19 | Rückschritt
GRACE
„Hey, wie war dein Date?", begrüßt mich Selena fröhlich am nächsten Morgen.
Als sie meinen Gesichtsausdruck sieht, fällt ihrer in sich zusammen.
„Oh nein ... Nicht gut?", fügt sie besorgt hinzu.
Ich schüttle den Kopf und presse meine Lippen aufeinander. „Es war – ich weiß auch nicht – angespannt ... Er war so distanziert und ich hatte nicht das Gefühl, dass er gerne da war."
Aufmunternd sieht sie mich an. „Ihr braucht einfach noch ein wenig Zeit. Es war euer erstes Treffen. Beim nächsten Mal wird es bestimmt besser."
„Ich bezweifle, dass es ein nächstes Mal geben wird. Er sah nicht so aus, als würde er eine Wiederholung von diesem Abend wollen."
Sie kommt zu mir und nimmt meine Hände in ihre Hand. „Gib nicht sofort auf. Denk daran, was du selbst gesagt hast. Du willst um ihn kämpfen."
Ich lächle traurig. „Werde ich nicht. Aber das heißt nicht, dass es nicht verdammt hart ist."
„Das stimmt, aber es heißt auch nicht, dass bereits alles verloren ist", sagt sie lächelnd zu mir.
Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass sie für mich da ist. Allerdings bin ich gerade noch zu deprimiert darüber, wie es gelaufen ist, als dass ich schon bereit bin, wieder nach vorne zu sehen. Wenn ich mich weiter um Ethan bemühen will, werde ich mich zusammenreißen müssen, aber es verlangt mir verdammt viel ab. Schon die Vorstellung, ihm morgen wieder gegenüberzutreten ... und was? So zu tun, als wäre alles gut? Als wäre ich nicht traurig darüber, dass wir eher einen Schritt zurück als nach vorne gemacht haben? Ich weiß ehrlich noch nicht, wie ich das tun soll.
Aber ich werde es tun. Es ist meine einzige Chance. Ich muss ihm zeigen, dass es mir wichtig ist und dass ich ernsthaft bereue, was geschehen ist. Er muss wissen, wie leid es mir tut.
Auf der anderen Seite wäre es einfach nur egoistisch, seine Wünsche zu übergehen. Wenn er nichts mehr mit mir zu tun haben will, ich ihn aber immer weiter bedränge, ist die Einzige, für die ich das tue, ich selbst. Ich tue es, weil ich Ethan zurückhaben will. Ich tue es, weil ich Ethan nie vergessen konnte. Ich tue es, weil ich noch immer Gefühle für Ethan habe.
Alles nur ich ...
Mein Problem ist nur, dass ich nicht weiß, was er denkt. Ist er abweisend, weil er es mir noch nicht verzeihen kann, weil er wütend auf mich ist? Oder ist er es, weil er mich wirklich aus seinem Leben raus haben will?
Mit meiner Kaffeetasse in der Hand gehe ich zurück auf mein Zimmer und lasse mich auf das Bett fallen. Ich starre die Decke an und denke an die kurze Zeit, die Ethan mit mir in diesem Raum war. Die Erinnerung an seinen Geruch, seine sanfte Stimme, alles kommt hoch und treibt mir die Tränen in die Augen.
***
Am nächsten Tag sehe ich Ethan nicht und auch die kommenden Tage ist keine Spur von ihm. Er ist, wie ich gehört habe, in seinem alten Büro und auch für uns steht der Umzug an. Alle sind am Packen und ab der nächsten Woche werden wir mit allen anderen, die in der Zentrale von Tyrell arbeiten in einem Gebäude sitzen.
Vermutlich ist das auch der Grund, dass Ethan nicht mehr hier ist, es herrscht bloß Chaos und an normales Arbeiten ist kaum noch zu denken. Zumindest hoffe ich, dass das der Grund ist. Trotzdem schleicht sich immer wieder die Angst ein, ob er es auch nutzt, um mich nicht sehen zu müssen. Aber dafür müsste ich genug Einfluss auf ihn haben und das bezweifle ich. Bisher hat er auch ganz normal täglich hier gearbeitet. Meistens hat er mich einfach ignoriert und daran wird auch dieses Abendessen, das sowieso einfach nur grauenhaft war, etwas geändert haben.
Das ganze Wochenende verbringe ich noch mit grübeln. Auch Selena kann wenig tun, um mich aus meinem Zimmer zu holen oder mich auf andere Gedanken zu bringen. Und dann ist auch schon der Montag im neuen Büro da.
Es fühlt sich seltsam und fremd an. Ich habe nicht lange in den alten Räumen gearbeitet, aber sie sind trotzdem schnell zur Gewohnheit geworden. Auch wenn wir bereits vorher Teil eines großen Gebäudes waren, ist es trotzdem etwas anderes. Es war unser kleiner eigener Bereich. Den gibt es nicht mehr. Jetzt sind wir in einem gigantischen Bürokomplex mit all den anderen Mitarbeitenden von Tyrell.
Unser Flur befindet sich im sechsten Stock. Er ist hell und weitläufig und alles sieht ein wenig schicker aus als in den alten Räumen. Es hängen große Bilder an der Wand, die Hotels des Grand Havens zeigen, die extra angefertigt worden sein müssen.
Schnell merke ich, dass es eine weitere Änderung gibt – Ethan sitzt nicht mehr bei uns. Das bedeutet auch gleichzeitig, meine Möglichkeiten mit ihm Kontakt zu haben, sind erheblich geschrumpft. Ihn in den Vorstandsräumlichkeiten aufzusuchen, um Smalltalk zu halten, klingt nicht nach dem besten Plan. Mal ganz abgesehen von der Tatsache, dass ich dort jederzeit seinem Vater oder seinem Bruder über den Weg laufen könnte. Ich weiß nicht, was ihnen Ethan damals erzählt hat, aber ich komme sicherlich nicht sonderlich gut darin weg. Was ich auch verdient habe. Es ist feige, mich dem nicht stellen zu wollen, aber es ist einfach verdammt hart, dauernd wieder diesen missbilligenden Blicken ausgesetzt zu sein.
Der Tag schreitet voran und alle sind noch dabei sich einzurichten, genauso wie sich an das neue Umfeld zu gewöhnen. Kurz vor zwölf kommt Rhett zu mir an den Schreibtisch.
„Hast du schon Pläne für die Mittagspause? Ich habe gehört, um die Ecke soll ein ziemlich gutes Restaurant dafür sein."
Eigentlich hatte ich nicht vor rauszugehen, aber wenn ich es mir recht überlege, ist es eine gute Ablenkung. Was würde ich sonst machen? Vermutlich hier sitzen, an einem Apfel knabbern und Ethan hinterhertrauern.
„Das klingt gut, Rhett. Ich bin sofort da."
„Alles klar. Ich warte in fünf Minuten am Aufzug auf dich."
Ich schreibe noch die eine E-Mail zu Ende und greife anschließend nach meinem Handy, um es in meine Handtasche zu packen. Dabei sehe ich, dass ich eine Nachricht von meinem Vater habe.
Dad
Wirst du am Wochenende vorbeikommen?
Ich seufze. Auch wenn ich es ihm nicht nachhalten will, bin ich noch nicht ganz darüber hinweg, was er getan hat. Seine Absichten waren gut, aber sie haben den Schaden trotzdem noch weiter vergrößert.
Grace
Ich sage dir nochmal Bescheid.
Dad
Ich mache dein Lieblingsessen.
Schlechtes Gewissen überkommt mich, aber gleichzeitig hasse ich es auch, dass er zu denken scheint, dass so etwas wie mein Lieblingsessen ausreicht, um das wieder gut zu machen.
Grace
Weißt du noch, was in dem Brief stand?
Die Hoffnung ist klein, aber tief in mir drin ist sie doch noch vorhanden, dass er den Brief aufgehoben hat. Ich weiß selbst nicht, was es mir bringen soll. Nichts, was darin steht, hat heute noch Bedeutung. Egal, was Ethan damals gefühlt hat für mich, heute tut er es nicht mehr.
Dad
Es ist viele Jahre her, Grace.
Grace
Ich will es wissen!
Dad
Wir reden darüber, wenn du hier bist.
Tränen treten mir in die Augen, weil ich das Gefühl habe, dass er nicht begreifen will, wie wichtig es für mich ist.
Ich sehe zu den Aufzügen, die sich am hinteren Teil der großen Fläche befinden und entdecke Rhett, der schon auf mich wartet. Hektisch wische ich mir die Tränen weg, aber ich bin mir fast sicher, dass er sie sowieso schon gesehen hat. Bei seinem besorgten Blick ist zumindest davon auszugehen. Er macht einen Schritt auf mich zu, stoppt dann aber wieder, als wäre er unsicher, ob ich seine Anwesenheit will.
Weil ich mir nicht noch zusätzlich die Blöße geben will, mich heulend auf der Toilette zu verkriechen, nehme ich meine Tasche und laufe zu den Aufzügen.
„Hey, geht es dir gut?", fragt mich Rhett besorgt.
Ja zu sagen, wäre so unglaubwürdig, da ist es sogar besser gar nichts zu sagen. Da ich Rhett mag und er schon so etwas wie ein Freund geworden ist, entscheide ich mich, ihm zumindest einen Teil der Wahrheit zu sagen.
„Mein Vater hat in der Vergangenheit etwas getan, was für mich ziemlich übel war und ich habe es erst kürzlich erfahren", erkläre ich ihm und dann treten mir doch wieder die Tränen in die Augen.
„Oh, das tut mir leid", erwidert er mitfühlend. „Kann ich irgendetwas tun?"
Ich presse die Lippen aufeinander und schüttle den Kopf. Ich wische mir die Tränen weg, die noch unter meinen Augen hängen und atme tief durch.
Rhett macht einen Schritt auf mich zu und zieht mich in seine Arme. Im ersten Moment bin ich davon überrumpelt, da unsere noch sehr frische Freundschaft bisher nicht so viel Körperkontakt enthalten hat. Aber es ist nicht unangenehm. Das war es eigentlich nie mit Rhett. Wir waren von Beginn an ehrlich, was unsere Ambitionen sind. Er hat kein romantisches Interesse an mir und ich nicht an ihm. Dadurch war es nie schwierig, ihm gegenüber natürlich zu sein und mich zu öffnen.
Das Geräusch des Aufzugs ertönt und Rhett drückt mich noch einmal fest, bevor er mich loslässt, damit wir einsteigen können. Als wir uns umdrehe, fällt mein Blick auf Ethan, der gerade aus dem Fahrstuhl ausgestiegen ist. Sein Blick ist hart und seine Augen emotionslos. Er nickt uns zu und presst mehr oder weniger ein „Hallo" hervor, bevor er an uns vorbeigeht und zwischen den Schreibtischen in Richtung des Meetingraums läuft.
Das gibt mir den Rest.
„Können wir das vielleicht verschieben?", bitte ich Rhett. „Ich bin heute einfach nicht in Stimmung."
„Natürlich", erwidert er sofort. Zum Glück denkt er, dass es nur um meinen Vater geht.
Ich schenke ihm ein schwaches Lächeln. „Danke."
„Wenn ich etwas tun kann ..."
„Nein. Aber danke. Das geht schon gleich wieder."
Ich nicke ihm noch einmal bestätigend zu, dass ich das auch wirklich so meine, dann gehe ich zurück zu meinem Schreibtisch. Auf dem halben Weg fällt mir auf, wie dämlich diese Idee war. Ich habe von dort direkte Sicht auf den Meetingraum, wenn an diesem nicht die Jalousien vorgefahren sind und sie auch auf mich.
Da ich allerdings nur die Wahl zwischen Toilette und Schreibtisch habe, gehe ich weiter. Ich habe die Befürchtung, dass es Rhett auffallen würde, wenn ich lange auf der Toilette verschwinde und er am Ende noch jemanden schickt, damit man nach mir sieht. Noch mehr meiner Kollegen an meinem emotionalen Zustand teilhaben zu lassen, ist so ziemlich das Letzte, was ich will.
Als ich mich setze, sehe ich sofort Ethans dunkelbraune Haare. Er sitzt immerhin mit dem Rücken zu mir und ihm gegenüber sitzt Mary die Personalchefin vom Grand Haven und Richard der Chef des Controllings. Außerdem sind noch zwei weitere Frauen dabei, die ich nicht kenne. Ich vermute, dass sie von Tyrell kommen und da wir immer mehr in das Unternehmen verschmelzen sollen, ist es wohl nicht ungewöhnlich, dass auch immer mehr andere mitreden.
Ich schaffe es einfach nicht wegzusehen. Ich lasse meinen Blick über Ethans breite Schultern schweifen, die in einem schwarzen Jackett stecken und über seine ausgestreckten Beine. Ethan sieht einfach unglaublich aus und zu sehen, wie Gemma ihn ein paar Meter weiter anglotzt, macht mich wahnsinnig. Dass jetzt noch Ruth dazukommt und die beiden über irgendetwas kichern, während sie Ethan immer wieder verstohlene Blicke zuwerfen, macht es kein Stück besser. Eher im Gegenteil.
Als sie merken, dass ich sie ansehe, grinsen beide und kommen zu meinem Leidwesen auf mich zu.
„Rhett und du, huh? Was soll ich sagen, ich bin einfach ein Verkupplungsgenie", sagt Gemma kichernd zu mir.
Ich erwidere darauf nichts, sondern ringe mir nur ein erzwungenes Lächeln ab. Eigentlich wollte ich mal, dass alle denken, dass ich Rhett date, damit ich meine Ruhe habe. Damals dachte ich noch, dass es keine Bedeutung hat. Damals dachte ich auch noch, dass Ethan nur mit mir gespielt hat. Doch jetzt mit all den neuen Erkenntnissen und meinem Plan, ihn zumindest irgendwie zurück in mein Leben zu bekommen, bin ich mir nicht sicher, ob es das Beste ist, wenn überall rumgeht, dass ich Rhett treffe.
Auf der anderen Seite wird es ihn wohl kaum interessieren und da ich Rhett nicht wirklich date, brauche ich auch ihm gegenüber kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn ich meinen Exfreund versuche dazu zu bewegen, dass er wieder Kontakt mit mir haben will.
„Ich muss gerade etwas fertig machen", sage ich zu den beiden, um sie loszuwerden.
„Tatsächlich?", sagt Gemma und sieht mich mit einem Grinsen an, das mir gar nicht gefällt. „Eben sahst du noch so aus, als wärst du sehr damit beschäftigt den Boss anzuschmachten."
„Äh ... was?", frage ich perplex und spüre, wie Hitze in meine Wangen steigt.
„Kein Sorge", erwidert sie lachend. „Wir erzählen Rhett nichts davon."
„Uh ... danke?", stammle ich überfordert.
Die Tür des Meetingraums geht auf und Ethan kommt heraus. Er würdigt mich keines Blickes, sondern läuft mit großen Schritten wieder zu den Aufzügen. Zum Glück fällt mir ein, dass Ruth und Gemma noch immer neben mir stehen und ich reiße mich zusammen, meine Augen wieder von Ethan zu nehmen. Als ich sie ansehe, weiß ich, dass es zu spät ist. Sie sehen mich mit klimpernden Wimpern an und werfen mir vielsagende Blicke zu.
Wir werden von Mary unterbrochen, die ebenfalls aus dem Meetingraum kommt. Sie verkündet laut für alle Anwesenden, dass es zum Abend hin einen kleinen Umtrunk geben wird, um uns bei Tyrell und im neuen Gebäude willkommen zu heißen.
Das hat mir gerade noch gefehlt nach diesem Tag. Ohne zu wissen warum, macht sich eine dunkle Vorahnung in mir breit, dass dieser Abend wieder mit einer ganzen Menge Herzschmerz verbunden sein wird.
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A/N
Der Sonntag hat als Updatetag gewonnen und wenn nichts dazwischen kommt, werde ich mich bemühen, mindestens immer an diesem Tag zu updaten. Habt noch einen schönen Sonntag ❤️
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