Kapitel 2: Neuanfang
Schwach klammerte ich mich ans Lenkrad und versuchte mit drei großen Atemzügen zur Ruhe zu kommen. Es war alles gut. Ich saß im Auto und mir konnte nichts passieren. Ich hatte es geschafft mich aus dem Staub zu machen und aus Oklahoma zu verschwinden.
Das schwarze Spitzenkleid schnürte mir die Taille ab. Ich hätte es wohl schon vor Jahren aussortieren sollen, anstatt es zu behalten. Wie viele Male hatte Mom mir damit in den Ohren gelegen, dass ich aus dem Kleid herauswachsen würde?
Vor nicht einmal 24 Stunden hatte sie nichts zum Kleid gesagt, weder hatte sie dazu einen Kommentar abgegeben. Stattdessen war sie ziemlich von der Trauer befangen und hatte kein einziges Wort über irgendetwas verloren.
Ich hingegen konnte nichts erwidern. Ich konnte nicht wie andere an das Podest treten und ein paar Worte über ihn verlieren. Was hätte ich auch sagen sollen, außer dass mich so viele fremde Menschen angestarrt hatten, als würden sie die perfekte Rede von mir erwarten. Eine Erzählung, die ich ihnen über den besten Menschen geben könnte, die er verdient hätte. Aber in Wirklichkeit hatte er sie nicht verdient. Er hatte es nicht verdient.
Er hatte noch so vieles vor sich. Sie beide hatten noch so viele Träume und Ziele vor sich, die sie nicht mehr erreichen konnten. Von jetzt auf gleich wurden er aus unserem Leben entrissen.
Meine Augen füllten sich mit weiteren Tränen, die ich wegzuwischen versuchte. Es fiel mir so schwer, mich an meinen Wagen zu klammern und in die Richtung zu fahren. Vielleicht sollte ich eine Pause machen, den Wagen abstellen und weiter weinen. Nein, dachte ich mir und blinzelte die Tränen weg. Ich hatte genug geweint. Ich hatte so viele Tränen für nichts und wieder nichts vergossen. Jetzt war es nicht der richtige Zeitpunkt.
Es war nicht richtig. Es fühlte sich so gar nicht richtig an, in Tränen auszubrechen.
Also fuhr ich gefasst weiter, legte den Blick auf die Straße und auf die restlichen Meilen, die noch vor mir lagen. Seit Stunden saß ich in meinem Wagen fest und hoffte nur noch darauf, endlich anzukommen. So wie meine Stimmung gerade war, spielte das Wetter nicht mit. Statt Regen strahlte mir die Sonne entgegen. Bevor ich nach meiner Sonnenbrille kramte und das Sonnenlicht vor meinen Augen abschirmte. Ausgerechnet heute musste es schönes Wetter geben. Dabei hatte ich mir tatsächlich den Regen herbeigesehnt. Immerhin würde es keinen Unterschied machen, ob ich wirklich am weinen war oder nur vom Regen durchnässt wäre. Hier bei Sonnenschein die ein oder andere Träne zu verlieren, würde alles verschlimmern.
Ohne weiteres blickte ich hochkonzentriert auf die Straße, bis das Handy aus meiner Halterung zu klingeln begann. Sofort schaute ich zurück auf die Straße und ließ mich nicht von der Nachricht ablenken, die gerade eingegangen war. Ich wusste ganz genau, von wem sie war. Welche Person mich zu erreichen versuchte oder wer ununterbrochen mich angerufen hatte.
Denn um ehrlich zu sein, hatte das Telefon vor Stunden geklingelt. Selbst bei meiner Pause hatte ich mich nicht dazu bereit gefühlt, den Anruf anzunehmen.
Irgendwann verebbte der Klingelton und vor Erleichterung stieß ich die Luft aus. Aber ich hatte mich wohl zu früh gefreut, als mein Handy erneut zu vibrieren begann. Noch bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, zerrte ich es aus der Halterung und beförderte es hinten auf den Rücksitz. Nein, ich hatte keinen Nerv dafür. Ich konnte den Anruf nicht annehmen. Sie hatten mich belogen. Sie hatten mich beide jahrelang angelogen.
Es war kein großes Hindernis, hinter das Geheimnis zu kommen, was sie siebzehn Jahre vor mir verborgen hatten. Eigentlich hätte ich etwas wie Hass empfinden müssen, stattdessen hatte ich den Entschluss gefasst alle sieben Sachen zu packen und von hier zu verschwinden. Also hatte ich kurz vor der Beerdigung meine Sachen in meinem Wagen gelagert, um mich dann aus dem Staub zu machen. Ich weiß, es war nicht gerade der perfekte Abgang. Vielleicht war es das nicht, aber ich konnte einfach nicht mehr dieselbe Luft wie sie atmen. Ich konnte mich nicht mehr im Haus aufhalten, wo mich alles an ihn erinnerte.
Als sein Gesicht vor meinen Augen auftauchte, schnürte sich meine Kehle zu. Nicht weinen Lee, du hast es gleich geschafft. Reiß dich bloß zusammen.
Immer wieder ermahnte ich mich dazu, bloß nicht aufzugeben und keine weitere Träne zu verlieren.
»Warum hat uns keiner gesagt, dass Weinen anstrengend ist, Corey?«, seufzte ich schwer und klammerte mich ans Lenkrad fester. Tränen brannten in meinen Augen und der Schmerz, an den ich mich aus purer Verzweiflung klammerte, wollte einfach nicht verschwinden.
Seufzend kniff ich die Augen zusammen, zählte innerlich die ersten fünf Sekunden, bis ich die Augen öffnete und meine Tränen versiegt waren. Aber es hielt nicht von Dauer an, denn plötzlich erwischte mich der nächste Tränenschwall und ich konnte es nicht mehr halten. Noch bevor ich überlegte, riss ich das Steuer ruckartig nach rechts und geriet ins Stoppen. Unwillkürlich schälte ich mich aus meinem Wagen, sprang auf dem harten Asphalt und ließ die Autotür laut zufallen. Der Schmerz klopfte mir bis zum Hals. Wenn ich ein einziges Wort verlor, würde ich losschreien. Am liebsten würde ich einfach auf die Knie sinken und den Schmerz loslassen, der sich in mir eingenistet hatte. Doch ich konnte es einfach nicht. Ich musste stark bleiben. Für ihn würde ich stark sein, egal wie schwer mir das fallen wird.
So kam es, dass ich nach Luft schnappte, die Augen schloss und mich fröstelnd fest umarmte. Dabei stellte ich mir vor, dass ich von ihm festgehalten wurde. Dass er mir den schiefen Seitenblick schenkte und eine Grimasse schnitt. Aber bevor ich wieder gegen das grelle Sonnenlicht blinzelte, wohnte eine Leere in mir bei. Statt in die braunen Augen aufzusehen, blickte ich auf die leere Straße entgegen. Anstatt eines Lächelns wurde ich mit noch mehr Kälte begrüßt. Fröstelnd umklammerte ich mich fester und starrte den Horizont entgegen. Wieder zählte ich die Sekunden nach unten. Eins, zwei, drei, vier... bevor ich bei fünf mich aus meiner Bewegung riss und auf meinen Wagen zusteuerte. Ich bin stark, flötete ich mir ein. Ich bin stark und werde nicht aufgeben.
Fünfzehn Stunden Autofahrt lagen direkt vor mir und ich spürte schon meine Beine nicht mehr. Durch das viele Autofahren konnte ich nur noch die letzte Energie aus mir herausschöpfen, bis ich endlich das Haus sichtete, was mir durch das Foto vertraut war.
Ein letztes Mal schaute ich auf das Gebäude hinauf und nahm es genauer in Augenschein. Es war ein Holzhaus, mit hellblauen Fassaden und umring von vielen Bäumen und Pflanzen. Der Garten wirkte gehegt und gepflegt und selbst die Straße wurde anscheinend gut von Autos befahren. Das war also mein Neuanfang, dachte ich mir und schnallte den Gurt ab. Langsam öffnete ich meine Fahrertür, stieg aus meinem Wagen aus und ließ die Tür hinter mir zufallen. Dabei hatte ich das Haus noch einmal in Augenschein genommen.
»Das muss es wohl sein.«, murmelte ich vor mich hin und marschierte direkt auf das Haus zu. Ich hatte kein einziges Auto gesichtet. Komisch, dabei hatte er mir doch versichert zuhause zu sein.
Um nicht doch mit den Gedanken zu spielen wieder ins Auto zu steigen, rannte ich direkt auf die Haustür zu, und blieb vor der großen Holztür stehen. Suchend blickte ich mich in allen Richtungen um, bis ich das Namensschild oberhalb der Klingel fand.
Family North
Das mussten sie sein, stellte ich fest. Gedankenverloren betätigte ich die Klingel und ein lauter Gong schallte durch das ganze Haus wieder. Während ich vor der Haustür stand, überlegte ich, ob Flucht nicht doch die perfekte Option wäre. Aber dann wurden meine Gedanken von lauten Schritten unterbrochen und tatsächlich wurde die Haustür geöffnet.
Mir fielen fast die Augen aus dem Kopf, als ein kleiner Junge vor mir stand, der mich aus großen Augen anstarrte. Schlagartig droschen alle Erinnerungen auf mich ein.
Plötzlich stand er direkt vor mir, musterte mich weitgehend, während ich mit mir den Kampf ausfocht nicht doch von hier abzuhauen.
Nein du bist stark. Du bist stark.
»Hey.«, fiel es mir unkontrolliert von den Lippen, was wohl das Fass zum überlaufen brachte. Denn keine Sekunde später rannte der Junge schreiend von mir weg, begleitet von lauten Mama und Papa Rufen.
Innerlich könnte ich mich dafür ohrfeigen. Na das hast du ja wirklich super hinbekommen, Lee.
»Moooom! Daaad! Da ist jemand an der Haustür!«
Es hatte wohl keinen Sinn. Vielleicht sollte ich doch von hier verschwinden. Mein schlechtes Gewissen, was so plötzlich kam, versuchte, mir Vernunft einzubläuen. Ich hätte nicht herkommen sollen. Ich hätte nicht so überstürzt handeln dürfen. Genau jetzt wurde mir bewusst, wie bescheuert diese Idee nur war. Um nicht noch mehr in Ärger zu versinken, machte ich auf den Absatz kehrt und steuerte auf meinen Wagen zu.
»Leannah?!«, hörte ich eine Stimme nach meinen Namen rufen. Augenblicklich fuhr ich zu der Person herum und meine Augen weiteten sich. Ein älterer Mann, nicht gerade älter als mein Dad, stand direkt vor mir. Aber es war nicht das, was mich so aus dem Konzept brachte. Noch vor Tagen hatte ich daran keinen Glauben abgetan. Aber jetzt genau jetzt in diesem Moment stand die Wahrheit direkt vor mir ins Gesicht geschrieben. Ein Spiegelbild von mir selbst blickte mir entgegen. Vertraute graue Augen, die mir so vertraut waren, als würden sie zu mir gehören. Der volle Mund, der sich nun zu einem Lächeln verzog, was mir nicht fremd war. Und dann dazu das Gesicht, was leichte markante Züge besaß. Ich konnte es nicht mehr leugnen. Vor mir stand eindeutig eine Wahrheit, die ich erst jetzt aufgedeckt hatte.
Mein leiblicher Dad.
»Bist du Sam North?«
Auf einmal verschwand das Lächeln von seinen Lippen. Erschrocken starrte er mich an. Was hatte er wohl erwartet? Dass ich ihn Dad nennen würde?
Der Mann vor mir schien sich schnell gefangen zu haben. »Ja, ich bin Sam North und dein...«
»Wie auch immer.«, fiel ich ihm eilig ins Wort. Ich wusste ganz genau, dass er gerade das Wort Dad sagen wollte, aber ich konnte es einfach nicht zulassen. Er war nicht mein Dad. Vielleicht stand auf den Papieren, dass ich sein Fleisch und Blut war. Aber er hatte mich in Stich gelassen.
Sam schien sich Unbehagen zu fühlen, was ich ihm nicht verübeln konnte. Er schien es sich haargenau zu überlegen, wie er mit mir umgehen sollte. Sollte er mich umarmen, mich anders begrüßen oder mich ganz in Ruhe lassen?
Unbeholfen sahen wir uns an, während in mir der Sturm wütete. Ich verspürte solch eine Wut in meinem Bauch, die hoffentlich schnell verpuffen würde. Du kennst seine Hintergründe nicht, dachte ich mir. Du weißt nicht, warum dein leiblicher Vater dich nie zu dir genommen hatte. Oder warum er dich im Stich gelassen hatte. Denn genau das hatte Sam. Vor wenigen Tagen brach meine Welt in sich zusammen, weil das Schicksal ein mieser Verräter war. All meine Illusion von meiner Familie wurde durch diese knallharte Wahrheit zerstört.
Ich konnte es immer noch kaum glauben, dass ich damals adoptiert wurde. Siebzehn Jahre wurde ich belogen und betrogen und jetzt? Jetzt wusste ich nicht mehr, was mein wahres Zuhause war. Mir wurde meine Heimat genommen. Mir wurde der Mensch genommen, der alles für mich war. Und es schmerzte zu sehr, zu wissen, dass Corey nie mein richtiger Bruder war.
»Also wir können deine Sachen aus dem Auto holen und dann ins Haus gehen?«, machte mir Sam den Vorschlag, woraufhin ich einwilligte. Sobald Sam den Weg auf mich zumachen wollte, winkte ich nur mit der Hand »Ich hole nur meine Sachen aus dem Auto. Du musst mir nicht helfen.« Sekundenschnell hatte ich mich von Sam abgewandt und steuerte direkt auf mein Wagen zu. Es war nicht zu verkennen gewesen, dass er mir helfen wollte. Doch ich konnte es einfach nicht zulassen. Wir werden wohl einen langen Weg vor uns haben, bis wir auf einer Vater und Tochter Ebene sein werden.
Nur bezweifelte ich es, dass wir jemals eine Bindung zueinander aufbauen könnten. Gedankenverloren warf ich mir meine Sporttasche über die Schulter, kramte meine Zimmerpflanze hervor, die die Fahrt so gut wie weggesteckt hatte. Zum Glück, dachte ich mir und verdrängte den Schmerz nach hinten, der mich mit Corey verband. Ich habe keine Zeit dafür. Ich muss stark bleiben und Stärke beweisen. Keine Tränen, keine Schwäche, ermahnte ich mich schlicht und ließ die Autotür hinter mir zufallen. Ein letztes Mal blickte ich in den Wagen, bis ich mich umdrehte und auf Sam zuging. Das hier wird also mein Neuanfang sein. Nur mit dem Unterschied, dass es mir jetzt schon falsch vorkam, hier zu sein.
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