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„Was ist schlimm daran, wenn deine Mama denkt wir sind befreundet?"
Ich klang wie ein verwirrtes Kind. Vielleicht weil ich einfach nicht verstand, was an einer Freundschaft so schlimm sein sollte. Und weil ich möglichst harmlos klingen wollte. Damit mir Heaven endlich die Erklärung gab, auf die ich so sehnsüchtig wartete.
Heaven schnaubte und fasste sich an die Stirn.
„Bist du doof? Kapierst du gar nichts? Kein Wunder, dass du nur Ärger machst."
Die Wut, die seit Tagen in mir brodelte, schäumte sofort über. Solche Beleidigungen konnte sie sich sparen. Mit geballten Fäusten sprang ich vom Pult auf.
„Nein. Ich kapier nichts. Wie soll man dich auch kapieren. Ehrlich? Ich sehe nichts Schlimmes an einer Freundschaft."
Heaven presste erschrocken den Finger vor die Lippen. Ich schrie ihr eindeutig zu laut. Wieder trat ihre Angst mit mir entdeckt zu werden, so deutlich zu tage. Sogar eine einfache Freundschaft mit mir war ihr zu viel. Am liebsten hätte ich das Pult vor mir um gekickt und noch mehr Krach veranstaltet. Ich tat es nicht. Nur ihr zuliebe. Mein Bein zuckte, weil ich den Drang gewaltsam unterdrückte.
„Wir sind keine Freunde. Poppy. Waren wir nie. Werden wir auch nie sein. Meine Mama weiß das. Sie spürt etwas ist im Busch. Deswegen ist sie auch so misstrauisch. Ich kann das nicht riskieren. Es ging so gut alles vorher. Gott und meine Eltern verzeihen es, wenn man mal ein Mädchen zu lang anguckt. Das kann mal passieren. Man muss seinen Fehler dann erkennen und sich zusammenreißen. Aber das mit dir verzeiht niemand. Das mit dir sicher nicht."
Ihre Predigten über ihren ach so tollen Gott gingen mir ganz schön auf die Nerven. Ich hatte den Sinn dahinter einen Gott zu lieben, der einen nur mochte, wenn man seinem sinnlosen Regelkatalog folgte, noch nie verstanden.
„Komm schon. Deine Mama liebt dich doch. Sie wird sicher..."
Heaven lachte laut auf. Sie hörte sich verzweifelt genug an, dass ich mir Sorgen machte.
„Du bist so naiv. Poppy. Das ist fast süß. Nicht alle Eltern kehren Gott für ihre Kinder den Rücken. Meine Eltern wissen was wichtig ist. Und sie wollen, dass wir es auch wissen. Sie würden uns nie dabei unterstützen in Sünde zu Leben. Deswegen haben sie Chris weggebracht. Damit er lernt, was richtig ist. Aber ich kann nicht..."
Sie brach ab und presste die Lippen zusammen. Die Schulter nach vorn gerollt, in sich zusammengesunken, wie ein verfaultes Stück Obst, schleppte sie sich zum Lehrerpult und ließ sich dort auf den Stuhl fallen. Tränen glitzerten in ihren Augen.
Ich wagte es ein paar Schritte näher zu kommen, bis Heaven die Hand hob, um mir Einhalt zu gebieten. Wie gern ich sie trösten wollte.
„Chris. Dein Bruder Chris?"
Heavens Geschwister tauchten als dunkle Silhouetten im Nebel vor meinem inneren Auge auf. Während Heaven meine ganze Aufmerksamkeit fesselte, hatten mich weder ihre zwei älteren Brüder noch die sehr viel jüngere Schwester je interessiert. Aber wenn ich meinen Kopf nach Chris durchsuchte, konnte ich vage das Bild eines hübschen Jungen mit dunklem Haar ausmachen, der mit seinem schelmischen Grinsen, die Mädchen beim Sonntagsbrunch zum Tuscheln und Kichern brachte.
„Ja. Mein Bruder Chris. Sie haben ihn mit einem anderen Jungen bei uns im Schuppen erwischt. Meine Mama war so angewidert, dass sie uns nicht erzählen wollte, was sie gemacht haben. Ein paar Tage später war er weg. Ich denke, sie haben ihn wohin gebracht, wo er Moral lernen kann. Damit er Gottes Liebe nicht ganz verspielt. Ich weiß nicht, wo er ist. Wir sprechen nicht über ihn. Ich weiß nicht, wann er zurückkommt. Ob er zurückkommt."
Sie schniefte laut und holte zittrig Luft. Den Kopf stur von mir abgewandt, starrte sie nach draußen auf die Baumwipfel, die im Wind schwankten.
Mit ihren Worten watschte sie mir eine Realität ins Gesicht, die ich nur aus Filmen und Büchern kannte. Vielleicht hatte sie Recht, wenn sie mich als naiv bezeichnete. Obwohl ich mir der Gefahr, die mit einem Outing kam, durchaus bewusst war, hatte ich mir nie vorstellen können, dass Eltern die Liebe zum eigenen Kind einfach so aufgaben. So herzlos. Es passte mit meiner Vorstellung von Elternliebe, die ich als grenzenlos einschätzte, nicht zusammen. Vermutlich durfte ich nach meinem Coming-out naiv bleiben, weil meine Eltern es mir nie schwer gemacht hatten und für mich sogar ihre grundlegendsten Überzeugungen änderten.
Heaven musste jeden Tag in unvorstellbarer Angst davor leben, dass ihre Familie sie ausstieß. Nur weil sie in deren Augen falsch auf die Welt gekommen war. Ihre Eltern hatten das Herz so voll von Gottes Liebe, dass keine mehr für die eigenen Kinder übrigblieb.
Meine Wut verrauchte, vertrieben von reinem Mitleid im Angesicht eines so grausamen Schicksals. Ich wollte ihr nur helfen. So gut ich konnte.
„Heaven. Das ist nicht richtig. Deine Eltern sollten dich lieben, egal was ist. Du und Chris, ihr habt nichts falsch gemacht."
„Haben wir nicht?"
Sie musterte mich gründlich. Ein unangenehmer Blick, denn ich bekam das Gefühl, sie verurteilte mich, wie ihre Eltern ihren Bruder.
„Ich bin mich nicht sicher. Was ist richtig? Was falsch? Vor ein paar Monaten war alles noch ganz klar. Jetzt weiß ich nichts mehr."
Sie seufzte lang und laut, stand vom Stuhl auf und ging zurück zur Tür.
„So oder so, kann ich das gerade nicht gebrauchen. Ich werde nicht dieselben Fehler machen wie mein Bruder. Ich bin nicht so dumm."
Sie lachte auf. Es klang seltsam hässlich. Normalerweise liebte ich ihr Lachen.
„Es gibt so viel wichtigeres in meinem Leben. Wir beide stehen kurz vor unserer Zukunft. Poppy. Ohne meine Eltern kann ich nicht aufs College gehen. Ich versau mir das ganz sicher nicht. In dem Sinne war es gut, dass deine Mum sich verplappert hat. Das hab ich gebraucht, um aufzuwachen."
Dann blickte sie mir fest in die Augen. Ihr Blick ließ mich frösteln.
„Es ist vorbei. Schreib mir nicht mehr. Sprich mich nicht mehr an. Sieh mich nicht mehr an. Lass mich in Ruhe!"
Ihre Stimme klang vollkommen ruhig. Es fiel ihr überhaupt nicht schwer mich wegzuwerfen. Ganz im Gegenteil. Sie behandelte mich wie einen nervigen Quälgeist, der ihr seit Monaten nachjagte und nie in Ruhe ließ. Hatte sich unsere Beziehung in ihrem Kopf ganz anders abgespielt, als ich sie erlebt hatte? Und die unzähligen Male, die sie mich weggedrückt hatte, waren nur ein weiterer fruchtloser Versuch sich gegen mich zu wehren, weil ich einfach nichts verstand.
Nein. Das würde ich nicht glauben. Sie hatte mir Gefühle entgegengebracht. Ich hatte nicht alle ihre Zeichen falsch gedeutet.
Tränen brannten in meinen Augen, doch ich schluckte sie herunter. Ganz sicher würde ich Heaven meine Traurigkeit nicht zeigen, wenn sie mich so wenig wertschätzte.
„Warum das Ganze dann? Heaven. Warum hast du nicht von Anfang an abgeblockt?", krächzte ich. Meine Stimme verriet, was ich ihr nicht zeigen wollte. Sie hatte mir einen Dolch tief ins Herz gerammt, doch ich konnte die Schmerzen im Moment noch nicht fühlen. Zu sehr hielt mich der Schock der Wunde gefangen.
Für einen Augenblick brachen Emotionen durch ihre Maske der Gleichgültigkeit, die sie rasch wieder von ihrem Gesicht verbannte. Vielleicht fiel es ihr doch nicht ganz so leicht, sich von mir zu lösen. Doch ich fühlte keine Hoffnung deswegen in mir aufsteigen. Irgendwie war jetzt schon alles wund und müde in mir. Wie nach einer verlorenen Schlacht.
„Ich wollte dich so sehr. Entgegen allem was ich weiß. Allem was ich glaube. Ich wollte dich so sehr, wie Essen und Trinken. Als könnte ich dagegen nicht ankommen. Ich hab erst jetzt begriffen, dass Gott mir eine Prüfung auferlegt hat. Meine Mama hat mir geholfen das zu verstehen. Ich war schwach, doch jetzt bin ich stark. Du solltest ebenfalls darüber nachdenken, was richtig ist. Gott wird dir sicher verzeihen. Und damit er mir verzeihen kann, will ich nie wieder mit dir allein sein. Wir sind Fremde. Poppy."
Wie ein Schneesturm fegten ihre Worte über mich hinweg und ließen mich erfrieren. Sie ließ mich einfach damit stehen und ging. Fassungslos starrte ich ihr hinterher. Der Schneesturm fegte über leere, verwüstete Felder.
Mein Herz lag noch genau dort am Boden, wo sie darauf herumgetrampelt hatte und flehte mich an ihm zu helfen.
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