2 | Vorstellungsrunde
GRACE
Der Tag zieht an mir vorüber, ohne, dass ich danach sagen kann, was geschehen ist. Alle sind mit der Übernahme beschäftigt. Jeder hat etwas anderes gehört und die Spekulationen, wie es weitergeht, überschlagen sich. Ich habe nur wenig beizutragen und komme mir wie ein Eindringling von außen vor. Dabei gehöre ich auch dazu. Ich bin davon genauso betroffen.
Einer der Gründe warum ich unbedingt ins Grand Haven wollte, war, dass es groß genug ist, um sich ein echtes Marketing zu leisten, aber trotzdem noch so klein, dass man wirklich etwas bewegen kann. Ob davon viel übrigbleiben wird, ist fraglich, jetzt wenn es von einem Großkonzern geschluckt wird. Doch das ist es nicht, was mir diese fiesen Bauchschmerzen bereitet. Es ist die Gefahr eines Wiedersehens mit Ethan Tyrell, das so viel wahrscheinlicher geworden ist.
Die Wahrscheinlichkeit war immer ziemlich hoch. Schließlich gibt es nicht allzu viele Orte, an denen man in Wilbur Creek hingehen kann und früher oder später wäre es dazu gekommen. Aber das ist anders. Wir hätten keine Verbindung gehabt, aber jetzt? Was ist er jetzt? Mein Boss?
Immer wenn ich in all den Jahren an Ethan gedacht habe, war es mit Wehmut und Schmerz verbunden. Ganz besonders war es Schmerz. Wir waren jung, aber es war von meiner Seite trotzdem echt. Er war meine erste große Liebe und sagt man nicht, dass die bei einem bleibt?
Damals als ich Wilbur Creek verlassen habe, war ich so unglaublich wütend auf ihn und verletzt. Ich wollte ihn hassen dafür, was er getan hatte, habe mich selbst gehasst, dass ich so dumm war, aber schlussendlich konnte das alles nicht darüber hinwegtäuschen, dass ich ihn geliebt habe. So sehr, dass es mich zerrissen hat, als ich ihn verloren habe.
Vor einigen Jahren habe ich einmal nach ihm gegoogelt, aber habe es sehr schnell wieder gelassen. Es hat zu viel hochgeholt, woran ich nicht mehr denken wollte. Daher habe ich keine Ahnung, wie er heute aussieht oder was für ein Leben er hat. Ist er verheiratet? Hat er Kinder?
„Hey", reißt mich Selena aus meinen Gedanken. „Wir gehen noch etwas trinken. Kommst du mit?"
Ich sehe zu der kleinen Gruppe, die auf Selena wartet. Gemma ist auch dabei und eine weitere neue Kollegin, mit der ich bisher noch keinen Kontakt hatte. Eigentlich bin ich absolut erledigt nach diesem Tag, aber ich will mich nicht direkt ausschließen, daher nicke ich. Es wäre immerhin schön, ein paar Freundinnen zu finden. Außerdem wer weiß, wie lange Selena noch braucht, um herauszufinden, wer ich wirklich bin.
***
Nur zwanzig Minuten später sitzen wir an einem erhöhten Bartisch und haben alle, ein Getränk vor uns stehen. Die Musik dröhnt um uns herum und die Neonlichter hauchen dem Raum eine geheimnisvolle Atmosphäre ein. Die Kollegin, die ich noch nicht kannte, hat Selena mir als Ruth vorgestellt. Wie nicht anders zu erwarten, dauert es nicht lange und die Unterhaltung schwenkt zu der Übernahme durch Tyrell.
„Wenn ihr mich fragt, war es nur eine Frage der Zeit bis Claudia einknickt. Ihr Gerede von Zusammenhalt und wir bleiben unabhängig, war doch eine Menge Bullshit", sagt Gemma in die Runde.
„Findet ihr es nicht seltsam, dass sie einfach weg ist?", fragt Selena. „Sie hat sich nicht einmal von uns verabschiedet."
Ruth schnaubt auf. „Habt ihr nicht ihre Bilder bei Instagram gesehen? Sie ist nicht weg, sie bräunt sich den Bauch irgendwo in der Karibik."
„Das heißt aber auch, wir bekommen einen neuen Boss", wirft Gemma ein. „Denkt ihr, sie nehmen jemanden von uns?"
„Ich tippe, sie nehmen jemanden aus ihren Reihen. Allein, um uns im Blick zu haben", sagt Selena nachdenklich.
Ich frage mich, ob Ethan involviert sein wird. Nein, der Sohn des Firmengründers wird sich sicherlich nicht mit solchen Kleinigkeiten abgeben, wie der direkten Leitung einer Fünfzig-Personen-Einheit. Vielleicht sollte ich mich informieren, welche Bereiche Ethan verantwortet, um dort definitiv einen weiten Bogen drumherum zu machen. Ich nippe an meinem Gin Tonic und konzentriere mich auf die bittere, kühle Flüssigkeit, die mir den Rachen herunterläuft. Meine Panik Ethan dauernd über den Weg zu laufen, ist lächerlich. Er sitzt irgendwo in der Chefetage des großen Bürokomplexes von Tyrell und hat sicherlich Besseres zu tun, als sich im Grand Haven rumzutreiben.
„Na ja, du kannst dich ja entspannen, Selena", sagt Gemma zu ihr, wobei ihr Tonfall etwas Seltsames angenommen hat.
„Warum sollte ich mich entspannen können?", fragt sie Gemma und zum ersten Mal frage ich mich, ob Selena und Gemma sich wirklich gut verstehen oder ob sie durch die Arbeit dazu gezwungen sind.
„Ein Anruf bei deinem Bruder und der stellt sicher, dass du deinen Job nicht verlierst. Ethan wird dann schon dafür sorgen, dass die kleine Schwester seines besten Freundes nicht rausfliegt."
Mir klappt der Mund auf und Selena verzieht verärgert ihr Gesicht. „Ich kann sehr gut selbst für mich sorgen", faucht sie Gemma an. „Dafür brauche ich weder Grady noch Ethan."
„Wo hast du gelebt, bevor du nach Wilbur Creek gekommen bist, Grace?", fragt mich Ruth hektisch, ganz eindeutig, um die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken und damit zu verhindern, dass die beiden sich gleich an die Gurgel gehen.
Innerlich schüttle ich mich, um nicht wieder in meinem Gedankenchaos an Ethan zu versinken. „Ich habe in einem kleinen Ort in Idaho bei meinen Großeltern gelebt und bin auch dort ans College gegangen. Danach habe ich für eine Weile in Portland gelebt und jetzt bin ich hier."
Dabei unterschlage ich, dass ich nicht zum ersten Mal hier lebe. Außerdem kann man allen ansehen, dass sie nicht wissen, ob sie nachfragen sollen. Wenn man sagt, dass man zu den Großeltern gezogen ist, gehen die meisten davon aus, dass die Eltern Tod sind. Was bei mir sogar teilweise so ist, aber eben nicht der Grund für den Wegzug.
„Mein Vater musste viel arbeiten und meine Mutter ist, als ich noch ein Baby war, gestorben. Daher bin ich zu ihnen gezogen", liefere ich ihnen die Erklärung von mir aus.
Diese verdrehte Version habe ich schon so häufig erzählt, dass sie nicht einmal mehr schmerzhaft ist. Beim Tod meiner Mutter war ich zu jung, um echte Erinnerungen an sie zu haben. Meinen Vater habe ich vermisst, aber ich hätte nicht in Wilbur Creek bleiben können und erst recht nicht in diesem Haus.
Ich habe mit meinem Vater in einem kleinen Häuschen im hinteren Teil des riesigen Anwesens der Familie Tyrell gelebt. Er war ihr Gärtner und so habe ich Ethan kennengelernt. Er, der Erbe eines Milliardenimperiums und ich die Tochter des Gärtners. Ein Klischee und gleichzeitig eine Kombination, die zum Scheitern verurteilt war. Das wusste ich, aber ich habe es trotzdem nicht geschafft, mich von ihm fernzuhalten. Am Ende habe ich bitter dafür bezahlt.
„Arme Grace hatte den schlimmsten Start, den man haben kann", sagt Gemma und sieht mich mitfühlend an. „Normalerweise sind wir nicht solche Trauerklöße."
„Oh, schon okay. Ich verstehe das."
„Ja, aber wir können es nicht ändern, daher können wir genauso gut den Abend genießen. Noch eine Runde?", ruft sie aus, während sie schon nach dem Kellner winkt.
***
Gott, ich habe Kopfschmerzen!
Stöhnend rolle ich mich aus dem Bett, bis meine Füße den Boden berühren. Wie alt bin ich, dass ich mich nach meinem ersten Arbeitstag volllaufen lasse und zu meinem zweiten mit einem Kater antreten muss? Das ist nicht nur dämlich, sondern auch noch riskant.
Irgendwie schaffe ich es, mich unter die Dusche zu schleppen. Nachdem ich diese für eine halbe Minute auf eiskalt gestellt und im Anschluss meinen ersten Kaffee intus habe, beginne ich, mich langsam besser zu fühlen. Meine hellbraunen Haare, die mir bis zur Mitte meines Rückens reichen, binde ich zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen, damit ich mich nicht, um sie kümmern muss. Tatsächlich schaffe ich es sogar, mit einer Wagenladung Concealer, meine dunklen Augenringe zu überdecken, sodass ich langsam wieder so aussehe, dass mein Anblick nicht nach Alkoholabsturz schreit.
Das einzig Gute ist, dass sicher auch heute alle so abgelenkt von den Neuigkeiten sein werden, dass sie mit sich selbst beschäftigt sind.
***
„Der Boss kommt", sind die ersten Worte, mit denen ich von Selena empfangen werde.
„Welcher?", platze ich hervor, ohne darüber nachzudenken.
„Keine Ahnung, aber irgendeiner von ganz oben. Mary sagt, man will uns kennenlernen."
Mary ist die Personalchefin und somit diejenige, die alles abbekommt, seit Claudia weg ist.
Sämtliches Blut muss mir aus dem Gesicht gewichen sein, denn Selena sieht mich erschrocken an. „Hey Grace, bist du okay?"
„Ja ... ja alles gut", antworte ich, obwohl mir kotzübel geworden ist. Dieses Mal bloß nicht vom Alkohol.
Lass es nicht Ethan sein. Es kann nicht Ethan sein! Oder will ich, dass es Ethan ist? Dann hätten wir die Sache wenigstens hinter uns ... Nein, definitiv will ich nicht, dass es Ethan ist! Das wäre ein Albtraum!
Selena sagt beschwichtigend zu mir: „Wer auch immer es ist, wird herkommen, ein wenig durch die Räume laufen, sich von Mary erzählen lassen, welche Zuständigkeiten wo liegen und wieder gehen. Alles kein Problem. Maximal musst du demjenigen die Hand schütteln."
„Hey Leute", ruft in diesem Moment Mary über den ganzen Raum.
Wir drehen uns um und sie winkt mit ihrem Arm, dass wir ihr alle zuhören sollen. „Ich habe gerade die Mitteilung bekommen, dass man euch einzeln kennenlernen will. Bitte bleibt also hier und ich rufe euch nacheinander auf, wenn ihr dran seid."
Oh Gott! Maximal die Hand schütteln? So viel dazu.
Ich sehe Selena mit erhobenen Augenbrauen an und sie zuckt entschuldigend mit den Schultern. „Sorry, Grace. Aber du musst es einfach als Vorstellungsgespräch sehen. Darin hast du von uns allen also sozusagen aktuell die meiste Übung."
Auch, wenn ich Vorstellungsgespräche hasse, ist das nicht meine größte Sorge, aber das kann ich ihr schlecht sagen.
Nachdem Mary geendet hat, prasseln allerlei Fragen auf sie nieder. Hauptsächlich geht es darum, ob sie denkt, dass man damit Mitarbeitende aussortieren will. Die kann allerdings nur ratlos mit den Schultern zucken, da sie bloß die Überbringerin der Nachricht ist.
Ich höre allerdings sowieso nur halb hin. Das Ganze ist ein Albtraum. Nicht nur, dass ich nicht weiß, wie ich mich verhalten soll, sollte mir Ethan gegenüberstehen, sondern auch weil ich ernsthaft so blöd war, gestern zu viel zu trinken.
Vielleicht gehe ich in der Menge unter. Vielleicht wird es gar nicht so schlimm.
***
Selena zeigt mir ein paar Aufgaben, doch es fällt mir schwer, mich darauf zu konzentrieren. Dadurch, dass Selena sich um die Events kümmert und ich mich um die Vermarktung haben wir einige Überschneidungen in unserer Arbeit.
Das Gerücht, dass die Gespräche geführt werden, um zu selektieren, hält sich hartnäckig. Damit rechne ich meine Chancen ziemlich gering aus. Welchen Nutzen habe ich schon, mit meiner eintägigen Arbeitserfahrung? Mit oder ohne Ethan kann ich diesem Job wohl auf Wiedersehen sagen. Ich habe gerade ein Paket von der Poststelle des Gebäudes abgeholt, da höre ich, als ich zurückkomme, dass die Gespräche begonnen haben und ausgerechnet Selena ist aktuell drin. Das heißt, ich sitze jetzt hier allein, was mir viel zu viel Raum bietet, mich immer weiter in alles reinzusteigen. Nach fünf Minuten taucht Selena zum Glück wieder auf.
Sie lächelt mir beruhigend zu. „Du bist dran, Grace. Mach dir keine Sorgen, es ist ganz harmlos."
„Wer ist es?"
„Es ist nur Ethan."
Erneute Übelkeit steigt in mir hoch und am liebsten würde ich rausrennen, um mich zu übergeben.
Nur Ethan.
Auch wenn ich anders als Gemma nicht glaube, dass Selena sich durch ihre Verbindung über ihren Bruder zu ihm Vorteile verschaffen will, ist sie trotzdem vermutlich die Einzige in diesem Raum, die eine Aussage wie nur Ethan treffen würde.
Ich atme tief durch und schließe für einige Sekunde die Augen. Bei jedem Schritt in Richtung der Tür, hinter der er sich befindet, habe ich das Gefühl, dass meine Beine gleich nachgeben. Vielleicht wird er mich nicht mehr erkennen. Ich war schließlich nur die Tochter des Gärtners seiner Familie. Ich war ein Zeitvertreib, ein Spiel für jemanden, der sich vor lauter Privilegien gelangweilt hat.
Mary erwartet mich vor der Tür und lächelt mir aufmunternd zu. Ganz sicher kann man mir ansehen, wie nervös ich bin. Sie öffnet die Tür und dann sehe ich ihn. Mein Herz setzt für einen Schlag aus und selbst wenn ich wusste, was kommt, bin ich nicht darauf vorbereitet.
Sein Blick ist auf den Laptop vor ihm gesenkt und sein Körper steckt in einem dunklen Anzug, der so perfekt sitzt, dass er ganz sicher auf seinen Körper zugeschnitten wurde.
„Ethan, darf ich dir unseren neusten Zugang vorstellen. Grace Arnolds."
Wie in Zeitlupe sieht er auf und zum ersten Mal seit über zehn Jahren treffen sich unsere Blicke.
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