Joon war müde. Und gereizt. Und noch einige andere Sachen, die er vor Vince lieber nicht preis geben wollte. Gerade saß er mit dem Produzenten und Vater beim zweiten Frühstück, was nur aus spärlich belegter, kalter Pizza und Orangensaft bestand. Der Koreaner seufzte und bemühte sich, seinem Gegenüber nicht in die Augen zu schauen, während er die Salami von dem essbaren Dreieck pulte. Dann stopfte er sie sich, in einem Akt der Gier, ganz in den Mund, Spucke tropfte von seinen Lippen. Vince fragte gar nicht erst, sondern trank in großen Zügen sein Glas leer und stellte es zurück auf den Tisch. Seufzend erhob er sich und ging in sein Studio gleich neben der Küche, kurz darauf hörte Joon die Tür zu fallen.

Er ist genauso traurig wie ich, schoss es ihm durch die vernebelten Gedanken und fuhr sich über die leicht blondierten, kurzen Haare. Er ist nur zu stark, um es zu zeigen.

Die letzten Wochen hatten ihn, der er sonst so verrückt war, völlig aus der Bahn geworfen. Julien Bam war tot. Und das für immer. Die Zeit ließ sich leider Gottes nicht zurück drehen.

Diesen ganzen Aufwand, nur um Arya Lee vor einer tödlichen Krankheit zu bewahren, hätte man sich von vornherein sparen können. Seitdem Joon die Nachricht von Jays Duplikat erhalten und sich gemeinsam mit seinem besten Freund und den beiden Geeks nach Peru aufgemacht hatte, war sein Leben anders verlaufen. Er wusste nicht, wie er anders definieren sollte, nur eins wusste er: Genau wie Julien selbst ein Superheld gewesen war, besaß er jetzt ebenfalls außergewöhnliche Fähigkeiten. Joon Kim, der Rider.

Doch so richtig zufrieden war er noch nicht. Zwar hatte er es vor Vince bis jetzt gründlich verschwiegen, aber der unerwartete Tod Juliens zermürbte ihm die Seele. Fraß sein Herz Stück für Stück auf, bis nur noch ein winziger Rest an lieblichen Gefühlen übrig sein und Platz für endlose Wut machen würde.
Wut auf Arya, Wut auf Jay. Vor allem jedoch auf sich selbst.

Er hätte es verhindern können, den Parasiten eigenhändig entfernen sollen. Stattdessen hatte dieser Idiot von Jay Samuelz ihn höchstpersönlich abkratzen lassen, sodass Joon nichts mehr tun konnte. Jedenfalls war ihm nichts passiert, war mit heiler Haut gerade noch davon gekommen. Und eigentlich hatte er immer geglaubt, dass Rider unsterblich seien. Anscheinend sind es doch nur Menschen wie du und ich.

Er schluckte den letzten Bissen mühevoll herunter und schlurfte dann zurück in sein Schlafzimmer, was er sich großzügig mit Julien geteilt hatte. Normalerweise war das Laken, wie fast an jedem stinknormalen Morgen, unordentlich aufgewühlt und der Asiate hockte bereits am Schreibtisch. Nichts dergleichen fand heute statt und würde auch nie mehr statt finden.

Joon stöhnte gequält und sah sich im Raum um, es schien wie ein Hangover: Überall auf dem blank polierten Boden lagen aufgerissene Pizza - Schachteln, Sushi - Boxen, Chips - Tüten, deren Krümel Staub ansetzten. Mit Juliens Tod waren auch die ungezügelten Fress - Attacken gekommen, denen der Koreaner bis jetzt keinen Einhalt geboten hatte. Die am Ende des Tages natürlich alle in der Toilette gelandet waren.

Vince war immer noch ahnungslos, weder wusste er über seine Kräfte noch über die Rebellion, die die ganze Zeit in Joons Magen geschah. Zu gern hätte er ihm davon erzählt, doch sein Gewissen hatte andere Pläne mit ihm. Er war fest entschlossen, Julien ins Leben zurück zu holen.

In Sachen Geisterbeschwörung kannte er sich bereits ein wenig aus. Da das Portal an seiner Tür - was in einigen von den Hey Ju - Videos zum Ausdruck gebracht wurde - wirklich existierte, hatte es Joon dementsprechend leicht gehabt. Kurzerhand hatte er sich nämlich den Superhelden - Kodex aus Aryas Wohnung gemopst und war mit dem Wälzer die ganze Nacht wach geblieben. Innerhalb kürzester Zeit hatte er einen Weg gefunden, wie er seine Kräfte kontrollieren und zu seinem eigenen Vorteil nutzen konnte. Er hatte verbissen alle Ratschläge befolgt, die ihm das Buch offenbarte und somit binnen drei Tagen die Wandlung eigenständig durch geführt. Diese war nämlich laut dem Kodex das Ritual, welches einem angehenden Rider seine Fähigkeiten verleihen konnte. Warum er sie bereits vorher erhalten hatte, wusste Joon nicht. Selbst Groot, den er neulich in Peru kennen gelernt und der ihn vor dem Drachen - Parasiten beschützt hatte, war nicht mehr aufgetaucht.

Jedenfalls war der Koreaner zielstrebig genug, um seinen Freund wieder unter den Lebenden weilen zu lassen. Dafür musste er jedoch erstmal das Chaos beseitigen, was im nächsten Augenblick erledigt war. Dank atemberaubender Geschwindigkeit à la Flash kam Joon mühelos nach A und B, ohne einen Finger zu rühren. Gar einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Echt praktisch, wenn man Superheld war.

Joon schob den mit japanischen Malereien bestickten Teppich zur Seite, worunter ein sorgfältig gezeichnetes Pentagramm zum Vorschein kam. Die Urne mit der Asche seines Freundes war auch schon bereit gestellt.
Wenn schon Tote beschwören, dann richtig.

Vince gähnte und stützte den Kopf gelangweilt in die Hände, während der Upload des neuen Videos ewig lange dauerte. Seit Juliens Überreste beerdigt worden waren und er sich selbst der stillen Trauer gewidmet hatte, war der Produzent sich immer mehr über seine wahre Bestimmung im Klaren. Seinen Auftrag, den er um keinen Preis versemmeln durfte, zum Wohle der Menschheit. Dabei war der Koreaner selbst schon eine richtige Aufgabe, ihn zu beschützen. Vince wusste, dass er sein Geheimnis irgendwann preis geben musste, ob er wollte oder nicht.