21 | Der Brief
GRACE
Hektisch laufe ich in den kleinen Raum, in dem sich der Drucker befindet und drücke ohne Umschweife auf den Kontakt von meinem Vater.
Vielleicht ist es nicht sonderlich schlau, dieses Gespräch hier führen zu wollen, aber in dem Moment, als ich die Nachricht gelesen habe, haben sämtliche rationale Gedanken ausgesetzt und ich will nur noch wissen, was er zu sagen hat.
„Grace, endlich!", ertönt die tiefe Stimme von meinem Vater.
„Sag es mir!", platze ich ohne Umschweife heraus.
„Sag mir erst, warum du es unbedingt wissen willst. Was erhoffst du dir davon?"
Wenn ich das nur selbst wüsste. Ich weiß nur, dass ich es wissen muss. Ich muss wissen, was Ethan mir vor all den Jahren geschrieben hat.
„Es war mein Brief. Ich habe ein Recht zu wissen, was darin stand, Dad."
Er seufzt auf. „Nun, gut. Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern. Es ist lange her."
„Echt jetzt?", frage ich wütend. „Ist das alles ein Scherz für dich? So zu tun, damit ich anrufe und da–"
„Grace!", unterbricht er mich. „Nein, das ist kein Scherz für mich und wenn du mich aussprechen lässt, kann ich dir auch etwas dazu sagen."
Ich atme tief durch und versuche irgendwie, meine Wut zurückzudrängen, die dazu führt, dass ich ihm am liebsten noch so viel mehr an den Kopf geworfen hätte. Allein die Tatsache wie schwer es mir fällt, noch ruhig zu bleiben, zeigt, wie ausgelaugt ich bin. Seit ich wieder in Wilbur Creek bin, ist gefühlt kaum ein Tag vergangen, der nicht verdammt anstrengend war. Hinzukommt der Schlaf, von dem ich auch seit Wochen viel zu wenig bekomme, weil ich stattdessen nachts wachliege und über alles nachgrübele, was geschehen ist.
„Okay, dann sag es mir", wiederhole ich meine Aufforderung dieses Mal leiser.
„Einige Tage nachdem du weg warst, stand Ethan vor meiner Tür und meinte, dass er weiß, dass du nicht mit ihm sprechen willst, aber ob ich dir einen Brief zukommen lassen könnte. Ich habe ihn versucht, wegzuschicken, aber er war ziemlich hartnäckig. Also habe ich den Brief schließlich an mich genommen. Erst wollte ich dich anrufen und fragen, ob du den Brief sehen willst, aber dann ... ich hatte solche Angst, was er geschrieben hat und dass es alles noch schlimmer macht. Du warst so am Boden, ich dachte, dieser Junge hat dir wer weiß was getan."
„Hat er nicht", presse ich unter Tränen hervor. „Er hat mir nichts getan."
„Woher sollte ich das wissen? Du wolltest nicht mit mir sprechen, alles, was ich wusste, war, dass du wegwolltest, und er nicht wissen sollte, wo du bist."
Ich schließe die Augen und hoffe so, die Tränen zurückdrängen zu können, doch es hilft nichts, sie laufen ununterbrochen weiter. Ich habe so einen Mist gebaut. Nein, Mist gebaut trifft es nicht einmal, das klingt viel zu harmlos. Ich habe einen gigantischen Fehler gemacht und damit alles zerstört.
„Und dann?", frage ich schluchzend.
„Grace", sagt mein Vater betroffen, „du weinst."
„Bitte, Dad. Hör auf, es mir verschweigen zu wollen."
Er räuspert sich. „Okay ... also wie ich schon sagte, wusste ich nicht, was ich tun soll. Nach einigen Tagen habe ich beschlossen, ihn zu lesen und dann zu entscheiden, ob es etwas ist, was du sehen solltest." Er stockt kurz und seine Stimme klingt belegt, als er weiterspricht: „Der Brief war nicht sonderlich lang, aber Ethan hat dir darin geschrieben, dass er ... dass er dich liebt–"
„Oh Gott!", wispere ich und presse eine Hand auf meinen Mund, um den lauten Schluchzer zu unterdrücken, der aus meiner Kehle kommen will.
„Und dass es ihm leidtut, wenn er etwas Falsches getan hat", spricht mein Vater weiter. „Er hat dich gebeten, dass du noch einmal mit ihm sprichst und er dir schwört, dass er dich danach in Ruhe lässt, wenn es das ist, was du willst."
Mit jedem Wort, das ich höre, kehrt die Wut mehr zurück und vertreibt zumindest für den Augenblick die Tränen. „Wie konntest du mir das vorenthalten?", zische ich hervor.
„Ich ... ich hätte es nicht tun sollen, Grace. Das weiß ich. Bitte glaub mir das. Aber in dem Moment hatte ich einfach zu viel Angst um mein kleines Mädchen. Ich dachte, er hätte dir wirklich etwas Schlimmes getan und dass er dich mit seinen Worten wieder einlullt. Ich wollte dich schützen davor, dass du wieder in dein Unglück rennst."
„Das hätte ich entscheiden müssen!"
„Ich weiß, Grace. Ich weiß. Wenn ich es noch einmal entscheiden könnte, würde ich es anders machen."
Bitter verziehe ich den Mund. Ich auch ... ich würde so vieles anders machen. Angefangen damit, niemals von Ethan wegzugehen.
„Hast du den Brief noch?", frage ich. „Sei ehrlich, Dad!"
„Ich weiß es wirklich nicht. Ich habe schon nach ihm gesucht, aber konnte ihn nicht finden. Ich suche weiter."
„Ich will den Brief haben!"
„Ich suche ihn. Das verspreche ich dir. Aber ich weiß nicht, ob ich ihn nicht über die Jahre doch weggeschmissen habe."
„Bitte such ihn", kommt es wieder unter Tränen aus mir hervor.
„Ich verspreche es dir. Sag mir nur ... was erhoffst du dir davon, Grace?"
„Nichts", gebe ich ehrlich zu, „ich muss ihn einfach haben."
Jetzt sogar noch mehr als zuvor. Ich muss das Einzige haben, in dem mir Ethan gesagt hat, dass er mich liebt. Es ist alles, was mir geblieben ist. Zumindest fühlt es sich so an.
„Okay, Gracy. Ich ... es tut mir so leid", sagt er mit schwacher Stimme.
Ich seufze traurig und erschöpft auf. „Ich verstehe, warum du es getan hast, Dad. Aber nur weil ich deine Beweggründe verstehe, macht es das nicht richtig. Du hättest mir den Brief geben müssen. Ich habe ihn auch geliebt."
„Ich weiß, dass du das hast. Deshalb wollte ich dich beschützen."
Mit meiner freien Hand versuche ich mir die Tränen wegzuwischen, aber da immer neue nachkommen, ist es ein ziemlich sinnloses Unterfangen.
„Wir sollten auflegen. Ich bin ... ich bin bei einer Veranstaltung von der Arbeit."
„Oh ... ja, natürlich. Melde dich, wenn du etwas brauchst. Und Grace ... es tut mir so leid. Wirklich! Wenn es dir hilft, rede ich mit Ethan und sage ihm, dass ich dir den Brief nie gegeben habe."
Ich schüttle den Kopf, auch wenn er das nicht sehen kann. „Nein, bitte tu das nicht. Ich ... ich muss auflegen. Wir hören uns, Dad."
Bevor er noch etwas erwidern kann, beende ich den Anruf, weil ich es keine Sekunde länger mehr ertrage. Ich muss irgendwie noch durch diesen Abend kommen, auch wenn ich gerade keine Ahnung habe, wie das funktionieren soll. Nur die Vorstellung, Ethan zu sehen und nicht in Tränen auszubrechen, klingt nach einer ziemlichen Unmöglichkeit.
Mein Vater hat mein Vertrauen missbraucht, aber ich habe Ethans Vertrauen missbraucht. Er wird mir das nie verzeihen und ich kann es ihm nicht einmal verübeln. Vermutlich sollte ich ihn in Ruhe lassen. Ich hatte ihn sowieso nie verdient. Erst recht nicht nachdem, was ich getan habe.
Ein Räuspern ertönt und ich wirble erschrocken herum. Im Türrahmen steht Levi und hat ein betroffenes Gesicht aufgesetzt. Großartig!
Ich unternehme, erst überhaupt nicht den Versuch mir die Tränen wegzuwischen. Er hat sie sowieso gesehen.
„Wie viel hast du gehört?", frage ich ihn mit vor Weinen heiserer Stimme.
Verlegen sieht er zu Boden. „Ein wenig etwas."
Also vermutlich alles. Oder zumindest so viel, dass er ein ziemlich gutes Bild bekommen hat.
„Hat es noch jemand gehört?", frage ich ihn und fange jetzt doch damit an, mir zu versuchen, die Tränen wegzuwischen. Aber sie wollen einfach nicht aufhören zu laufen.
Er schüttelt den Kopf. „Nein, ich wollte selbst telefonieren und habe einen ruhigen Ort gesucht."
Ich nicke bloß und sehe auf meine Hände. Das ist so verdammt unangenehm. Als wäre die Situation noch nicht beschissen genug, ist jetzt auch noch Ethans Bruder Zeuge davon geworden.
Levi räuspert sich. „Uh ... kannst du dich an mich erinnern?"
Fast hätte ich bitter aufgelacht. Als könnte ich es nicht. Ich erinnere mich an alles. Es sind Erinnerungen, an die ich mich festgeklammert habe, weil sie zu den schönsten und gleichzeitig zu den bittersten gehört haben.
Ich nicke und er steht unschlüssig vor mir.
Es ist ihm anzusehen, dass er keine Ahnung hat, was er sagen soll. Wenigstens ist sein misstrauischer Ausdruck von vorhin verschwunden. Ich denke nicht, dass ich das jetzt noch oben drauf ertragen könnte. Obwohl ich sein Misstrauen mehr als nur verdient habe.
„Kann ich etwas tun, um dir zu helfen?", fragt er mich schließlich.
Ich schüttle den Kopf. „Nein, ich denke, ich werde jetzt nach Hause gehen."
Verständnis steht in seinen Augen, die etwas weniger grün und dafür mehr grau haben, wenn man sie mit Ethans vergleicht. Trotzdem ist die Ähnlichkeit unverkennbar.
„Könntest du kurz warten?", fragt er mich. „Es dauert nicht lange. Versprochen."
„Oh, okay", erwidere ich verwirrt.
Doch ich komme nicht dazu, nachzufragen, weil er schon aus dem kleinen Raum verschwunden ist. Ich atme tief durch und versuche mich erneut, von den Tränen zu befreien. Wenn ich hier raus will, muss ich an allen anderen vorbei und wenn die mich so sehen, werde ich mich vor Fragen – und ganz sicher auch Gerede – nicht retten können.
Ich nehme eine Bewegung wahr und denke, dass Levi zurückgekehrt ist. Aber es ist nicht Levi, der im Türrahmen steht, sondern Ethan.
Ich versteife mich und wappne mich, dass ich mir gleich die nächste Enttäuschung abhole, doch als ich ihn ansehe, treffe ich bloß auf einen Blick, der voller Sorge steht.
„Grace", sagt er auf beruhigende Weise, wie nur er es mit seiner Stimme kann.
„Ich wollte gerade gehen", sage ich ziemlich zusammenhangslos zu ihm.
„Ich bringe dich nach Hause."
„Nein! Nein, das ist wirklich nicht nötig. Ich laufe. Du weiß ja, es ist nicht weit."
„Grace, komm schon. Tu mir den Gefallen."
Ich sehe ihn an und treffe auf diese geliebten graugrünen Augen. Bittend sieht er mich aus ihnen an und die Kälte und Emotionslosigkeit der letzten Zeit sind verschwunden.
„Aber du wirst hier gebraucht. Alle wollen sich mit dir unterhalten."
„Sie können sich auch wann anders mit mir unterhalten. Später oder ich bin auch sonst nicht aus der Welt."
In Zeitlupe nicke ich. Abschlagen kann ich es ihm sowieso nicht. Erst recht nicht, wenn es eine so kleine Bitte ist und er wirklich so aussieht, als wäre es ihm wichtig.
Ich wische mir wieder unter den Augen rum, um hoffentlich auch die letzte verlaufene Schminke zu erwischen. Ethan tritt einen Schritt auf mich zu.
„Darf ich?", fragt er mich und hebt seine Hand, bis sie kurz vor meinem Gesicht ist.
Ich nicke und sehe ihn mit großen Augen an, als er mir immer näher kommt.
Er nimmt seine Finger und wischt mir über die Schläfe. Vermutlich hat sich mein Mascara an alle Ecken meines Gesichts verselbstständigt. Die Stelle, die er berührt, kribbelt und ich habe das Gefühl, dass seine Berührung von dort in mein Herz schießt, das wie wild in meinem Brustkorb hämmert. Meine Atmung wird ungleichmäßig und ich halte die Luft an, damit er es nicht merkt.
Ethan muss meine Reaktion falsch gedeutet haben, denn er zuckt von mir zurück, als hätte er sich verbrannt. Oder er erträgt es einfach nicht mehr, mich zu berühren.
Betreten sieht er auf seine Finger, die eben noch meine Haut berührt haben. Unsicher fragt er: „Soll ich vielleicht Rhett holen?"
„Rhett?", frage ich perplex von der Frage und auch über den plötzlichen Themenwechsel.
„Ich dachte, vielleicht willst du lieber mit ihm sprechen. Seid ihr nicht zusammen oder sowas in der Art?"
„Uh ... wie kommst du darauf? Ist es wegen dieser peinlichen Nummer von Gemma, in der sie von dir wissen wollte, ob man jemanden aus dem Büro daten darf?", erwidere ich noch immer verwirrt.
Und ich dachte schon, es wäre fast zu offensichtlich, was ich für ihn empfinde. Das Letzte, was mir gerade einfallen würde, wäre irgendwelche anderen Männer zu daten. Ich will nur ihn. Es ist das erste Mal, dass ich es mir so offen eingestehe, dass es so ist, aber es ist wahr. Er ist alles, was ich will und ich will so viel mehr, als nur eine Freundschaft mit ihm. Ich will ihn zurück, wie ich ihn damals hatte, auch wenn ich weiß, dass ich das nie wieder tun werde. Ich werde ihn nie zurückbekommen und ich habe es verdient, dass es so ist.
Ethans sieht mich an, als müsse er kurz verarbeiten, was ich gesagt habe, dann erwidert er: „Nein ... Ja, keine Ahnung. Vergiss einfach, was ich gesagt habe. Mein Fehler."
„Ethan", sage ich zu ihm, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen.
Fragend sieht er mich an.
„Ich will niemand anderes sehen."
„Oh ...", er räuspert sich und streift sich verlegen durch die Haare. „Soll ich dich dann nach Hause bringen?"
„Wenn du ... wenn du das willst."
Seine Haltung entspannt sich etwas und ein kleines Lächeln erscheint um seine Mundwinkel. Er holt aus der Innentasche seiner Anzugjacke einen Autoschlüssel und hält ihn mir hin. „Du kennst ja mein Auto. Geh schon vor und ich komme gleich nach. Ich sage nur noch schnell Levi Bescheid und ... na ja, ich denke, du willst morgen vermutlich nicht gefragt werden, warum wir zusammen gegangen sind."
Röte steigt mir in die Wangen und ich schüttle mit Nachdruck den Kopf. Das Letzte, was ich oder auch Ethan gebrauchen können, ist, dass es Gerede über uns auf der Arbeit gibt.
Ethan verlässt den kleinen Druckerraum und ich sehe ihm hinterher, wie er zurück auf die Bürofläche geht. Auch wenn ich weiß, dass er gleich wiederkommt, überkommt mich das Bedürfnis, ihn festzuhalten. Liebeskummer ist ein echtes Arschloch und ich habe keine Ahnung, wie viel mehr ich davon ertragen kann.
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