22 | Eine Frage
GRACE
Während ich auf Ethan in seinem Auto warte, schreibe ich Selena, dass ich nach Hause gegangen bin. Ich fühle mich schlecht, sie einfach so stehengelassen zu haben. Nur wenige Sekunden später trudelt eine Antwort von ihr ein.
Selena
Ist alles in Ordnung?
Grace
Ich hatte mal wieder ein unerfreuliches Telefonat mit meinem Vater. Ich erzähle es dir später oder morgen.
Selena
Oh je ... Soll ich nach Hause kommen?
Grace
Nein, bitte nicht. Hab lieber noch etwas Spaß mit den anderen.
Selena
Ich könnte eine Sektflasche entwenden und wir feiern zu zweit zuhause weiter.
Ich will ihr gerade antworten, da kommt eine weitere Nachricht von ihr.
Selena
Ist Ethan bei dir?
Vielleicht hätte ich damit rechnen sollen, dass es ihr auffällt. Seit sie alles weiß, hat sie einen Sensor dafür.
Grace
Er fährt mich nach Hause.
Selena
Da fällt mir gerade ein, dass ich ganz vergessen hatte, dass ich heute etwas länger weg sein werde.
So schön es auch wäre, dass das nötig wäre, ist es das leider nicht.
Grace
Mach dir keine Umstände. Dafür gibt es keinen Anlass.
Selena
Hör auf, mit mir zu schreiben und flirte mit deinem heißen Ex!
Grace
Ich warte in seinem Auto. Er wollte noch mit Levi sprechen.
Selena
Levi steht einen Meter von mir entfernt. OHNE Ethan. Also viel Spaß!
In diesem Moment öffnet sich die Fahrertür und Ethan steigt ein. Er hat seine Anzugjacke ausgezogen und wirft sie nach hinten auf die Rückbank. Das wiederum gibt mir einen viel besseren Blick auf seinen sensationellen Oberkörper, der nur noch von dem weißen Hemd verdeckt wird.
„War Levi sauer, dass du gehst?", frage ich ihn.
Ethan wirft mir einen verwunderten Seitenblick zu, bevor er rückwärts aus der Parklücke fährt.
„Levi braucht mich für so etwas nicht."
Daraufhin legt sich eine unangenehme Stille über uns. Mich überkommt das Bedürfnis irgendetwas zu sagen, nur damit es aufhört. Leider will mir bloß nichts einfallen.
Schließlich ist es Ethan, der sich räuspert. „Willst du darüber reden?"
Ich seufze traurig. „Nicht wirklich."
Oder die bessere Antwort wäre wohl, ich weiß nicht wie.
„Mhm", erwidert er bloß und konzentriert seine Aufmerksamkeit auf die Straße. Bevor allerdings wieder das unangenehme Schweigen einsetzen kann, setzt er hinterher: „Willst du das wirklich oder willst du nur mit mir nicht darüber reden?"
Mein Kopf schnellt zu ihm herum, doch er sieht mich nicht an. Sein Blick geht starr nach vorne und sein Kiefer ist angespannt.
„Ethan, ich ... ich weiß manchmal einfach nicht wie ich mit dir umgehen soll", gebe ich schließlich stammelnd zu.
„Wie du mit mir umgehen sollst?", fragt er irritiert.
„Du bist ...", ich stöhne auf und lasse meinen Kopf gegen die Lehne sinken. „Du bist für mich schwer zu durchschauen. Mal bist du nett zu mir und tust so etwas wie das hier und dann bist du wieder kalt und abweisend. Ich weiß nie, woran ich bei dir bin. Ich will dich nicht nerven, ich will dich aber auch nicht einfach aufgeben. Diesen Fehler habe ich schließlich schon einmal begangen."
Erst als ich meinen Redefluss beendet habe, merke ich, dass Ethan angehalten hat und rechts von uns sich das Haus befindet, in dem ich lebe. Ethan hat sich halb zu mir umgedreht und sieht mich traurig an.
„Vielleicht ...", beginnt er zögerlich, bricht aber wieder ab und sieht unschlüssig zu dem Gebäude, in dem sich meine Wohnung befindet. „Kann ich reinkommen? Können wir in Ruhe darüber reden?"
„Oh", erwidere ich überrascht über seine Antwort. Dann wird mir klar, was er mich gerade gefragt hat und ich platze heraus: „Ja, natürlich!"
Ich steige fast etwas zu hektisch aus und Ethan folgt mir in die Wohnung. Kurz überlege ich, ob mein Zimmer in einem Zustand ist, in dem ich ihn dort hineinlassen kann. Ich will aber vermeiden, dass Selena doch in unser Gespräch platzt, nachdem ich ihr gerade gesagt habe, dass es keinen Grund gibt wegzubleiben. Daher führe ich ihn durch den Flur zu meinem Raum.
„Es ist etwas chaotisch", erwidere ich und sehe ihn leicht verlegen an.
Ein kleines Grinsen bildet sich auf seinem Gesicht. „Jetzt weiß ich, was mir beim letzten Mal in deinem Zimmer seltsam vorkam. Es war zu ordentlich. Das warst nicht du."
Ich gebe ihm einen kleinen Stoß in die Seite und sehe ihn gespielt empört an. „Hey, so schlimm bin ich wirklich nicht mehr."
Er folgt mir lachend in den Raum. Dieser kleine lockere Schlagabtausch hat gutgetan. Auch Ethan sieht so viel entspannter aus, als er sich auf das kleine Sofa setzt.
Ich habe nicht gelogen, als ich gesagt habe, dass ich nicht mehr so schlimm wie früher bin. Lediglich ein paar Klamotten hängen über meinem Schreibtischstuhl und vor meinem Bücherregal stapeln sich noch ein paar Bücher, die ich einsortieren wollte. Hätte ich ihn erwartet, hätte ich vermutlich mein Bett gemacht. Die Bettdecke liegt noch so zerknäult da, wie ich sie heute Morgen nach dem Aufstehen zurückgelassen habe.
„Außerdem kann nicht jeder so ein Ordnungsfreak sein wie du", füge ich neckend hinzu.
„Ich bin kein Ordnungsfreak", erwidert er verteidigend.
„Nein? Du hast ein Kind und dein Auto sieht aus wie ungenutzt. Sollten da nicht wenigstens ein paar Krümel oder so zu sehen sein?"
„Vielleicht kette ich Noah ja einfach so fest, dass er nicht einmal die Möglichkeit hat, Krümel in meinem Auto zu verteilen", sagt er mit einem amüsierten Zug um den Mund.
Ich zucke mit den Schultern. „Ich sag's ja – Ordnungsfreak."
„Mhm ...", erwidert er schmunzelnd. „Oder vielleicht auch einfach ein verwöhnter Abkömmling, dem immer hinterhergeputzt wird."
Unter Lachen platzt aus mir heraus. „Oder das."
Auch wenn das wahr ist, ist er trotzdem immer der Ordentlichere von uns beiden gewesen.
Er lächelt mich noch kurz an, doch dann wird sein Gesicht ernst. „Es tut mir leid, Grace. Du sollst dieses Gefühl nicht haben. Du kannst immer mit mir sprechen."
„Kann ich das?", frage ich ihn zweifelnd und muss an all die Situationen in letzter Zeit mit ihm denken, in denen er mir die kalte Schulter gezeigt hat.
„Hör zu, Grace. Ich verstehe, dass die Umstände, in denen wir uns befinden, alles andere als gut sind. Es wäre vermutlich so schon schwierig genug, aber zusätzlich haben wir noch das Thema, dass wir zusammen arbeiten."
Ich ziehe eine Augenbraue nach oben. „Du meinst, dass du mein Boss bist?"
Es ist weniger eine Frage als eine Feststellung. Wären wir einfache Kollegen, wäre es definitiv noch besser als unsere Situation.
Ethan räuspert sich. „Ja ... Aber das hat hier keine Bedeutung. Du brauchst dir keine Sorgen machen, dass ich irgendetwas auf der Arbeit gegen dich verwende. Warum sollte ich das auch tun?"
Ich zucke mit den Schultern. „Es würde es einfacher für dich machen."
„Nein, würde es nicht", erwidert er bestimmt und auf eine Art, die keine Widerrede zulässt. Dann wird seine Stimme wieder weicher, als er sagt: „Wirst du mit mir reden?"
Wie soll ich mit ihm reden, wenn ich ihm am Ende doch wieder nur die halbe Wahrheit sagen kann?
„Es ... Es war nur über eine Sache, die mich beschäftigt hat und wir ... wir haben kaum gesprochen, seit ich erfahren ... Es ist nicht so wichtig", stammle ich.
„Okay ... Du hast nicht so gewirkt, als wäre es nicht so wichtig."
War es auch nicht, es war sogar sehr wichtig für mich.
„Mein Vater und ich haben aktuell ein paar Probleme."
„Das tut mir so leid, Grace", sagt er bekümmert. „Das wusste ich nicht. Ich dachte, du bist vielleicht auch wegen ihm zurück nach Wilbur Creek gekommen."
„Ja, bin ich auch. Also, das war nicht der Hauptgrund, aber es war natürlich schön, dass er wieder näher bei mir ist. Aber da wusste ... da wusste ich noch nicht, was er damals getan hat. Ich kann einfach nicht glauben, dass er mir diesen Brief von dir nie gegeben hat."
Ethan reißt die Augen auf und ich meine so etwas wie Reue in seinem Blick zu erkennen. „Ich dachte, du weißt es. Ich hätte sonst nichts gesagt, ich wollte für keine Probleme zwischen euch sorgen."
„Das ist wohl kaum deine Schuld. Ich bin froh, dass du es mir erzählt hast."
Das sagt die, die ihm genauso etwas verschweigt, aus eben dem Grund, den er genannt hat. Die Situation ist gar nicht mal so viel anders. Ich sage, dass ich froh bin, dass er es mir erzählt hat, verschweige ihm aber im gleichen Zug etwas.
Ethan sieht mich mit einem undurchdringlichen Blick an. Seine graugrünen Augen stechen aus seinem Gesicht hervor und sein Kieferknochen ist angespannt. „Ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen."
Mein Mund öffnet sich und es gibt so vieles, was ich ihm sagen will, aber kein Wort kommt mir über die Lippen.
Er schüttelt ungläubig den Kopf. „Vielleicht sollte ich gehen."
„Das musst du nicht", beeile ich mich, zu sagen.
„Ich sollte es tun." Er streift sich nervös durch die Haare. „Vielleicht bist du nicht die Einzige, die nicht weiß, wie sie sich verhalten soll."
„Ich will einfach, dass du so bist wie du bist."
„Grace", sagt er und klingt dabei so, als würde eine tonnenschwere Last auf ihm liegen. „Ich denke, wir sollten auf Abstand gehen."
„Warum?", frage ich erschrocken.
„Weil es nicht funktioniert ... Du sagst, du weißt nicht, wie du mit mir umgehen sollst, ich weiß es bei dir nicht. Vielleicht sollte uns das einfach sagen, dass es zu kompliziert zwischen uns ist, um Kontakt zu haben."
„Bitte nicht,", wispere ich.
Er schließt kurz die Augen und als er sie wieder öffnet, weiß ich, dass ich verloren habe.
„Es sollte zukünftig einfacher werden. Ich bin wieder in meinem Büro und werde immer weniger bei euch sein. Wir werden uns also kaum noch über den Weg laufen."
„Das ist nicht, was ich will, Ethan!"
„Du kannst nicht wirklich wollen, dass es so weiter geht."
„Nein, das tue ich auch nicht. Ich will es doch einfach wieder gut machen."
Sein Ausdruck verdunkelt sich und er sagt verärgert: „Das ist es, um was es hier geht? Du willst dich von irgendeiner Schuld reinwaschen? Ich kann es dir leicht machen, Grace. Es gibt nichts, was du wieder gut machen musst. Wir sind einfach zwei Menschen, die sich in der Vergangenheit kannten und dann getrennte Wege gegangen sind."
Er steht auf und macht Anstalten Richtung Tür zu gehen, doch ich springe schnell vor ihn. „Geh nicht! Bitte! So habe ich es nicht gemeint." Ich atme tief durch, um sämtlichen Mut für die nächsten Worte zusammenzunehmen. „Ich will mich nicht von einer Schuld reinwaschen. Ich will dich zurück in meinem Leben! Es ist alles meine Schuld, das wollte ich damit sagen. Es ist meine Schuld, dass das mit uns nicht funktioniert hat und ich verstehe, wenn du mir das niemals verzeihen kannst, aber wenn es auch nur einen Funken Hoffnung gibt, dass es vielleicht anders ist, werde ich dieses Mal nicht wegrennen. Ich will, dass du das weißt. Ich bin nicht mehr die Person von damals und ich werde nie wieder von dir weggehen, solange du es nicht von mir verlangst."
Ethan lässt den Kopf sinken, bevor er mir wieder in die Augen sieht. Er wirkt mindestens so aufgewühlt, wie ich mich fühle und ganz sicher auch aussehe. „Du kennst mich doch gar nicht mehr, Grace. Und ich kenne dich nicht."
„Ich denke, es ist eine Sache der Unmöglichkeit, dass ich dich nicht mögen könnte. Und alles andere ... ich will dich kennenlernen, so wie du heute bist."
Ein leichtes Lächeln zuckt um seinen Mund, doch es verschwindet genauso schnell wieder, wie es gekommen ist.
„Du willst, dass wir uns wieder kennenlernen?"
„Ja", wispere ich.
„Dann beantworte mir eine Frage, Grace, warum bist du damals gegangen? Du sagst, du hast Panik bekommen, aber warum? Was ist passiert?"
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