55
Heaven ignorierte mein Winken. Stattdessen trat sie zu meinem Regal, das fast die gesamte Wand gegenüber dem Fenster einnahm. Bunte Kisten, Brettspiele, Bücher und von mir bemalte Gegenstände aller Art, füllten das große Möbelstück.
Sie strich die schlanken Finger über die Einbände der Bücher und nahm dann einen flachen Stein in die Hand, den ich mit Ölfarben verziert hatte. Eines meiner neueren Werke, aus einer Phase letztes Jahr, wo ich das alte Hobby wieder aufgegriffen hatte. Auf jedem der Steine saß ein anderes Insekt.
„Das machst du also immer noch."
Heaven wandte sich zu mir und wiegte den Gegenstand in ihrer Hand.
„Ja. Willst du mich auslachen?"
Sie schüttelte den Kopf. Unser Streit von zuvor hing noch wie eine dicke, dunkle Wolke im Raum, jederzeit bereit dazu, ein neues Unwetter auf uns herunterregnen zu lassen. Sicherlich wollte Heaven keinen neuen Sturm heraufbeschwören.
„Nein. Er ist sehr hübsch. Ich wusste nicht, dass du so gut zeichnen kannst. Die Bilder da an der Wand, sind die auch von dir?"
Sie deutete auf die Wand über meinem Schreibtisch, die ich mit Skizzen, fertiggestellten Zeichnungen und Bildern, die mich inspirierten, tapeziert hatte.
„Ja. Vieles davon ist aber nur Geschmier."
„Finde ich überhaupt nicht."
Ihre Komplimente stimmten mich verlegen. Heaven hatte nur selten nette Worte für mich übrig, doch sie hatte zielsicher meinen wundesten Punkt gefunden und diesen mit Lob bedacht. Es gab nur wenig Dinge in meinem Leben, bei dem ich Kritik so sehr fürchtete. Und Heaven besaß die Macht, mein Talent, dass mir so viel bedeutete, unter ihren zarten Füßen zu zertreten. Ihre Abwertung hätte meine Motivation zu zeichnen vermutlich zu einem Scherbenhaufen zertrümmert, den ich mit viel Mühe wieder zusammensetzen hätte müssen. Stattdessen erfüllte mich jetzt so viel Stolz. Am liebsten hätte ich die Mappe mit meinen neusten Zeichnungen unter dem Bett hervorgezogen und ihr alle davon gezeigt. Wenn nicht von jedem Zweiten davon, Heaven mit ihren wundervollen grünen Augen, zurück gestarrt hätte. Das war mir dann doch zu peinlich.
Heaven trat an meinen Schreibtisch heran und besaß sich meine Kritzeleien genauer. Sie lehnte sich nach vorn, die Hände auf der Tischplatte abgestützt.
„Die Tierzeichnungen find ich süß. Vor allem das da."
Sie tippte auf ein Bild, auf dem sich ein grinsendes Eichhörnen in Pose warf, ein Cape in Regenbogenfarben flatterte um es herum. Es trug knallroten Lippenstift und Rouge auf den runden Wangen.
„Das ist ein Gay-hörnchen.", gab ich betreten zu. Ich hatte es zum letzten Pride auf T-Shirts drucken lassen und mich dann mit meinen Freunden zum Filmabend getroffen. Wir hatten uns die homosexuellsten Filme angeguckt, die wir kannten.
Heaven brach in Lachen aus. Ihr Lachen, das ich so liebte. Ein angenehmes Kribbeln tobte durch meinen Bauch.
„Das ist witzig.", gluckste sie. „Kann ich das haben?"
Sie wollte wirklich etwas von mir haben. Ich versuchte ruhig zu bleiben, um ihr nicht zu zeigen, wie sehr es mich freute.
„Ja klar. Kriegst du es runter, oder soll ich...?"
„Geht schon."
Heaven stand bereits auf Zehenspitzen und pflückte das Blatt mit Leichtigkeit von der Wand. Ein anderes Papier löste sich ebenfalls und flatterte auf den Schreibtisch. Sofort hob sie das Blatt auf, vermutlich um es zurück an die Wand zu kleben. Das Lächeln kippte aus ihrem Gesicht und sie runzelte die Stirn.
„Fies. Poppy. Wirklich fies.", knurrte sie.
Sie knüllte das Papier zusammen und warf es nach mir. Es traf mich an der Schulter und ich langte hastig danach, bevor es zu Boden fiel.
Während ich das Papier auffaltete, überlegte ich fieberhaft, welche Schandtaten ich wohl darauf abgebildet hatte. Ich hatte mich dazu hinreißen lassen, Heaven mit geschwollenen Lippen und Lust in den Augen zu zeichnen, auch wenn ich nicht ansatzweise die Perfektion der Wirklichkeit erreicht hatte. Außerdem hatte ich ihre Freundinnen als nervige Hühner dargestellt, die durchgehend um Heaven herumflatterten. Diese und andere Bilder, hatte ich jedoch vorsorglich in meiner Aufräumaktion heute Morgen ins hinterste Fach meines Kleiderschrankes verbannt.
Ich unglücklicher Idiot hatte ganz klar eines vergessen. Unter der unschuldigen Zeichnung von einem paar Schuhe, - die Turnschuhe, die Heaven gewöhnlich zu ihrer Cheerleader Uniform trug -, stand in dicken, schwarzen Buchstaben: „Heaven, du fiese Mobberin."
Eine Beleidigung, aus purer Frustration aufs Papier gekrizelt, nachdem Heaven mich auf den Herbstball weggestoßen hatte.
Heaven funkelte mich wütend an und tippte ungeduldig mit den Fingern auf die Tischlatte des Schreibtisches. Um sie zu beschwichtigen, hob ich die Hände.
„Also...ähm ich kann das erklären."
Wie sollte ich mich erklären? Mir fiel überhaupt nichts ein, außer dass sie mich manchmal einfach so wütend machte. Das wollte sie sicher nicht hören.
„Hältst du mich für eine Mobberin?"
Heaven klang entrüstet, sie stützte die Hände in ihre Seiten. Ihre Empörung verwunderte mich.
„Also jeder weiß doch, dass..."
„Was weiß jeder?", zischte sie.
Ich hatte eine ganz blöde Richtung eingeschlagen und es gab keine Möglichkeit mehr abzubiegen.
„Jeder weiß doch, dass du und deine Freundinnen...also ich mein die Cheerleader...naja, ein Mädchen von der Schule gemobbt haben. Sie hieß Lila-Lu oder so ähnlich."
So jetzt war es raus. Ich konnte nichts für die Wahrheit, dass hatte Heaven selbst verbrochen. Wenn sie jetzt wütend auf mich werden wollte, hatte ich es ganz sicher nicht verdient. Trotzdem linste ich nervös zu Heaven hin. Hoffentlich würde sie nicht sauer auf mich sein.
Heaven verschränkte die Arme und musterte mich auf und ab, wie eine Lehrerin, die sehr unzufrieden mit meiner Leistung war. Mir lag die Entschuldigung bereits auf den Lippen, doch ich schluckte sie herunter. Mein Schlucken klang so laut in der bedrohlichen Stille, die zwischen uns hing.
„Ok. Wer ist jeder?"
Heaven fing meinen Blick und hielt ihn fest.
„W-was meinst du?", stammelte ich.
Irgendwie hatte ich erwartet, sie würde alles abstreiten, oder fast schon stolz zu ihren Missetaten stehen. Immerhin sprach ich mit Heaven. Vielleicht hätte ich sogar in Erwägung gezogen, dass sie versuchte sich zu rechtfertigen. Aber im Moment kam es mir so vor, als stände ich einem Agenten gegenüber, der mich einem Verhör unterzog.
„Das Mädchen heißt Linda-Lue. Und wer hat dir erzählt, ich hab sie von der Schule gemobbt?"
Ich zögerte mit meiner Antwort, weil ich mich nicht mehr erinnern konnte. Als wäre das Wissen darüber einfach irgendwann in meinen Kopf aufgepoppt.
„Jeder weiß es Heaven. Jeder...ähm, einfach jeder. Die ganze Schule."
Heaven legte die Stirn in tiefe Falten.
„Ok. Wenn jeder es weiß. Was haben wir genau gemacht?"
„Na, sie von der Schule gemobbt."
Heaven schnaubte und plötzlich schämte ich mich für meine Antwort. Denn ich wusste tatsächlich nichts weiter und das klang verdächtig nach einem Gerücht. Eines dessen Wahrheitsgehalt ich nie angezweifelt hatte.
„Ok. Ich weiß nicht mehr drüber. Aber Heaven, du musst doch zugeben, dass du nicht wirklich dafür bekannt bist, nett zu sein. Und das stimmt ganz sicher. Das hab ich doch selbst schon beobachtet."
Die Erinnerung an die kleine Blonde, die versucht hatte mit Heaven im Waschraum zu sprechen und nur schweigen zurückbekommen hatte, lebte noch zu deutlich in meinem Kopf. Vor allem deshalb, weil mich Heaven direkt danach geküsst hatte. Zu dem Mädchen war Heaven alles andere als nett gewesen.
Heaven kam auf mich zu und strich die Hände über meine Schultern. Beinah versöhnlich.
„Ich bin nicht super nett zu anderen. Weil mich ständig irgendwer von der Seite anredet. Alle denken sie haben Anspruch auf meine Zeit, nur weil ich ihnen beim Cheerleaden gefallen habe. Vielleicht bin auch einfach nicht nett. Aber ich hab nie jemanden bewusst gemobbt. Da hab ich gar keine Lust drauf."
Es fiel mir schwer ihre Antwort zu glauben. Seit Jahren lebte ich mit der Gewissheit, dass Heaven einen bösartigen Charakterzug besaß. Dieses Wissen hatte mich seltsamerweise immer getröstet, wenn sie mich ignorierte, oder beleidigte. Denn Heaven konnte doch nicht anders, ihr Wesen war so, von Anfang an. Und gleichzeitig hatte ich das Wissen wie eine Beleidigung benutzt, die ich immer wieder gegen Heaven schleuderte und mit der ich sie im Geiste von ihrem hohen Ross herunterwarf. Heaven, dieses schöne, bewundernswerte Mädchen, war böse. Eine widerliche Zicke. Natürlich, sie musste es sein. Es passte zu gut zu ihr.
Und plötzlich sollte ich glauben, dass sie sich einfach nur unfreundlich verhielt, weil alle sie nervten.
„Aber...selbst wenn es ein Gerücht ist. Du weißt, Gerüchte enthalten einen Kern Wahrheit."
So schnell würde ich mein altes Bild von Heaven nicht aufgeben. Wenn ich ihr einen liebevollen Charakter zugestand, musste ich mir auch eingestehen, dass sie sich bewusst dafür entschied, mich zu verletzen. Dass sie mir bewusst die Seite von sich zeigte, die kalt und herzlos handelte. War sie dadurch nicht grausamer, als wenn sie einfach nur nicht anders konnte?
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