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht sehen zu können und ich kann den Geruch seines Aftershaves riechen. Ihn so nah vor mir zu haben, löst in mir das Bedürfnis aus, mich in seine Arme zu werfen. Doch stattdessen treten wir voneinander weg, als müssten wir beide Abstand zwischen uns bringen.
„Kann ich dir noch etwas geben?", frage ich ihn mit erstickter Stimme.
Er nickt und ich ziehe einen Briefumschlag aus meiner kleinen Handtasche, die ich umhängen habe.
Verwundert sieht er darauf, als ich ihn den hinhalte, nimmt ihn dann aber zögerlich entgegen.
Er will ihn gerade aufreißen, da platze ich panisch hervor: „Warte!"
Ethan hält sofort in der Bewegung inne. „Ich soll ihn nicht öffnen?", fragt er verwirrt.
„Doch. Doch, das sollst du. Nur ... äh könntest du es vielleicht tun, wenn ich nicht anwesend bin?"
„Sollte ich mir Sorgen machen?", fragt er mich mit hochgezogenen Augenbrauen.
Ich lache nervös auf. „Wie man es nimmt. Könnte sein, dass du es nicht magst. Kann ich ... kann ich gehen?"
„Uh ... ja. Sicher", erwidert er und man kann ihm ansehen, dass er aus mir nicht schlau wird.
Hastig drehe ich mich um und fliehe aus seinem Büro. Ella werfe ich noch ein erzwungenes Lächeln zu, was mir allerdings nicht so ganz gelingt. Sie sieht mich trotzdem voller Erstaunen an. Schnell laufe ich weiter aus den Räumlichkeiten des Vorstands und bete innerlich wenigstens nicht noch Levi oder jemand anderem aus Ethans Familie zu begegnen.
Es gibt kein Zurück mehr. Aber ich bekomme es auch nicht über mich, es zu bereuen. Endlich habe ich ihm all die Dinge gesagt, die ich ihm schon viel zu lange hätte sagen sollen.
_____
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro