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Schließlich bekamen wir an einem heißen Sommertag im Juni unsere Abschlusszeugnisse in die Hand gedrückt. Eine Gratulation, Hände schütteln und wir hatten die High School bestanden.
Unzählige Reden prasselten auf uns herein und meine Mutter schoss ein Foto nach dem anderen. Unter der zeremoniellen Kutte und der viereckigen Kappe, von der eine blau-weiße Quaste immer wieder in mein Sichtfeld baumelte, sammelte sich unangenehm der Schweiß auf meiner Haut, trotzdem lächelte ich tapfer in die Kamera. Das Lächeln blieb auf meinem Gesicht, wie aufgeklebt, selbst als wir, zu meinem Unglück, ein letztes Gruppenfoto vor dem Schuleingang aufnahmen und Heaven und ihre Familie sich an uns vorbeidrängelte.
Wie immer bekam ich keinen Blick und Heaven starrte verbissen in die andere Richtung. Ihre Eltern grüßten uns kurz und höflich. Wie man entfernte Bekannte eben grüßte. Am liebsten hätte ich ihre Eltern zur Rede gestellt, wie grausam sie sich gegenüber ihrer Tochter verhielten. Doch ich hatte mit diesem ganzen Desaster nichts mehr am Hut. Beinah eine Erleichterung, wenn es nicht so weh getan hatte. Immer noch, nach drei Monaten.
Und so verschwand sie aus meinem Blickfeld. Ihr Haar wallte in glänzenden Wellen über ihren Rücken und die blaue Kutte verschleierte ihren Körper. Ihre Mutter legte den Arm um ihre Schulter und Heaven winkte einer Freundin auf der Wiese zum Abschied zu. Mein allerletzter Blick auf meine Jugendliebe, denn im Gegensatz zu meinen Freunden, endete mit diesem Event für mich endgültig die Schulzeit. Ich hatte mich dazu entschlossen, den Abschlussball nicht zu besuchen, der dieses Wochenende stattfand. Das Event, auf das sich alle meine Mitschüler freuten und das mir so lange Alpträume bereitet hatte, bis ich mich dazu entschloss nicht teilzunehmen.
Die aufgeregte Suche nach dem passendem Date und alle Traditionen, vom perfekten Kleid für den Ball, der extra angemieteten Limousine, bis hin zum Blümchenarmband, das der männliche Part, im schicken Anzug, dem schüchtern erröteten Mädchen ansteckte, stießen mich ab. Mein nur spärlich mit ein paar groben Stichen genähtes Herz, hielt dieses Schauspiel der ersten, zarten Liebe nicht aus. Das war alles sowieso nur Maskerade und dahinter verbargen sich nur Lügen. Die süße Jugendliebe. So romantisch. So naiv. Alles nur Lügen.
Ich verbrachte den Abend lieber zu Hause und holte seit langer Zeit meine Malsachen wieder hervor.
Vor ein paar Wochen hatte ich ausgemistet, und Stunden damit zugebracht, alle meine Zeichnungen zusammenzusuchen und jeden Fetzen Papier zu vernichten, der mich an Heaven erinnerte. Von der dämonischen Fratze, die ihren Namen trug, bis zur detailgetreuen Abbildung ihres so widerlich hübschen Gesichtes landete alles auf einem Haufen. Sogar die Ente, mit der hellblauen Schleife um den Hals, die ich vor scheinbar ewig langer Zeit im Unterricht gemalt hatte, um mich von Heaven abzulenken, sortierte ich aus. Dann trug ich den verstörend, riesigen Stapel in den Garten und verbrannte ihn mit Genugtuung im Garten an der großen Feuerstelle, an der wir an warmen Abenden Würstchen und Marshmallows grillten. In den flackernden Flammen, die sich mit gierigen Appetit in das Papier fraßen, lösten sich alle Emotionen auf, die in den Bildern steckten und gaben mir ein Stück Freiheit zurück.
Heute widmete ich mich meinen Malsachen aus deutlich wichtigeren Gründen. Ich plante für meine Zukunft. Die Universität in Seattle, die sowohl mich als auch Dani angenommen hatte, bot Kurse für Design an, die ich Belegen wollte. Dafür plante ich meine Zeichenkünste deutlich aufzubessern, obwohl ich bereits sehr positive Rückmeldung auf die Zeichnungen in meiner Mappe von der Universität erhalten hatte. Aber es schadete sicher nicht, sich zu viel vorzubereiten. Das hätte mir vermutlich auch in Liebesdingen weitergeholfen. Ein wenig weise Voraussicht und Zeit die Gedanken zu sortieren, bevor ich mit geschlossenen Augen ins Chaos marschiert war. Das hatte schief gehen müssen.
Vollkommen vertieft in die Körperstudien verschiedener Amphiben, ignorierte ich das Schellen der Türklingel. Unter meinen Fingern erweckte ich einen Salamander mit schwarz-goldener Musterung zum Leben. Es gelang mir nur spärlich den feuchten Glanz auf seiner Haut so perfekt wie auf meiner Vorlage einzufangen. Deshalb saß ich bereits beim dritten Versuch.
Ein leises Klopfen an meiner Tür schreckte mich auf.
„Ja.", rief ich mit deutlich genervten Ton in meiner Stimme. Ich hatte so viel wichtigeres zu tun, als die Zeit mit sozialen Kontakten zu verschwenden.
Meine Mutter trat ins Zimmer, lächelte nachsichtig und schloss die Tür hinter sich.
„Poppy. Heaven ist hier. Soll ich sie wegschicken?"
Vor Überraschung ließ ich den Stift fallen. Er hinterließ einen dunklen Fleck im goldenen Augen des Salamanders. Mein erster Impuls befahl mir, das Treffen sofort abzulehnen. Auf keinen Fall würde ich Heaven treffen. Was wagte es die falsche Schlange überhaupt herzukommen?
Doch ich zögerte, eben weil sich Sehnsucht und Liebe nicht so einfach verbrennen ließen, wie bemaltes Papier. Ich wollte Heaven so gerne noch einmal sehen. Und wenn wir miteinander sprachen, musste sie mich auch ansehen.
Am liebsten hätte ich meine Mutter für mich entscheiden lassen, doch diese Feigheit hätte ich mir nie verziehen.
Trotzdem bat ich sie um Rat:
„Was meinst du, was ich tun soll?"
Meine Mutter kniete sich zu mir auf den Boden, ihre braunen Augen voller Verständnis und Mitgefühl. Sie legte die Hand auf meine Schulter.
„Als Mutter, die dich beschützen will, will ich Heaven sofort wegschicken. Als Christin, die versucht in Nächstlieben zu handeln, wünsche ich mir, dass ihr einen Weg findet, diese Situation hinter euch zu lassen. Ohne Groll und verletzte Gefühle. Aber als Frau, die selbst in ihrer Jugend von der Liebe zu einer besonderen Person verletzt wurde, frage ich mich, ob du dir zutraust ein Gespräch auszuhalten. Oder ob du zu viel Angst davor hast, schwach zu werden und dich erneut auf sie einzulassen. Ich möchte nicht, dass du Heaven die Chance gibst, dich wieder zu verletzen. Dann kenn ich nämlich auch keine Nächstenliebe mehr. Glaub mir."
Die Worte meiner Mutter klangen so weise. Aber mir fehlte die Zeit, gründlich über das für und wider meiner Situation nachzudenken. Die Entscheidung musste jetzt fallen, solange Heaven noch vor unserem Haus auf mich wartete.
Neben der Chance verletzt zu werden, bestand ebenfalls die Chance auf Heilung für Heaven und mich. Obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich ihr überhaupt vergeben wollte, wusste ich doch, dass es am Ende nur mir selbst schadete, alte Wunden mit Hass und dem Wunsch nach Rache zu füttern. Zumindest hatte ich das von den vielen predigten gelernt, die mir meine Mutter über meine Kindheit hinweg gehalten hatte.
Mit einem Seufzen rappelte ich mich vom Boden auf.
„Ich red mit ihr. Und wenn es nur ist, um ihr zum letzten Mal meine Meinung zu geigen."
Meine Mutter drückte meine Hand und lächelte.
„Du bist stark. Poppy. Du bist wundervoll und liebenswert. Vergiss das nicht, wenn du mit ihr sprichst."
Ich nickte eifrig, auch wenn ich die ermutigenden Worte, beim Anblick meiner größten Schwäche, bestimmt sofort vergessen würde.
Langsam schritt ich Stufe für Stufe die Treppe hinab und zögerte dabei vor jedem neuen Schritt. Zwar hatte ich mich dazu durchgerungen, Heaven zu treffen, doch die vollkommene Überzeugung für mein Vorhaben fehlte mir noch. In den letzten Monaten hatte ich genau diese Situation tausend Mal in meinem Kopf durchgespielt. Immer in der Hoffnung, Heaven würde plötzlich vor mir stehen. Jedes Mal nahm das Szenario ein anderes Ende und ich begann von vorn mit dem Gedankenspiel.
Während ich die Treppe hinunter kroch, vermischten sich diese vielen Vorstellungen zu einem einzigen großen Chaos. Vielleicht war es doch nicht so hilfreich, sich auf Liebesdinge exzessiv vorzubereiten.
Heaven wartete draußen, vor der geschlossenen Haustür. Ein eindeutiges Zeichnen dafür, dass meine Mutter es trotz ihrer christliche Nächstenliebe nicht geschafft hatte, dem Mädchen so weit zu vergeben, dass sie sie in unser Haus hineinließ.
Ich dankte meiner Mutter innerlich überschwänglich dafür. Weil sie sich mit voller Überzeugung auf meine Seite stellte. Außerdem entkam ich so der unangenehmen Situation, dass Heaven mir bereits vom Flur aus entgegenblickte, während ich die Treppe herunterkam.
Eine Tür trennte mich von dieser großen Herausforderung. Eine Tür, die ich ernsthaft überlegte, nicht zu öffnen. Ich legte meine Hand auf den kühlen Türgriff. Meine Finger zitterten.
Schließlich nahm ich einen tiefen Atemzug, um all meinen Mut zusammenzusammeln und riss die Haustür auf.
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