IX
Ich war nutzlos für ihn, für sie beide. Er hatte sich geirrt, ich war nicht wie er, ich war...normal. Wenn er wirklich glaubte, dass ich ihnen helfen konnte, hatte er sich gewaltig geschnitten, es war so. Ich war einfach nur Jay Samuelz, der Rapper, der noch nie richtig etwas zustande gebracht hatte, für alle ein Klotz am Bein. Unsere Videos dienten mir als heimliche Zuflucht vor der spöttischen Realität, ich konnte sein, was ich wollte. Wer ich wollte, mal Agent, Batman oder auch Alija...sie alle gaben mir ein Gesicht, mit dem ich mich identifizieren konnte. Mein wahres Ich ertrug seelische Schmerzen und es kümmerte niemanden, wie Dreck. Aber irgendeinen Dummen musste es ja in der Welt geben.
„Mensch Bro, hör auf, so etwas zu denken!", murmelte Arya und zog mich in eine Umarmung, fast geräuschlos war er neben mir aufgetaucht. „Du weißt genau, dass wir dich genauso nehmen, wie du bist!" Das ist nicht wahr, er versucht nur, seine Enttäuschung zu verbergen. Zeig ihm, was du wirklich fühlst! Diesmal hörte ich auf mein Gewissen und schob seinen Arm unsanft weg: „Ach ja, glaubst du, das wäre so einfach? Dann erkläre mir doch, warum du dich so wenig um mich kümmerst, obwohl du willst, dass ich zu euch gehöre! Mein ganzes Leben lang bin ich mit einer eiskalten Lüge herum gelaufen und werde jetzt damit konfrontiert, als wäre es das Normalste auf der Welt! Arya Lee, der Egoist und Jay Samuelz, der Idiot von Film Geek, ist es das, was du willst? Ich habe keine Superkräfte, ich bin kein Held, findet euch damit ab...aber vor allem wirst du dich nie damit abfinden, mich geliebt zu haben, merk dir das! Du hättest mich gleich sterben lassen sollen, es wäre eh besser gewesen!"
Schockiert stand ich da und ließ jede seiner Anschuldigungen über mich ergehen, ich verdiente es. Ich glaubte, mit meinen Fähigkeiten etwas Besonderes zu sein, dabei hatte ich ja gesehen, wozu das geführt hatte. Ich war ein echt schlechter Freund, wenn ich meinem Bro noch nicht mal zur Seite stehen konnte und tatenlos zusah, wie er sich quälte... „Jay, ich liebe dich und würde niemals zulassen, dass dir irgendetwas zustößt...", versuchte ich ihn zu bändigen, er zeigte keine Reaktion: „Was soll das alles? Erst sagst du es mir und dann lässt du mich einfach hängen? Nein Arya, so habe ich nicht gewettet! Warum musstest du dich auch in mein Leben einschleichen, wo doch alles so gut war...und dann kommst du daher und zerstörst es! All die Jahre habe ich über unsere Beziehung zu YouTube nachgedacht, für dich zählt nur der Ruhm! Du lechzt nach Bewunderung, denkst wohl, du könntest als Mr. Superhirn auftrumpfen, zu dem absolut jeder auf schaut! Mich behandelst du tagelang wie Dreck, ich bin ja nur ein normaler Mensch, der nichts besseres zu tun hat als sich ständig Gedanken über unsere Freundschaft zu machen...herzlichen Glückwunsch, jetzt hast du, was du wolltest!" Ich unterbrach ihn nicht, hörte jedoch nur mit halbem Ohr zu. Er war überzeugt von seiner Meinung und nichts konnte ihn mehr umstimmen. Geknickt sah ich zu, wie er seine Jacke nahm und mit einem lauten Knall die Tür ins Schloss fiel. Schande über mich.
Zum wiederholten Male flüchtete ich aus der Wohnung bis zum Bahnhof, von dort aus nahm ich den Zug nach Prenzlau. Einige Passanten, die mich vom Netz her kannten, folgten mir mit ihren Blicken und schossen Fotos. Youtuber in freier Wildbahn, lächerlich. Wir waren auch nur Menschen, die durch Zufall ihren Traum verwirklicht hatten und berühmt geworden waren, nichts weiter. Wir waren keine Tiere, die man anglotzen konnte, bis sie irgendetwas Süßes machten, fast niemand schien das zu begreifen. Jedoch fühlte ich mich ohne jegliche Bezugsperson verletzlich, angreifbar. Und doch...was bildete sich dieser Typ auch ein? Da mein Dasein eine ungewollte 360° Drehung vollführt hatte, aus der ich bestimmt nie mehr raus finden würde, gab es momentan nur zwei Personen, mit denen ich reden konnte.
Verdammt, ich war drauf und dran, unsere Freundschaft zu gefährden! Abermals brandete Wut in mir auf und trat als kleine Feuerzungen zwischen meinen geballten Fäusten bis hoch zu meinen Oberarmen hervor, ich spürte keinen Schmerz. Meine Halsschlagader begann zu pulsieren, als ich vor lauter Aufregung die Couch quer durchs Wohnzimmer beförderte und sie gegen die Wand donnerte, ein tolles Gefühl. In diesem Augenblick kam der Asiate in den Raum und duckte sich rechtzeitig, bevor das Möbel haarscharf an ihm vorbei in den schmalen Flur flog. „Du hast nicht zufällig vor, mich zu killen, oder?", scherzte Ju und beförderte die Couch zurück an ihren Platz. „Dafür ist schließlich immer noch CoD da, meinst du nicht auch?" Keuchend nickte ich, gedankliche Anstrengung wie eben kostete viel mehr Energie als gedacht. Während wir uns duellierten, musterte ich ihn von der Seite, bis auf die neue Haarfarbe war sein üblicher Look erhalten geblieben - mal Hemd, mal Army - Weste und Skinny Jeans. „Ihr habt euch schon wieder gestritten, oder?", sagte Ju, ertappt umklammerte ich den Controller fester und brachte nur ein „Mhm" hervor. Warum mache ich auch immer alles falsch? Mein Mitstreiter seufzte: „Das mit euch muss aufhören, ein für alle Mal! Ihr seid das Paradebeispiel für die Freundschaft und zickt euch die ganze Zeit an, so habe ich es mir nicht vorgestellt! Bist du denn wirklich so blind?" Ich runzelte die Stirn, er legte mir eine Hand auf die Schulter. „Du erscheinst ihm fremd, seit jenem Tag bist du ernster geworden...erinnerst du dich nicht mehr?" Ich versuchte es, aber mein Kopf war vollkommen leer. „Sie haben dein Gedächtnis gelöscht, damit du niemanden die Wahrheit auftischen konntest!", half Ju mir nach. „Macht hat ihren Preis, mein Name und deine Gedanken waren mehr als nützlich für sie...seitdem bist du nicht mehr derselbe!" Kalt, herzlos. Ignorant. Galle stieg mir hoch und der Schwindel machte sich bemerkbar... „Bin gleich zurück!", wisperte ich tonlos und stürmte aus dem Zimmer ins Bad, warf einen Blick in das Glas über dem Waschbecken. Die Person, die wir glauben zu sehen, ist jemand anderes, Mr. Lee. Jemand aus der Vergangenheit, ihrer Vergangenheit. Machen sie es sich klar, bevor sie irgendwann daran zugrunde gehen. Ich hatte nicht zugehört, wie so oft hatte ich nur an meine Zukunft gedacht...eine Zukunft voller plötzlicher Erkenntnisse.
„Was führt dich denn in unser bescheidenes Heim?", feixte John, als ich mich endlich in ihrem Appartement befand. Er und Bao waren gerade umgezogen und hatten ihr altes Zuhause - ein staubiger Bungalow in Neukölln - hinter sich lassen müssen, hier gefiel es ihnen doppelt so gut. Vor allem war man hier viel näher an gewissen Gleichgesinnten, aber Schwamm drüber. Ich fuhr mir nervös über meine Locken und räusperte mich: „Es geht um Arya, ist er euch in letzter Zeit auch...komisch vorgekommen?" John und sein Kamerad starrten erst mich und dann sich gegenseitig an, Bao ergriff das Wort. „Inwiefern komisch?", meinte er. „Wir haben ihn nicht wirklich zu Gesicht bekommen, klär uns auf!" Ich gab alles preis, was bisher zwischen mir und ihm statt gefunden hatte, kurz darauf herrschte Stille. Was, wenn sie dir nicht glauben? Du kannst nicht noch mehr Menschen verlieren, du bist echt ein Idiot..., wies sie mich zurecht, verlegen knetete ich meine Handballen. John war der Erste, der sich wieder fasste: „Okay, nochmal fürs Protokoll: Arya Lee, seit sieben Jahren bester Freund von Jay Samuelz und Julien Bam...ist ein SUPERHELD? Und nicht nur er, Ju und du auch? Oh Mann, das ist echt krass...aber wie geht's jetzt weiter?" „Das ist es ja, ich habe keine Ahnung!", murmelte ich traurig. „Ich hätte wissen müssen, dass ich nicht so bin wie er und er mich deshalb nicht mehr so wie damals mag...warum bin ich dann überhaupt noch hier?" Bao schluckte: „Du denkst doch nicht gerade wirklich, dass du dich umbringen sollst? Du bist ein toller Mensch und ihr vertragt euch bestimmt wieder, darauf kannst du Gift nehmen!" John nickte zustimmend und brühte mir einen Tee auf, das Gebräu schmeckte wie Blei. „Das wird schon, du musst daran glauben, okay?" Wenn das nur so einfach wäre.
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