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Die Fahrt zurück zur Stadtmitte kam mir wie eine gefühlte Ewigkeit vor, innerhalb kürzester Zeit war die Sicht aus dem Zugfenster von drückender Schwärze verdeckt. Ich hatte mir die Kapuze meines Sweaters tief ins Gesicht gezogen, zum zweiten Mal fühlte ich mich wie Alija. Ausgestoßen, allein. Schüchtern, weil ich nicht mehr wusste, auf wen ich noch bauen konnte...sollte. Ich war froh, als der Schaffner die Endstation ankündigte und stolperte Hals über Kopf aus der Bahn, einige Passagiere tuschelten miteinander. „Ist das nicht dieser coole Youtuber, der die Filmvideos macht?“, schnappte ich auf und ging rasch weiter, die Stimmen hingen mir nach. „Ist der nicht immer mit Arya Lee unterwegs, meinst du, ich kann ihn um ein Autogramm bitten?“ „LASST MICH DOCH EINFACH ALLE IN RUHE, ICH HABE GENUG PROBLEME, VERSTANDEN?“, hätte ich am liebsten gebrüllt, unterließ es jedoch und stürmte Richtung Spree. Wenn ich mein Leben beenden wollte, dann hier und jetzt.
Der bekannte Schmerz kam aus dem Nichts, stärker als je zuvor. Nein, nein, nein. Er wollte sich etwas antun, er wollte...Suizid begehen und alles nur wegen mir. Er läuft zur Spree, wo es nach wenigen Metern unendlich tief wird. Er bleibt stehen, blickt noch ein allerletztes Mal zurück. Springt und sinkt immer weiter auf den Grund, sein Atem versagt und seine Klamotten werden völlig durchnässt sein. Seine Lippen blau und seine Augen glasig, ich kann nichts mehr tun... Das durfte nicht passieren, nicht wenn er der Einzige neben Ju war, den ich noch hatte. „Arya, was ist los? Darf ich rein kommen?“, hallte seine Stimme von der anderen Seite der Tür, genauso in Sorge. Ich schaltete meine Ohren auf Durchzug und riss das Fenster auf. Böiger, kalter Wind peitschte mir entgegen und mit einem Satz löste ich mich vom Sims, befand mich schließlich in der Luft. Hoffentlich war es noch nicht zu spät...
Willst du das wirklich? Du tust ihm und deinen anderen Freunden nur noch mehr weh, noch kannst du dich weigern!, zischte es in meinem Kopf, ich biss mir auf die Lippe. Ich hatte keine Freunde, ich hatte niemanden mehr. Mein bester Freund mochte mich nicht mehr, da er ja so toll war und kein Weichei brauchte. Ju unterstützte ihn und die Noobs...mir war es so was von egal, was sie dachten. Alles war mir egal, ich würde es jetzt endlich hinter mich bringen. Kurz und schmerzlos, meine Existenz würde für immer vom Angesicht der Erde verschwunden sein. Niemand brauchte mich mehr, also konnte ich auch ins Gras beißen. Schweren Herzens sah ich mich noch einmal um und glaubte, einen Schatten zu erblicken, der direkt auf mich zu kam...Natürlich musste es Einbildung sein, wer sollte schon auf die Idee kommen, mein Vorhaben zu durchkreuzen? Ich holte tief Luft und anschließend schlug das Wasser über mir zusammen, bereit mich zu verschlingen. Ich machte mir keine Mühe, an die Oberfläche zu gelangen, ich wollte es so. Das kühle Nass tränkte meine Kleidung und ich sank immer weiter auf den matschigen Grund hinab, lächelnd schloss ich die Augen. I'm not worth for this life anymore.
Pfeilschnell raste ich über den Horizont hinunter zum Fluss, wo das Wasser ruhig seine Kreise zog. Shit, war er etwa schon... Das durfte nicht sein, nicht er auch noch. Seine Energie war fast auf dem Nullpunkt angelangt, dennoch konnte ich nicht länger hilflos zusehen. Ich hob meine Hand und konzentrierte mich, verband meine Aura mit dem Gewässer. Gib ihn frei, sandte ich den Gedanken in die Wellen, woraufhin sie erst langsam, dann schneller zu blubbern begannen. Ein leises Rauschen ertönte und der Bach leerte sich wie eine Badewanne, der man den Stöpsel gezogen hatte. Auf dem schlammigen Boden lag ein vollkommen regloser und durchweichter Körper, ich konnte den Blick nicht abwenden. Er hatte es aus purer Verzweiflung getan, nur weil er dachte, ich würde ihn hassen... „Jay!“, wimmerte ich und nahm seine kalten Finger in meine, es war zu spät. „Es tut mir so leid, ich hätte auf dich hören sollen! Ich habe nur an mich gedacht, ich bin ein wirklich mieser Freund...die Wahrheit ist, dass meine Kräfte schon damals Chaos ausgelöst haben, nur weil ich mich nicht mit dem zufrieden gegeben habe, was ich erhalten hatte. Du weißt doch, diese ganzen Klischees in Marvel - Filmen...wie soll ich ohne dich weiter leben, was wird aus Film Geek? Aber ich habe es verdient, dass du dir meinetwegen das Leben genommen hast, ich bin so dumm...“ Ein Heulkrampf schüttelte mich und verbarg meine Tränen im weichen Stoff seiner Jacke, nie mehr würde ich seine Stimme oder seine Scherze hören...und vor allem würde ich nur noch allein vor der Kamera stehen. Irgendwann wischte ich mir hastig über die Augen und nahm seinen Körper in die Arme, ein Grab musste her. Ich lockerte die Erde und schaufelte eine Grube, gerade groß genug für einen Menschen. Ich bettete ihn dort hinein, seine Lippen waren zu einem leichten Lächeln verzogen, während die Totenstarre einsetzte. Bevor ich das Loch wieder zu machte, sprach ich ein altes, persisches Gebet für die Verstorbenen, die Worte kamen nur schwer aus meinem Mund. „Lebe wohl, Jay Samuelz!“, beendete ich die kleine Rede und trottete zur WG, die von nun an nur noch mein Zuhause war. Ich ahnte nicht, was wenige Minuten später hinter meinem Rücken geschah...
Eine wohlige Wärme breitete sich in mir aus, wanderte bis zu meinen Fingerspitzen und erfüllte mich mit neuem Leben. Mein ganzer Körper begann zu glühen und ich wurde aus der ewigen Dunkelheit ins Licht gezogen, hustend landete ich auf dem feuchten Gras. Was war passiert? Bilder durchzuckten meine Gedanken, der See, mein Selbstmord...und er. Hatte Arya mich gerettet oder war ich es selbst gewesen, hatte seine Art so etwas wie Selbstheilungskräfte wie Werwölfe? Hatten sich gerade erst meine bisher unentdeckten Fähigkeiten gezeigt und musste ich auch ein Pfand einlösen? Fest entschlossen erhob ich mich und stürmte ihm hinterher, kurz vor der Wohnung stoppte ich. Er hielt mich immer noch für tot, nicht dass er sich überrumpelt fühlte... Quatsch mit Soße, ich würde es schon hinkriegen. Das dachte ich zumindest, bevor ein Schatten aus der Finsternis stürzte und mir einen Sack über den Kopf stülpte, Schreien konnte ich nicht mehr. Vom Regen in die Traufe, das wird ja immer besser.
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