11. Kapitel
Die Umgebung von Anna nahm Gestalt an. Sie stand auf einem Felssims und vor ihr war ein Tunnel, an dessen Ende der Schlüssel schimmerte. Das war zu leicht, dachte Anna. Sie zuckte mit den Schultern und machte einen Schritt auf den Tunnel zu. Plötzlich gab es ein Rumpeln. Ein Stein war von der Tunneldecke gekracht. Der Tunnel stürzte ein. Anna machte einen Satz rückwärts und wäre fast von dem Felssims gefallen und die Klippe dahinter hinuntergefallen. Was jetzt? Nun, es war eine Hexenprüfung. Das bedeutete wohl, sie musste ihre Kraft einsetzen. In der Zeit reisen. Doch würde sie dann nicht wieder vor dem Tor auftauchen? Allerdings, was sollte Anna sonst tun? Wie lange musste sie denn in der Zeit zurück? Drei Minuten? Ja. Das dürfte reichen. Anna schloss die Augen und konzentrierte sich auf diese kurze Distanz. Sie spürte wieder dieses zerrende Gefühl, dann war es vorbei. Anna öffnete die Augen. Sie stand immer noch auf dem Felssims. Und der Tunnel war noch offen! Es hatte geklappt. Anna ging den Tunnel entlang und griff sich den Schlüssel. Jetzt musste sie wieder zurück zum Tor. Doch da war kein Tor. Natürlich. Noch nicht. Anna verließ den Tunnel und konzentrierte sich mit geschlossenen Augen auf den Moment, indem sie gerade eben "abgereist" war. Wieder dieses Gefühl. Dann war das Tor vor Anna und sie konnte zurückkehren. Das tat sie auch recht erleichtert.
Wieder vor dem Tor waren die Prüfungen beendet. Pestilla nickte Anna zu, als sie auftauchte, dann kehrte sie auf ihren Trohn zurück und verkündete:"Hexen-Anwärterinnen und -Anwärter, oder sollte ich besser sagen Junghexen und Jungmagier? Alle, bis auf zwei Ausnahmen, die wie ganz schnell vergessen wollen, haben ihre Aufnahmeprüfung souverän gemeistert. Ab heute seid ihr offiziell on den Kreis der Hexen und Magier aufgenommen." Irgendwie war es komisch, denn Anna hatte immer damit gerechnet, diesen Moment mit Renate teilen zu können. "Deshalb ist es mir eine Freude, euch zum Zeichen eurer Dazugehörigkeit die beiden wichtigsten magischen Attribute zu überreichen, die jede Hexe und jeden Magier auszeichnen. Besen und Zauberstab. Kommt zu mir!"
Alle Hexen und Magier applaudierten und jubelten.
Diesmal war Ronda Regenguss wohl froh, die Erste zu sein. Als sie zurückkehrte, verkündete sie strahlend, Besen und Zauberstab hätten Namen. Ihre hießen Hermes und Apollo, zwei griechische Götter, wie Ronda sagte. Götter? In der Mehrzahl? Und wer waren bitte die Griechen?
Nemo von Zingst bekam Thyrsus und Haynon, zwei Riesen, die Banshee Eugenie mit Phobus und Morpheus, dann Magnolia. Doch sie sah nicht glücklich aus. Erst wollte sie gar nicht sagen, wie Besen und Zauberstab hießen.
"Komm schon!", versuchte Anna sie zu ermuntern.
"Huckebein und Zauberwisch.", nuschelte Magnolia, nachdem die Kaminhexe Jörna sie noch weiter gedrängt hatte. Konrad zwang Jörna dann mehr oder weniger, sich ihre eigenen Utensilien abzuholen. Sie kam mit Baldur und Sachs zurück. Dann war Anna dran. Pestilla gratulierte ihr zuerst.
"Du hast deine Prüfung bestanden, doch da du nicht aus dieser Zeit kommst, kann ich dir an dieser Stelle weder Besen noch Zauberstab überreichen. Doch du wirst diese natürlich trotzdem erhalten. Besen und Zauberstab einer verschwundenen Junghexe werden im Schloss der Oberhexe aufbewahrt. Du wirst es in den nächsten Tagen von mir erhalten."
Anna hatte zwar mit so etwas gerechnet, doch ein wenig enttäuscht war sie schon. Dieses Gefühl steigerte sich noch, als die anderen Junghexen auf sie einstürmten, warum sie denn nichts bekommen habe. Hilfesuchend sah Anna zu Pestilla auf. Diese schlug die Diskussion vorerst zunichte, indem sie sagte:"Wollt ihr anderen heute noch vor kommen? Ich kann die übrigen Besen auch behalten."
Das brachte Konrad dazu, vorzutreten.
"Bevor ihr euch in eure ersten Flugversuche stürzt, habe ich noch zwei Mitteilungen. Die erste betrifft die gesamte Hexereigeschichte. Anna, tritt vor!", rief Pestilla. Anna schloss die Augen. Musste das denn sein? Sie trat nervös vor und war sich bewusst, dass alle sie ansahen.
"Dieses Mädchen ist, wie ihr mitbekommen habt, eine Zeithexe. Sie kommt aus dem Mittelalter. 1476 ist sie im Tor der Gewissheit auf ihrer Hexenweihe verschwunden. Und bei uns wieder aufgetaucht. Das bedeutet also nicht weniger, als einen Prüfling, der nicht gestorben ist. Und es bedeutet, dass es eine Quelle gibt ins mittelalterliche Leben. Im Zuge dessen nehme ich Anna für die erste Zeit hier mit in mein Schloss. Es ist eine wichtige Möglichkeit, in der Geschichte der Hexereivergangenheit zu forschen.", verkündete Pestilla. Die Hexen waren begeistert und jubelten. Anna hingegen konnte es nicht glauben. Sie sollte mit Pestilla aufs Schloss gehen? Sollte sie sich jetzt freuen? Sich geehrt fühlen? Eigentlich wäre ihr jemand anderes lieber gewesen. Jemand, der vielleicht etwas eher Gefühle nachvollziehen konnte. Doch die Oberhexe fuhr nun fort:"Die zweite Mitteilung ist ebenfalls sehr erfreulich. Zum ersten Mal seit steigern Jahren seid ihr Junghexen wieder genügend Schüler, um gemeinsam unterrichtet zu werden. Freundlicherweise hat sich unsere erste Vorsitzende Runa Rickmoor bereit erklärt, euch ab Januar an vier Nachmittagen die Woche Unterricht in angewandter Magie zu erteilen."
Wieder waren die Hexen begeistert. Unter den Junghexen und Jungmagiern hielt sich die Begeisterung eher in Grenzen.
"Ich erwarte von euch Verschwiegenheit, Fleiß bei der Arbeit, Erfolg bei den zukünftigen Prüfungen und dass ihr gute Hexen und Magier werdet. Wartet noch das letzte Schutzritual ab, dann seid ihr für heute Nacht entlassen. Während Pestilla vom Fels stieg, schlich Anba sich unter die anderen Junghexen zurück. Pestilla zeichnete ein Pentagramm auf den Boden. Dann drehte sie sich nach Osten und rief:"Hüter des Ostens, Reiter der Winde, ich rufe dich! Komm herbei und schütze diese Junghexen und Magier, die wir heute feierlich in unseren Kreis aufnehmen."
Sie drehte sich nach Süden.
"Hüter des Südens, Geist des Feuers, ich rufe dich! Komm herbei und schütze diese Junghexen und Magier, die wir heute feierlich in unseren Kreis aufnehmen.
Herrin des Westens, Hüterin des heilenden Wassers, ich rufe dich! Schütze diese Junghexen und Magier, die wir heute feierlich in unseren Kreis aufnehmen.
Herrin des Nordens, Mutter der fruchtbaren Erde, ich rufe dich! Komm und schütze diese Junghexen und Magier, die wir heute feierlich in unseren Kreis aufnehmen."
Sobald Pestilla das letzte Wort gesprochen hatte, kam ein leichter Wind auf. Die Luft wurde eiskalt und es regnete Sternschnuppen von nachtschwarzen Himmel. Alle waren still. Anna spürte, dass dort noch etwas war. Etwas mächtiges. Nicht einmal die Vögel konnte man hören. Nicht das leiseste Geräusch.
Dann wurde Pestilla von einer anderen Ratshexe ein silberner Kelch gereicht und Pestilla vergoss die Flüssigkeit daraus als Opfer in allen vier Himmelsrichtungen auf dem Boden. Pestilla holte ihren Zauberstab heraus und drehte sich einmal im Kreis. Sie blickte nun wieder nach Osten und verneigte sich mit gekreuzten Armen. Nachdem did sich wieder aufgerichtet hatte, verkündete sie, die anderen dürften jetzt ihre Besen testen.
Keiner fragte Anna, ob sie auch wollte, also sah sie zu. Doch ein wenig neidisch war sie. Nicht mehr jedoch, als das ganze kläglich schief ging. Die anderen hüpften mit den Besen zwischen den Beinen hin und her und in die Luft hob sich keiner. Anna dachte nach. Es war wohl eine Zauberformel gefragt. So, wie man für den Brommbeerstrauch eine gebraucht hatte. Die Königin hatte auch eine benutzt. Doch Anna erinnerte sich nicht mehr an die Formel. Es schien so weit weg...
Währenddessen waren alle umstehenden, erwachsenen Hexen in Gelächter ausgebrochen. Konrad machte sich besonders zum Affen. Mit Anlauf sprang er, landete dann aber wie alle anderen im Matsch. Er sah aus, wie ein Schwein, als er wieder aufstand. Dann klärte Pestilla die anderen Junghexen und Magier auf.
"Nach oben hinaus und nirgends an!", lautete der Zauberspruch. Anna hatte richtig gelegen. Jetzt war Anna doch wieder neidisch. Sir musste zusehen, wie alle ihre Besen testeten. Magnolia ging eher förmlich an die Sache heran und testete erst einmal, wie gelenkt wurde. Konrad machte sich mit seinem rasanten Flugstil erneut zum Affen und Eugenie hatte entweder Höhenangst oder ihr war schlecht. Sie landete schnell wieder. Unterdessen zog sich der Rat in ein Zelt zurück, das Pestilla mit dem Zauberstab herbei rief.
Den anderen Junghexen zuzusehen, war nicht gerade schön für Anna. Doch jetzt merkte sie, dass eine Gruppe Hexen auf sie zu kam. Schnell rettete sie sich und ging weg. Wenig später landeten die ersten Junghexen und Anna wartete auf Magnolia. Sie unterhielt sich mit Nemo, der scheinbar ein ziemlicher Angeber war und mit Konrad, der aber recht schnell gehen wollte, da er nach Hause gehen und seiner Großmutter berichten wollte. Anna fragte sich langsam, wo Magnolia steckte. Sie war wohl mit Jörna unterwegs, denn die war auch noch nicht zurück.
"Weißt du, wo meine Tante stecken könnte?", fragte Magnolia, sobald sie mit Jörna zusammen gelandet war. Ihre Tante? Damit war wohl die Ratshexe gemeint, die so besorgt um Magnolia gewesen war.
"Nein. Der Rat hat schon Schluss gemacht. Wollen wir zusammen suchen?", fragte Anna. Magnolia nickte. Auch Jörna war nett. Sie lud Magnolia und Anna zu etwas zum Essen ein, was beide dankbar annahmen.
"Was machst du bis zum Unterricht im Januar?", fragte Magnolia Jörna.
"Keine Ahnung." Jörna zuckte mit den Schultern.
"Wir sind erst vor zwei Wochen nach Wurmstadt gezogen und sind gerade dabei, uns einzurichten. Wir wohnen übrigens in einem alten Gutshof mit 15 Kaminen. Wenn ihr mögt, könnt ihr mich dort besuchen. Wurmstadt ist gar nicht so weit von Rauschwald entfernt." Aus dieser Aussage schloss Anna, dass Magnolia in Rauschwald wohnte.
"Eine fabelhafte Idee.", brummte jemand hinter den drei Mädchen.
"Ich bestehe allerdings darauf, dass du deine Tante mitbringst.", sagte die rotblonde Frau hinter ihnen an Magnolia gewandt.
"Darf ich vorstellen? Meine Mutter. Mama, das sind Magnolia und Anna.", sagte Jörna.
"Anna? Tatsächlich?", fragte die Tante von Magnolia.
"Linette Kater.", stellte sie sich vor. Anna lehnte es ab, mit den Hexen über ihre Vergangenheit zu sprechen, auch, wenn sie die Neugierde nachvollziehen konnte. Dann wollte Linette Kater auch schon wieder aufbrechen.
"Wir werden uns jetzt auf den Heimweg machen, bevor Magnolia einschläft und ich sie auf ihrem Besen festbinden muss.", begründete sie das. Es stimmte. Magnolia sah tatsächlich recht schläfrig aus. Kurz darauf wollten auch Jörna und ihre Mutter gehen.
"Schade.", sagte Anna.
"Schau doch mal nach Pestilla. Ich denke, sie wird auch bald aufbrechen.", schlug Jörna vor.
"Stimmt. Hoffentlich sucht sie nicht schon nach mir.", sagte Anna und beeilte sich, zur Kutsche der Oberhexe zu kommen.
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