23 | Wahrheit oder ... ?
GRACE
Was ist passiert? Ich habe der falschen Person geglaubt. Das ist passiert. Aber ich habe keine Ahnung, wie ich ihm das erklären kann. Wie soll ich ihm sagen, dass ich ihn so schnell verurteilt habe?
„Ich ... ich ...", stottere ich hervor, doch kein weiteres Wort kommt aus einem Mund.
Ethan seufzt resigniert auf. „Wenn wir nicht einmal das klären können, Grace, wie sollen wir dann so tun, als wäre alles normal zwischen uns?"
„Was ist, wenn du mich dafür noch mehr hassen wirst, als du es sowieso schon tust?", wispere ich.
Seine Augen weiten sich und er zieht irritiert seine Augenbrauen zusammen. „Ich hasse dich nicht, Grace. Ich habe dich nie gehasst."
Ein lautes Schniefen kommt aus mir heraus und mein Versuch gegen die Tränen anzukämpfen scheitert kläglich.
Ethans Blick ist auf mich geheftet und er schweift über mein Gesicht, als würde er dort nach irgendetwas suchen. Doch dann schüttelt er kaum merklich mit dem Kopf und lässt ihn hängen.
Ich werde ihn wieder verlieren. So oder so. Ich weiß es einfach. Nicht, dass ich ihn in irgendeiner Weise gehabt hätte. Zumindest nicht mehr, seit ich ihn vor elf Jahren verlassen habe.
Als er wieder aufsieht und unsere Blicke sich treffen, kann ich ihm ansehen, dass er aufgegeben hat. Er wird mich nicht weiter fragen. Doch ich bin nicht froh oder erleichtert darüber. Im Gegenteil, es fühlt sich an, als würde er die Tür, die er für einen kurzen Moment für mich geöffnet hat, für immer schließen.
Doch dann überrascht er mich, als er einen kleinen Schritt auf mich zu macht und mit sanfter Stimme sagt: „Wenn du bereit bist, es mir zu sagen, werde ich zuhören. Aber, wenn du das ernst gemeint hast, dass du mich zurück in deinem Leben haben willst, dann kann ich das nur sein, wenn wir über unsere Vergangenheit reden können. Ich werde dich nicht drängen und es muss nicht sofort sein, aber du musst dir überlegen, ob du mir genug vertrauen kannst, dass du mit mir sprichst."
Mit wild klopfendem Herzen sehe ich ihn an, als er nach meiner Hand greift und sie mit seinen Händen umschließt.
„Ich werde jetzt gehen, Grace. Aber vielleicht können wir in den nächsten Tagen Essen gehen. Ich rufe dich an, okay?"
Mein Mund klappt auf. „W-was? Wie meinst du das? Aber ... aber du hast gesagt ..."
„Ich habe gesagt, dass ich dich nicht drängen werde. Werde dir nur darüber klar, ob du denkst, dass du es mir irgendwann sagen kannst."
Sprachlos starre ich ihn an und wie in Zeitlupe nicke ich.
Ein kleines Lächeln legt sich um Ethans Mundwinkel, bevor er sich nach unten beugt und mir einen zärtlichen Kuss auf die Stirn gibt. Dann tritt er von mir zurück und sagt: „Gute Nacht, Grace."
„Gute Nacht, Ethan", wispere ich und sehe ihm noch hinterher, selbst als er schon lange durch die Tür verschwunden ist und nicht mehr da ist.
***
Die ganze Nacht war ich damit beschäftigt, das Gespräch mit Ethan immer und immer wieder in meinem Kopf abzuspielen. Dabei ist meine Stimmung zwischen dem Hochgefühl, dass er mir eine Chance geben will und dem Tief, dass ich ihn schon bald wieder verlieren könnte, geschwankt.
„Grace, würdest du das übernehmen?", reißt mich Owen aus meinen Gedanken über Ethan, indem er mir einen Ordnerstapel auf den Tisch knallt.
„Was ist das?", frage ich ihn verblüfft.
„Altlasten. Muss eingescannt und im System abgelegt werden. Danach kannst du es vernichten."
„Äh ...", starte ich noch immer überrumpelt von dem Berg an Ordnern, die sich vor mir türmen, doch Owen wartet meine Antwort gar nicht erst ab, sondern ist schon auf dem Weg zurück zu seinem Schreibtisch.
Owen ist einer der Projektleiter, aber weder arbeite ich in seinem aktuellen Projekt mit, noch sollte es überhaupt meine Aufgabe sein, seine Drecksarbeit zu machen. Das Problem daran, die Neue zu sein, ist bloß, dass ich keine Ahnung habe, wie ich ihm das mitteilen soll, ohne den Eindruck zu machen, dass ich faul bin.
Ein lauter Knall ertönt und voller Entsetzen muss ich beobachten, wie der ganze Turm vor mir zusammenbricht. Mehrere Ordner krachen auf dem Boden, mein Wasserglas liegt umgeschüttet auf dem Tisch und die Flüssigkeit ergießt sich über meine Tastatur und den Schreibtisch, bis sie ihren Weg nach unten findet.
„Oh Gott", hauche ich fassungslos hervor.
„Grace!", höre ich die erschrockene Stimme von Rhett, der hektisch die verbleibenden Ordner auf meinem Schreibtisch wegreißt, um sie vor dem Wasser zu beschützen.
Doch schon jetzt sehe ich, dass für den unteren Ordner jede Rettung zu spät kommt. Das Wasser tropft daran hinunter und ich kann bloß noch hoffen, dass es nicht zu viele der Unterlagen, die sich darin befinden, zerstört hat. Eine andere Kollegin kommt angelaufen und hält vermutlich den kompletten Vorrat Tücher aus der Kaffeeküche in der Hand.
Das ist ein Desaster. Ein absolutes Desaster.
Endlich löse ich mich aus meiner Starre und springe auf. Schnell greife ich nach den Tüchern, die sie mir hinhält und werfe sie auf das Wasser auf meinem Schreibtisch. Mein Gesicht brennt vor Scham und ich wage es nicht, mich umzusehen. Bei dem Krach hat es ganz sicher auch der Letzte im Raum mitbekommen.
„Ich hoffe für dich, dass das nichts Wichtiges war", ertönt die kühle Stimme von Owen.
Wütend funkle ich ihn an. Er war derjenige, der mir die Ordner so auf den Tisch geknallt hat und jetzt tut er so.
„Das sollte besser kein Sinnbild für die Art sein, wie du deine Arbeit verrichtest", schiebt er hinterher.
Ich war mir noch nie sicher, ob ich Owen sonderlich leiden kann, aber das ist definitiv der Punkt, an dem ich ganz sicher bin, dass ich es nicht tue.
„Du hast mir die Ordner auf den Schreibtisch gelegt", presse ich verärgert hervor.
„Habe ich sie umgestoßen oder ein volles Glas Wasser auf deinen Schreibtisch gestellt? Nein."
„Alle haben Wasser an ihrem Schreibtisch. Auch du, Owen", antworte ich auf diese dämliche Anschuldigung.
„Alle, die damit umgehen können. Oder siehst du noch jemanden, der hier so ein Chaos angerichtet hat? Das ist Beschädigung von Firmeneigentum, Grace."
Oh mein Gott, ich hasse ihn!
„Alle anderen bekommen aber auch nicht einen Berg von Ordnern ungefragt auf den Schreibtisch geknallt."
„Es war eine ganz einfache Aufgabe. Wenn du nicht einmal die hinbekommst, solltest du dir wohl die Frage stellen, ob du hier richtig bist."
„Was ist eigentlich dein verdammtes Problem?", fahre ich ihn an.
Owen macht den Mund auf, um zu antworten. Sein Kopf ist mittlerweile hochrot angelaufen und die Ader an seinem Hals pocht gefährlich. Doch anstelle von seiner Stimme erklingt eine andere, von der ich mir gerade nicht sicher bin, ob es das besser macht.
„Was ist hier los?", fragt Ethan und taucht neben mir auf.
Ich hatte nicht einmal mitbekommen, dass er die Büros vom Grand Haven betreten hat. Aber natürlich muss auch er Zeuge dieser unglaublich peinlichen Nummer werden.
„Ich erkläre Grace gerade nur, dass sie vorsichtiger mit Firmeneigentum umgehen sollte", antwortet Owen auf seine Art, wenn er sich wichtig machen will.
Ethans Blick gleitet über das Chaos, was sich auf, unter und eigentlich überall um meinen Schreibtisch herum auftut.
„Ich habe nicht–", setze ich an, werde aber von Owen unterbrochen.
„Leider sieht es wohl so aus, als hätte Grace einige wichtige Unterlagen beschädigt", dabei reißt er Rhett den nassen Ordner aus der Hand und hält ihn Ethan hin.
Rhett bedenkt Owen mit einem vernichtenden Blick, den ich so von ihm gar nicht kenne, bevor er an Ethan gewandt sagt: „Es war nur etwas Wasser. Man kann es bestimmt retten."
Ethan nimmt zwar den Ordner entgegen, den er von Owen gereicht bekommt, macht aber keine Anstalten, ihn sich anzusehen.
Stattdessen liest er laut vor, was vorne auf dem Ordner steht. „Serviceverträge für handwerkliche Dienstleistungen. Mir war gar nicht bewusst, dass Marketing sich mittlerweile um unsere Handwerker kümmert."
Owens arroganter Gesichtsausdruck verrutscht kurz, bevor er fast schon trotzig sagt: „Grace hatte angeboten, sie einzuscannen."
„Äh, was?", platze ich hervor, ohne es aufhalten zu können. Außerdem sehe ich auch keinen Grund, Owen zu schützen. Er wollte mich gerade eindeutig auflaufen lassen, ohne dass ich überhaupt etwas getan habe.
Ethans Blick flackert kurz zu mir, bevor er ihn wieder auf Owen richtet. Mit harter Stimme sagt er: „Wenn du das nächste Mal Aufgaben an einen anderen Bereich abgibst, will ich, dass du es mit mir absprichst. Und jetzt würde ich empfehlen, dass du deine Ordner einsammelst und dich selbst darum kümmerst. Grace hat anderes zu tun."
Owen klappt der Mund auf und ballt seine Hände zu Fäusten. Ihm ist eindeutig anzusehen, dass er mit dieser Reaktion von Ethan nicht gerechnet hat und wenn ich ehrlich bin, ich auch nicht.
„Sie hat ihre Tastatur zerstört", ruft er aus und ich kann mich gerade so zurückhalten, mit den Augen zu rollen.
Auch Ethan scheint es nicht besser zu gehen. Ich höre, wie er leise genervt seufzt.
Dann dreht er sich zu mir um: „Wenn deine Tastatur kaputt ist, bin ich mir sicher, dass die IT Abteilung noch genug auf Vorrat hat, um sie auszutauschen. Es ist sicherlich nicht das erste Mal, dass so etwas passiert."
„Uh, danke", erwidere ich durcheinander.
„Da wir das jetzt geklärt hätten, können wir uns alle wieder unserer Arbeit widmen."
Wir nicken alle nur und Ethan verschwindet in die Richtung einer der Meetingräume, in dem bereits Mary und einige andere auf ihn warten.
***
Nachdem ich das Chaos an meinem Schreibtisch behoben hatte, Owen endlich losgeworden bin und mir eine neue Tastatur bei der IT besorgt habe, stehe ich nervös im obersten Stockwerk des Gebäudes. Hinter mir schließt sich die Aufzugstür, in den ich am liebsten wieder hineinspringen würde.
Ich bin noch nie hier gewesen und als Erstes fällt mein Blick auf die phänomenale Aussicht. Neben den Fahrstühlen befindet sich ein kleiner Wartebereich mit bequem aussehenden Polstermöbel. Wenn man den Gang entlangläuft, kommt man in die Vorzimmer, in denen die persönlichen Assistenzen der einzelnen Vorstände sitzen.
Mit wild klopfendem Herzen bewege ich mich durch den ruhigen Gang und bin froh, als ich etwas entfernt Ellas Stimme höre. Ich richte mich danach und stehe schon bald vor dem Raum, an dem ein kleines Messingschild mit dem Namen „Ethan Tyrell" angebracht ist. Die Tür steht offen und ich sehe Ella, wie sie mit ihrem Headset telefoniert. In dem Raum ist eine weitere Tür, die allerdings verschlossen ist. Dort muss sich Ethans Büro befinden.
Ella sieht auf und ein überraschter Ausdruck erscheint auf ihrem Gesicht, als sie mich sieht. Sie gibt mir ein Zeichen, dass ich warten soll, während sie dem Anrufer antwortet. Ich nicke und versuche dabei, den fetten Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken.
Bei meinem ganzen Gedankenchaos habe ich komplett vergessen, zu überlegen, wie ich überhaupt zu ihm kommen soll. Ich hätte mir denken sollen, dass man bei ihm nicht einfach reinspazieren kann. Vielleicht wäre ein Anruf doch die bessere Idee gewesen.
„Hi Grace", reißt mich Ella aus meinen Gedanken. „Was kann ich für dich tun?"
„Hat Ethan zufällig kurz Zeit?"; frage ich sie zögerlich, wohlwissen, dass es für sie seltsam aussehen muss, dass ich einfach auftauche. Ich hätte ihr eine Mail mit einer Terminanfrage schicken müssen.
Doch statt Missbilligung erscheint eher Sorge auf ihrem Gesicht. „Ist denn alles in Ordnung?"
Ich frage mich, was ich für einen Anblick abgeben muss, dass ich direkt diese Reaktion in ihr auslöse. Vermutlich sehe ich aus wie ein einziges Nervenbündel.
„Ja ... ja, alles gut. Ich würde nur gerne kurz eine Sache mit ihm besprechen."
„Und bist du dir sicher, dass es direkt mit Ethan sein muss?", fragt sie vorsichtig.
„Uh ... äh ... ja, er weiß Bescheid."
Etwas irritiert zieht sie ihre Augenbrauen zusammen und klickt auf ihrem Computer herum. „Sein aktuelles Meeting endet in fünf Minuten. Danach hat er einen kurzen Slot."
„Danke", erwidere ich erleichtert.
Allerdings bedeutet das auch, dass ich noch fünf Minuten bei Ella warten muss, die eindeutig Fragen hat.
„Grace ...", startet sie erneut und wirkt dabei so, als würde sie jedes Wort einzeln überdenken. „Wenn etwas vorgefallen ist ... Wir haben Stellen für so etwas bei Tyrell. Du kannst dort auch anonym hingehen und–"
„Oh", unterbreche ich sie mit einem unsicheren Lachen. „Nein, so ist das nicht. Ich muss wirklich nur kurz mit ihm sprechen."
„Mit mir?", höre ich Ethans Stimme hinter mir und wirble herum, wo er auf dem Gang steht.
„Tut mir leid, Ethan. Sie stand vor ein paar Minuten hier", höre ich Ella sagen.
Schnell richte ich mich selbst an Ethan: „Es dauert nicht lange. Nur zwei Minuten."
Er nickt. „Lass uns in mein Büro gehen."
Ethan geht vor und ich folge ihm in den Raum. Das Büro ist nicht zu vergleichen mit dem kleinen Raum, den er im Grand Haven übergangsweise hatte. Er ist mindestens viermal so groß, mit edlen, dunklen Büromöbeln und einer komplett verglasten Wand, die eine unglaubliche Aussicht bietet.
Er schließt die Tür hinter sich und selbst, wenn ich noch immer nervös bin, weiß ich jetzt ganz sicher, dass ich mich richtig entschieden habe.
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A/N
Ich bin aus dem Urlaub zurück und es geht endlich weiter. Ich freue mich, dass ihr trotz der Pause noch immer die Geschichte weiterlest ❤️
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