3.Kapitel
Anna erwachte am Tag der Abreise des Herzogs früh. Sie freute sich darauf, den Unterricht ohne ihn zu erleben. Doch davor hatte sie noch einen Gottesdienst in der königlichen Hofkapelle vor sich. Sie zog sich an und ging die Treppen zum Speisesaal hinunter. Die Königin und ihre Eltern saßen bereits dort, Renate hatte sich gerade angezogen, als Anna ihre Kammer verlassen hatte.
Nach dem Essen führte die Königin die Herzogfamilie nach draußen. Ein Stück entfernt stand in der Mitte eines sandigen Platzes eine Kapelle. Sie gingen hinein und Anna sah sich um. Überall glänzte Gold und es gab sehr schöne Wandmalereien. Vor allem dir Altardecke faszinierte Anna. Diese war fein gewebt und in den verschiedensten Farben und Mustern bestickt. Sie alle gingen in die Bänke, knieten sich kurz hin und setzten sich dann. Während der Predigt des königlichen Pfarrers beobachtete Anna eine Fliege. Doch nach einer Weile geschah etwas seltsames. Die Fliege summte immer näher und landete dann auf Annas Hand. Anna sah sie eine Weile lang an, doch dann merkte sie, dass sich Renate neben ihr hinkniete und tat es ihr schnell gleich. Die Fliege auf Annas Hand wurde irgendwie leichter, während sie das tat. Als Anna hinblickte, sah sie die Fliege noch kurz, dann war diese verschwunden.
Es würde Anna immer ein Rätsel sein, wenn sie sich an dieses Erlebnis erinnerte. Doch das tat Anna nicht. Die Erinnerung an dieses Erlebnis war aus der nun 12 jährigen Anna verschwunden. Einige andere, viel bedeutendere Dinge waren seither geschehen.
Ein Reh sprang vor Annas Pferd vorbei und über den Bach, der den Weg begrenzte. Auf der anderen Seite des Bachs drehte das Reh sich kurz um und sagte:"Du hast die Begabung."
Damals, mit 10 Jahren, hatte Anna nicht gewusst, was das bedeutete und es war nicht der einzige Zwischenfall.
Ein Eichhörnchen kam durch das Fenster des Schlosses herein. Anna, die zu diesem Zeitpunkt Acht Jahre alt war, wusste nicht, ob sie ihren Augen trauen sollte. Doch das Eichhörnchen hüpfte direkt auf sie zu. Renate war nicht im Zimmer. Sie war vermutlich am stillen Örtchen (mittelalterliche Bezeichnung für Klo). Anna ließ das Eichhörnchen in ihren Schoß. Dort rollte es sich zusammen. Anna legte die Hände schützend um das Tier, da sie dachte, es wolle schlafen, doch dann bemerkte sie, dass das Eichhörnchen am Schwanz verletzt war. Und, dass die Verletzung innerhalb von Sekunden abheilen zu schien. Das Eichhörnchen sprang plötzlich putzmunter aus Annas Händen und kletterte wieder aus dem Fenster.
Und gestern Mittag war es schließlich in Gegenwart anderer Leute passiert.
Die Tür öffnete sich ruckartig. Anna fuhr herum, da sie mit dem Rücken zur Tür gesessen hatte. Ein Wolf stand in der Tür. Renate bekam einen riesigen Schreck und versteckte sich hinter der Tafel. Anna und die Königin jedoch gingen furchtlos auf den Wolf zu. Es war eine Wölfin, wie Anna bei näherem Hinsehen bemerkte. Und sie hinkte. Anna kniete neben der Wölfin nieder, als wäre sie in einer Art Trance. Sie wusste nicht, was sie getan hätte, hätte sie jemand daran hindern wollen, der Wölfin zu helfen. Doch es hielt sie niemand auf. Die Königin sah Anna nur erstaunt an, während diese beide Hände auf die Wölfin gelegt hatte, in Erinnerung an das Eichhörnchen. Und es funktionierte. Die Wölfin wurde geheilt. Anna hätte schwören können, dass etwas "Danke." sagte. Dann war die Wölfin verschwunden.
''Du hast es. Ich dachte die ganze Zeit....Aber nein. Jetzt ist kein Zweifel. Es war ohnehin schon komisch, als an dem Tag nichts passierte. Jetzt erklärt sich alles.", murmelte die Königin gedankenverloren.
"Was ist, Meisterin?",fragte Anna. Dieses Verhalten kam ihr merkwürdig vor.
"Was?" Die Königin fuhr hoch. "Ach, Anna. Vielleicht ist es noch zu früh. Aber du kannst nicht durchs Leben gehen, ohne es beherrschen zu können. Es wäre zu gefährlich. Komm morgen nach Sonnenaufgang zum Kräutergarten. Ich will dir alles erklären.", sagte die Königin. Weder Renate, noch Anna verstanden ein Wort von dem, was sie gesagt hatte, außer, dass an Anna etwas besonderes war und dass Anna sich am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang mit der Königin treffen sollte. Und zwar im Kräutergarten.
Und mehr wusste Anna immer noch nicht. Sie war gerade dabei, sich anzuziehen, um zu der Verabredung mit ihrer Meisterin zu gehen. Diese hatte Renate ausdrücklich befohlen, im Schloss zu bleiben, bis Unterricht war. Renate verabschiedete sich kurz von Anna. Sie war natürlich aufgewacht, als Anna aufstand. So war das eben, wenn man sich ein Zimmer teilte. Anna machte sich jetzt endgültig auf den Weg.
Im Kräutergarten angekommen hielt sie nach ihrer Meisterin Ausschau. Diese tauchte kurz nach ihr im Kräutergarten auf, erblickte Anna und ging zu ihr.
"Was ist das, was ich kann?", fragte Anna.
"Ist das schon einmal passiert?", fragte die Königin.
"Ja, Meisterin. Werdet ihr mich jetzt verbrennen lassen?", fragte Anna ängstlich. Die ganze Nacht war sie von so etwas wach gehalten worden. Doch irgendwas verhinderte, dass sie wirklich daran glaubte. Die Königin hatte gestern überrascht ausgesehen, nicht erschreckt oder aus der Fassung gebracht.
"Nein.", sagte die Königin und Anna seufzte erleichtert auf. "Ich habe es selbst.", fügte die Königin dann hinzu. Anna starrte sie an. Dann wurde ihr bewusst, was sie da tat und dass es gegen sämtliche Benimmregeln verstieß und sie fragte:"Wie meint ihr das?"
"Ich habe diese Kräfte ebenfalls. Ich habe dich und deine Schwester unbedingt hier im Schloss haben wollen, weil ich geahnt habe, dass einer von euch es hat. Nach der Beschreibung deines Vaters, des Herzogs, war es mir klar. Nun erzähle von den Vorfällen!", forderte sie Anna auf. Anna erzählte von dem Reh und dem Eichhörnchen, wie sie sich gefühlt hatte, als sie dem Wolf geholfen hatte und so weiter. Als sie geendet hatte fragte sie:"Was ist es, das ich habe? Wie viele haben es noch?"
"Wir sind tatsächlich Hexen, Anna. Aber nicht in böse, so, wie es die Kirche immer darstellt. Wären die Leute, die sie als Hexen verbrennen wirklich Hexen, würde ihnen nichts passieren. Jede von uns würde sich retten können. Dann möchte ich, dass du weißt, dass wir nichts böses tun. Hexen sind etwas natürliches. Deshalb kommen auch die Tiere zu uns. Wir sind so natürlich, wie die Tiere auch. Jede Hexe kann heilen, was der Natur ist. Manche besser, manche schlechter. Das hängt von ihrer Hexenart ab. Es gibt verschiedene. Manche haben etwas mit Wetter zu tun, andere mit Heilkräutern. So, wie ich. Deshalb auch der Kräutergarten und die Versorgungsstelle für die Dorfbewohner. So ausgeprägter Heilsinn, wie bei dir, ist allerdings selten. Es würde mich nicht wundern, wenn das auch deine Hexenart ist.", erklärte die Meisterin. Anna war vollkommen verwirrt. Sie? Eine Hexe? Und dann dieses Zeug von wegen Natur. Musste sie das verstehen? Konnte nicht alles so sein, wie früher? Unbeschwert und ohne Hexerei? Aber es sollte anders kommen.
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