13 | Ein neuer Versuch
GRACE
Das ganze Wochenende habe ich nahezu nur damit gebracht, mich in meinem Zimmer zu verkriechen und eine Packung Taschentücher nach der anderen voll zu heulen.
Jetzt sitze ich wieder im Büro, meine Augen fühlen sich noch immer geschwollen an und nur eine Menge Concealer und Kühlpacks haben mich halbwegs vorzeigbar gemacht.
Selena wirft mir von der anderen Seite des Schreibtisches einen besorgten Blick zu, doch ich lächle sie nur traurig an. Ich habe es noch nicht über mich gebracht, ihr die Geschichte zu erzählen. Ich konnte einfach keine zwei Sätze sprechen, ohne in Tränen auszubrechen. Daher weiß sie nur, dass ich erfahren habe, dass das, was Ethan und mich auseinandergebracht hat, eine Lüge war.
Ethan muss mich so sehr hassen. Kein Wunder, dass er so reagiert hat, die ganzen Sachen, die er gesagt hat, die ich nicht verstanden habe. Doch das Schlimmste ist, er hat jedes Recht, mich zu hassen. Ich tue es ja selbst.
Ich war damals so glücklich, als ich Ethans Haus verlassen habe. Ich war so unglaublich verliebt in ihn und wir hatten an diesem Abend zum ersten Mal miteinander geschlafen. Es war mein erstes Mal, wie alles mit Ethan. Ethan war mein erster Kuss, mein erster Freund, mein erster Sex.
Wie alles mit ihm war es perfekt. Er hat es perfekt werden lassen. Er war süß und fürsorglich, so zärtlich und hat alles getan, damit ich mich gut und sicher fühle.
Da mein Vater nicht erlaubt hat, dass ich bei Ethan über Nacht bleibe, musste ich am Abend noch nach Hause gehen. Eigentlich wollte Ethan mich zu dem kleinen Haus, auf der anderen Seite des Grundstücks bringen, aber weil sein Vater seine Hilfe bei etwas gebraucht hat, bin ich allein gegangen. Normalerweise bin ich immer durch die Hintertür raus, aber die war bereits abgeschlossen, also musste ich vorne über die Straße gehen, wo ich Annalynn in die Arme gelaufen bin.
In einem Moment war ich in meiner glücklichen rosaroten Welt und im nächsten wurde ich knallhart daraus hinausbefördert in eine Realität, die so wehgetan hat, dass ich es kaum ertragen konnte.
Annalynn hat gelacht und mich gefragt, ob Ethan denn schon sein Ziel erreicht hätte und mich im Bett gehabt hätte. Ich habe nicht verstanden, warum sie mich das fragt und woher sie weiß, dass es genau an diesem Abend geschehen ist. Heute weiß ich, dass sie einfach nur ein verdammt gutes oder schlechtes Timing, wie man es nimmt, hatte.
Doch während ich erst nur verwirrt war, hat sie dann ziemlich schnell dafür gesorgt, dass meine schlimmsten Ängste wahr wurden. Nein, es war schlimmer. Ich war immer davon überzeugt, dass er mich irgendwann verlassen würde. Er war zu gut und ich war zu unsicher, um glauben zu können, dass er in mir seine Zukunft sieht.
Aber niemals hätte ich die Grausamkeit, die mir Annalynn offenbart hat für möglich gehalten, dass er das alles geplant hatte und ich nur ein einziger Witz für ihn war.
Nachdem ich die ganze ungeschönte Wahrheit – oder was ich für die Wahrheit damals gehalten habe – erfahren hatte, bin ich nach Hause gerannt und habe meinen Vater angefleht, dass er mich zu meinen Großeltern gehen lässt. Ich war so gebrochen und nur die Vorstellung, Ethan weiter sehen zu müssen, war unerträglich.
Es ist nicht so, dass ich nicht in der Zeit danach häufiger gezweifelt hätte, ob es richtig war, aber dann wiederum war ich zu feige, um mich Ethan und allem zu stellen. Ich hatte dieses Bild vor mir, wie ich vor ihm stehe und er mich auslacht, dafür, dass ich ernsthaft geglaubt habe, dass jemand wie er, sich in jemanden wie mich verlieben könnte.
Nicht, dass Ethan jemals so gewesen wäre, aber nach dem, was ich erfahren hatte, hatte ich keine Ahnung mehr, wer Ethan ist.
Er hat dich geliebt und er war am Boden zerstört, als du weg warst.
Wenn ich nur wieder daran denke, könnte ich heulen.
Außerdem habe ich mir über das Wochenende eine Frage immer wieder gestellt, auf die ich noch immer keine Antwort habe. Konnte ich ihn deshalb nicht richtig hassen, weil ich tief in mir wusste, dass er so etwas nicht tun würde?
Nur, wenn ich das wusste, warum bin ich dann so verdammt dumm gewesen?
Gott, ich habe ihn einfach verlassen. Ich habe ihn sitzen lassen, nachdem wir zum ersten Mal miteinander geschlafen haben und er hat mich danach elf Jahre nicht mehr gesehen, kein Wort mehr von mir gehört, bis ich plötzlich hier vor ihm saß.
Ethan kommt aus seinem Büro und geht in Richtung der Küche. Unsicher sehe ich ihm hinterher. Das ist meine Chance. Ich kann mit ihm sprechen, auch wenn ich nicht weiß, was ich sagen soll.
Das Letzte, was ich will, ist ihm noch mehr Schaden zuzufügen, als ich es schon getan habe.
Aktuell denkt er, dass ich ihn einfach habe sitzen lassen, aber wenn er die Wahrheit erfährt, wird er so verletzt davon sein, was Annalynn getan hat. Und von mir - ein zweites Mal. Denn egal, was sie getan hat, ich bin diejenige, die es sofort geglaubt hat. Ich habe das Schlechteste von ihm gedacht, obwohl er nur das Beste verdient hatte. Er hatte mein Vertrauen verdient und ich habe ihm das Gegenteil gegeben.
Mein Herz schlägt wie verrückt und durch meinen Kopf schießen unendlich viele Gedanken, warum das keine gute Idee ist. Aber es sind alles nur Ausreden. Ausreden, nach denen ich mich gerade sehne, um mich dem nicht stellen zu müssen. Genau wie ich mich damals nicht stellen wollte. Ich weiß nicht, was ich sagen will, aber ich muss es irgendwie besser machen. Ich muss es versuchen.
Wie in Zeitlupe stehe ich auf. Meide es Selena anzusehen und gehe zur Küche. Ethan ist an seinem Handy, während er wartet, dass der Kaffee durchläuft.
Kurz ruht mein Blick auf ihm. Sein Kiefer ist angespannt und er legt seine Stirn in Falten. Was auch immer er liest, scheint ihm nicht zu gefallen. Doch egal was er macht, er sieht einfach so unfassbar gut aus. Sein dunkler Anzug sitzt perfekt und bringt seinen trainierten Oberkörper zur Geltung. Von seinen dunkelbraunen Haaren fällt ihm eine Strähne in die Stirn, was ihn weicher und jungenhafter wirken lässt.
Ich räuspere mich und er sieht auf. „Uhm ... Ethan, hast du vielleicht kurz Zeit?"
„Ja, was kann ich für dich tun?", fragt er mich. Sein geschäftsmäßiger Ton lässt mich zusammenzucken, obwohl es genau die Art ist, wie er auch mit allen anderen spricht. Es ist dämlich. Was erwarte ich? Vor ihm steht die Person, die ihn in seinen Augen ohne Grund verlassen hat.
„Können wir in deinem Büro reden?"
Wenn er es seltsam findet, lässt er es sich nicht anmerken. Er nickt und greift nach seiner Tasse, die mittlerweile von der schwarzen Flüssigkeit gefüllt ist. Meine Nervosität steigt um ein Vielfaches an. Gleich werde ich meinen ganzen Mut zusammennehmen müssen, um ein Gespräch zu führen, vor dem ich vor elf Jahren weggelaufen bin. Ich habe bloß keine Ahnung, wie ich das tun soll, ohne ihn weiter zu verletzten.
Ethan schließt seine Bürotür hinter mir und während er zu seinem Schreibtisch läuft, fragt er: „Über was willst du reden?"
Auch, wenn mir meine Nerven drohen durchzugehen, reiße ich mich zusammen. „Du hast letzte Woche gesagt, dass du denkst, dass wir reden sollten."
Er bleibt ruckartig stehen und dreht sich zu mir um. Er wirkt misstrauisch, als würde er sich fragen, ob ich das wirklich so meine.
„Ja ...", erwidert er zögerlich.
Der Kloß in meinem Hals wird immer größer und meine Stimme kratzt in meinem Rachen. „Bist du ... bist du noch immer dazu bereit?"
„Bist du es denn?"
Ich nicke und sehe ihn gespannt an, was er tun wird. Zu meiner Überraschung macht er keine Anstalten, sich hinter seinen Schreibtisch zu setzen, sondern kommt wieder dahinter hervor. Er zeigt auf die kleine Sitzecke, in der ein runder Tisch und vier Stühle stehen. Ich bin erleichtert über diesen Vorschlag. Es gibt mir das Gefühl, dass ich hier nicht gerade mit meinem Boss spreche, sondern mit dem privaten Ethan.
Ich rolle über mich selbst die Augen. Es ist nur ein anderer Sitzplatz. Mehr nicht. Er ist trotzdem mein Boss und ich habe keine Ahnung, wie er sich privat verhält.
Nachdem wir uns beide gesetzt haben, sagt er: „Ich muss zugeben, dass es mich überrascht, dass du dieses Gespräch führen willst. Beim letzten Mal sahst du so aus, als könntest du dir nichts Schlimmeres vorstellen."
„Tut mir leid. Ich ... Es ist schwierig für mich."
„Okay ... Ich kann auch nicht gerade behaupten, dass es einfach für mich ist. Wirst du mir jetzt die Frage beantworten, warum du dich nie gemeldet hast?"
Oh Gott, wie soll ich ihm das sagen?
„I-ich dachte nicht, dass d-dich das interessiert", stottere ich hervor.
Seine Augenbrauen schießen nach oben und er sieht mich fassungslos an, wobei ich merke, wie unglaublich falsch das rübergekommen sein muss. „Du warst meine Freundin und du dachtest, es interessiert mich nicht, wenn du von einem auf den anderen Tag plötzlich weg bist?"
Seine Freundin ... Nicht eine unbedeutende Affäre, sondern seine Freundin. Die Art, wie er es sagt, löst ein schmerzhaftes Ziehen in meiner Brust aus und sein verletzter Ausdruck tut sein übriges. Auch wenn ich von Annalynn gehört habe, wie es ihm ging, trifft es mich trotzdem unvorbereitet, ihn so zu sehen.
„Ich ... Es tut mir leid."
„Ja? Dann erklär es mir!"
Gott, wie konnte dieses Gespräch nur so schnell so emotional werden? So hatte ich das nicht geplant. Ich wollte mit ihm sprechen, es ihm ruhig erklären und mich nicht aufführen wie ein stotterndes Wrack, das keinen geraden Satz herausbekommt.
„Ich ... Ich dachte, du ... Ich habe dich so vermisst und–" Ich breche ab, weil ich befürchte, dass ich bei nur einem weiteren Wort anfange zu heulen.
Ethan sieht aus, als würde er überlegen, ob ich ihn verarschen will. Ich kann es ihm nicht einmal verübeln. „Du hast mich vermisst? Und deshalb hast du dich nie gemeldet?"
Ich schüttle nur den Kopf, noch immer stumm mit den Tränen kämpfend.
Frust legt sich auf sein Gesicht und er sagt wütend: „Was denkst du, wie ich mich gefühlt habe, als ich auf dich an unserem Treffpunkt gewartet habe, aber anstelle von dir dein Vater aufgetaucht ist? Von ihm zu hören, dass du weg bist und er mir von dir ausrichten soll, dass es vorbei ist."
„Was?", frage ich perplex, doch er geht gar nicht darauf ein.
„Oder als ich dich in dem Brief angefleht habe wenigstens noch einmal mit mir zu reden und es wieder dein Vater war, der mir mitteilen sollte, dass du nicht mehr mit mir sprechen willst und ich dich in Ruhe lassen soll. Wie denkst du, hat sich das für mich angefühlt?"
„Welcher B–"
„Ich beantworte die Frage für dich, es hat sich verdammt beschissen angefühlt. Also Grace, sag mir, wie passt das zusammen? Weil ich habe keine Ahnung."
Die erste Träne kullert über meine Wange. Doch sie ist nur ein Vorbote von einem ganzen Wasserfall, der da raus will. Ethan erwartet eine Antwort von mir, aber ich weiß nicht, was ich sagen sollen. Ich wusste nicht, dass mein Vater mit ihm gesprochen hat. Auch von diesem Brief höre ich zum ersten Mal.
Er hat mir wirklich einen Brief geschrieben? Aber warum habe ich ihn nie bekommen? Vielleicht hätte das alles geändert, vielleicht hätten wir dann noch einmal gesprochen und vielleicht wäre dann damals schon die Wahrheit ans Licht gekommen. Aber da liegt das Problem bereits, ich hätte damals mit ihm sprechen müssen. Egal, ob es einen Brief gab oder nicht. Aber ich bin einfach nur geflohen und habe mich in all meinen Befürchtungen bestätigt gefühlt.
Frustriert seufzt Ethan auf, als keine Antwort von mir kommt. „Ist das das Gespräch, das du führen wolltest? Wenn ja, verstehe ich es nicht."
Ich schüttle den Kopf. Noch immer mit den Tränen kämpfend. Ich kann nicht anfangen zu heulen. Ich muss gleich wieder da draußen sitzen, aber am wenigsten will ich, dass es Ethan sieht und noch das Gefühl hat, er müsse mich trösten. Ethan sieht mittlerweile einfach nur noch resigniert aus. Und enttäuscht, was das Schlimmste ist.
„Tut mir leid", presse ich hervor. „Ich ... Ich sollte gehen."
Ich springe von meinem Stuhl auf und Ethan sieht mich nur ausdruckslos an. Ein letztes Mal treffen sich unsere Augen, bevor ich fluchtartig den Raum verlasse.
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