XIV
Nachdem Rezo gegangen war, musste Joon wohl oder übel allein auf Vince warten. Die ganze Zeit über schossen ihm seine Worte durch den Kopf, er hatte ja so verdammt Recht. Doch was nützten ihm seine Fähigkeiten, wenn er vielleicht nur ein Klotz am Bein war? Was nützte ihm seine Existenz als Rider, wenn er es noch nicht einmal schaffte, irgendetwas Großes zu vollbringen? Was nützte ihm überhaupt noch irgendwas?
Vince hatte gut reden, er war wenigstens etwas Besonderes. Er war jemand, der schon früh mit Magie und dergleichen konfrontiert worden war, ohne es womöglich zu wollen. Er war jemand, der sein altes Leben beenden musste, um der gesamten Menschheit zu dienen. Er war jemand, der einen Auftrag hatte.
Und genau das machte den Koreaner sehr wütend. Und traurig. Und eifersüchtig, das ganze Programm.
Seitdem er diese Fähigkeiten erhalten hatte, hatte er stets geglaubt, dass man endlich sein wahres Potenzial erkannt hatte - Fehlanzeige. Trotz allem, seiner nächtelangen Kodex - Studien und der Wandlung fühlte er sich mies. Nutzlos, das dritte Rad am Wagen.
Auf einmal wollte Joon nichts lieber als wieder normal zu sein, ohne Superkräfte. Keine langweiligen Fähigkeiten, mit denen er nur Pflanzen wachsen lassen oder ein Beet umgraben konnte...stinknormal. Wenn's sein musste, sterbenslangweilig.
Groot hätte solche Kräfte niemals unterstützt, da war er sich sicher. Er konnte ja noch nicht einmal seinen toten Freund ins Leben zurück holen...
Joon langte nach dem Wälzer unter seiner Matratze und schlug ihn auf, blätterte fieberhaft Seite für Seite um. Geschichte der Magie, Die verlorene Stadt, Das namenlose Böse...
Jedoch nichts, was ihm dabei helfen konnte, langweilig zu werden.
Das abrupte Zuschlagen der Tür ließ Joon hektisch aufspringen und in den Flur rennen. Vince stand dort mit geknickter Miene und schien gar nicht zu realisieren, dass jemand ihn anblickte. Erst, als der Koreaner sich hörbar räusperte, schaute er auf.
„Ach, du bist's!“, meinte Vince kurz angebunden und schlurfte an ihm vorbei in die Küche, machte sich einen Kaffee. Das sonore Brummen der Maschine machte ihn noch schläfriger als ohnehin schon.
Obwohl Joon nicht wusste, wo sein Freund die ganze Zeit gewesen war, war ihm eine Sache klar:
Vince trank sonst nie Kaffee - außer, wenn etwas passiert war, worüber er nicht reden wollte!
Und das war es ganz bestimmt.
Er folgte den Bewegungen des Produzenten mit den Augen. Wie er die Tasse im selben Moment von der Maschine nahm, sie zum Mund führte und in großen Zügen trank. Kein Absetzen. Dann stellte er sie auf den Tisch und lehnte sich gegen die Spüle, wischte an seiner Brille herum.
Das alles in bester Slow Motion - Qualität.
Etwas stimmte nicht. Das war eindeutig.
Um ihn nicht gleich zu überrumpeln, sagte Joon: „Rezo war grad bei mir und...wir haben geredet, weißt du? So das Übliche, nichts weiter...“
Das reichte, um Vince aus seinem benebelten Zustand zu wecken.
„DU HAST WAS?“, rief er und starrte sein Gegenüber ungläubig an. Jegliche Farbe war ihm aus dem Gesicht gewichen und glich nun mehr einer Maske als dem Familienvater und Musiker.
Der Koreaner murmelte kleinlaut: „Wir haben geredet...nichts Besonderes...“
Er merkte jedoch, dass es nichts bringen würde, wenn er sich das Blaue vom Himmel log. Also musste er die Wahrheit sagen.
Schließlich stand er einem jahrtausendealten Wesen gegenüber, das bestimmt auch noch Gedanken lesen konnte.
„Ähh...wie soll ich sagen - ich...ich habe ihm von meinen Kräften erzählt und da...“
Joon brauchte nicht weiter zu reden. Vince' Gesichtsausdruck wechselte von kreidebleich zu scharlachrot, seine Schultern bebten. Er stieß sich von der Spüle ab und trat bedrohlich auf den Freund zu, seine Faust ballte sich.
Bitte raste jetzt nicht aus...
Der Koreaner hob abwehrend die Arme - was leider nicht verhindern konnte, dass seine Fähigkeiten aktiviert wurden. In Sekundenschnelle sprossen Wurzelstränge aus dem Küchenboden und wickelten sich um die Beine des Produzenten, er knallte der Länge nach hin.
Joon blickte auf seine Hände, die voller Erdkrümel waren und seine Finger schwarz verfärbt hatten. Entsetzt, was er soeben getan hatte, ließ er die Arme wieder sinken - worauf die Wurzeln verschwanden, als hätten sie nie existiert.
Was zur Hölle...
Er kniete sich hin und zog seinen Kumpel auf die Beine. Seine Gesichtsfarbe war zum Glück wieder normal und die Nerd - Brille hing ihm schief auf der Nase.
Nachdem er Luft geholt hatte, brach der Vater sein Schweigen. Was ihn eben noch hatte müde wirken lassen, war von einer Sekunde auf die andere verflogen.
„Joon, du darfst nichts über deine Fähigkeiten preisgeben, verstanden? Zumindest Außenstehenden nicht, es ist zu riskant...Rezo hätte auch ein Parasit sein können, dessen Körper er sich angeeignet hat, um dich das nächste Mal zu besetzen! Verstehst du, mit diesen Wesen ist nicht zu spaßen - es ist nur zu deinem Schutz...“
Trotzig verschränkte Joon die Arme vor der Brust und blickte Vince mit stechenden Augen an.
Was nützte diesen Parasiten sein Körper, wenn er seine Kräfte nicht benötigte? Und was faselte er da von Schutz, wenn Vince ihn nicht schon vorher gerettet haben könnte?
Zorn wuchs in ihm, unberechenbar, bereit, dem Produzenten ordentlich eine verbale Ohrfeige zu verpassen.
Und genau das tat er im nächsten Moment.
Er konnte es nicht steuern, es sprudelte wie ein Wasserfall hervor und sein stetes Rauschen übertönte sogar die Geräusche der Nachbarn.
„ACH JA? DANN SAG ICH DIR JETZT MAL WAS: DU HAST ABSOLUT KEINE AHNUNG, WIE'S MIR GEHT - ICH WILL KEIN HELD MEHR SEIN, MEINE FÄHIGKEITEN SIND FÜR DEN A****! GENAU, DA HAST DU'S...WAS NÜTZT ES MIR ALSO, WENN ICH SCHWEIGE? WAS NÜTZT ES MIR, WENN MEIN GANZES LEBEN AUF DEN KOPF GESTELLT WIRD UND MEIN BESTER FREUND VOR DIE HUNDE GEHT? WAS NÜTZT ES MIR, WENN...WENN DU GROßE TÖNE SPUCKST, WAS?“
Jetzt war er puterrot, er keuchte vor Anstrengung und Schweiß lief ihm über die Stirn.
Vince hörte stumm zu, sagte keinen Mucks. Er war zu schockiert, diese Worte zu hören. Das war Joon jedoch egal.
Hastig wischte er sich durch das Gesicht, bevor er zu einem weiteren Redeschwall ansetzte.
„UND NOCH EINE SACHE: WO BIST DU GEWESEN, ALS ICH DEINE HILFE BITTER NÖTIG GEHABT HÄTTE? WO BIST DU GEWESEN, ALS JULIEN DIESE...MACHT IM KÖRPER HATTE, DIE IHM JEGLICHE GEFÜHLE GENOMMEN HAT? SAG, WO BIST DU GEWESEN, ALS -...“
Seine Stimme brach, Tränen schossen ihm in die Augen. Die Erwähnung seines Namens trieb ihn zum Heulen, machte ihn schwach. Er musste stark sein.
Vince seufzte und beruhigte seinen Heulkrampf, indem er ihm die Hand auf die Schulter legte:
„Joon, ich...ich war zurzeit mit anderen Dingen beschäftigt, musst du wissen! Ich...es bahnt sich etwas an, Joon. Und das schon sehr bald, wenn ich nicht handle - wir nicht handeln. Ich verstehe, dass du deine Fähigkeiten vielleicht nutzlos findest, da du in der Vergangenheit einige Niederlagen einstecken musstest...doch irgendwann wirst du sie brauchen, darauf gebe ich dir mein Ehrenwort! Also, kann ich mich auf dich verlassen?“
Joon war hin und her gerissen. Die eine Seite wollte weiter im Kodex nach einem Zauber finden, der ihm seine Kräfte nahm und für den Rest seines Lebens normal werden ließ. Die andere Seite wollte Vince jedoch Glauben schenken...er hasste Zwickmühlen!
Er reagierte nicht. Sondern drehte sich auf dem Absatz um und rannte in sein Schlafzimmer, knallte die Tür hinter sich zu. Sperrte ab.
Sicher war sicher.
Joon wusste genau, warum er seine Fähigkeiten aufgeben wollte. Er wusste, warum er nutzlos war, für jeden.
Er hätte sich niemals von seinen Wünschen leiten lassen sollen. Er hätte es so viel einfacher haben können - dann wäre Julien vielleicht noch am leben.
Er hätte nie auf Groot hören sollen.
Gerade als er sich auf sein Bett schmeißen und endlich schlafen wollte - draußen graute bereits der nächste Morgen - sprang ihm der noch aufgeschlagene Kodex ins Auge. Joon runzelte verwirrt die Stirn, er hätte schwören können, dass er den Wälzer gerade zugeklappt hatte - und vor allem hatte er nicht diese Seite gelesen.
Neugierig beugte er sich über das riesige Buch vor ihm, musterte die altmodischen Schriftzeichen auf dem vergilbten Pergament. Die mysteriösen, runenartigen Buchstaben schienen in Latein verfasst zu sein, denn Joon konnte kein einziges Wort entziffern.
Die Lettern glühten unter seiner Berührung plötzlich rot auf und begannen vor seinen Augen zu flackern, erst langsam, dann schneller. Und mit diesem gespenstischen Flackern erhob sich die vertraute, grollende Stimme des Parasiten, den Vince gebannt hatte...
Endlich bin ich frei...vielen Dank, RIDER!
Der Raum verdunkelte sich, ein greller Blitz zuckte und ein ohrenbetäubender Schrei ertönte aus dem Kodex - die aufgeschlagene Seite färbte sich rabenschwarz. Tentakel schossen aus dem Nichts empor und tasteten offenbar nach einem geeigneten Weg in die Freiheit...was sich als nicht weiter schwer heraus stellen sollte.
Joon spürte wieder den heißen, fauligen Atem an seiner Wange, während die unförmige Kreatur zischte: „Ich weiß gar nicht, wie SEHR ich dir dafür danken soll...und, willst du immer noch deine Fähigkeiten abgeben?“
Bevor er ahnte, worauf das Wesen wirklich hinaus wollte, war er in seine Falle getappt. Seine Kräfte waren verschwunden! Im Tausch gegen die Freilassung dieses Biestes!
Was war er nur für ein Idiot?
Joon war wie gelähmt, er konnte nichts erwidern geschweige denn weglaufen.
„Ich muss schon sagen, ziemlich beeindruckend...deine Fähigkeiten, meine ich! Mein Herr wird SEHR ERFREUT sein - ihm nützt es wenigstens mehr als dir, oder? Wie dem auch sei, es war SCHÖN, dich gekannt zu haben...“
Der Parasit stieß ein gruseliges Lachen aus, das eher an ein verzerrtes Hühnergackern erinnerte und war im Bruchteil einer Sekunde mit dem Blitz wie vom Erdboden verschluckt.
Das Zimmer wurde wieder hell, der Kodex fiel geschlagen auf den Teppich. Seine Ränder waren verbrannt, selbst die Schrift war nicht mehr zu sehen.
Der Koreaner zitterte am ganzen Leib, schlagartig wurde ihm bewusst, was er getan hatte.
Er hatte einen gefährlichen Dämon auf die Welt losgelassen, der jetzt seine Kräfte besaß und somit womöglich unbesiegbar war...wie sollte er das bloß den anderen beibringen?
Und vor allem Vince...er würde mehr als wütend sein - und alles nur, weil er kein Rider mehr sein wollte!
Joon wurde, während er darüber sich den Kopf zerbrach, von einer bleiernen Müdigkeit überrollt, die ihn - wortwörtlich - in die Knie zwang. Er brauchte nun unbedingt eine gehörige Portion Schlaf, um den Rest musste er sich später kümmern.
Hoffentlich war der Parasit noch nicht so aufgebracht, dass er die ganze Stadt in Schutt und Asche legen würde.
Zu früh gefreut.
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