Z W E I U N D D R E I ß I G
Am nächsten Morgen werde ich vom Kitzeln der Sonnenstrahlen in meinem Gesicht geweckt. Schläfrig drehe ich mich zur Seite, ein träges Lächeln im Gesicht.
»Auch schon wach?«, dringt eine belustigte, raue Stimme an mein Ohr. Ich brauche einen Moment, um zu realisieren wo ich mich befinde, wer ich überhaupt bin und vor allem, wessen Stimme es ist, die ich da höre.
Schlagartig reiße ich meine Augen auf. Mein Herz tut einen Satz und schlägt ungefähr doppelt so schnell wie zuvor. Ich bin in Silas' Schlafzimmer. In seinem Bett.
Ich bin in Silas' Bett.
Sofort ziehe ich mir die Decke ans Kinn. Am liebsten würde ich sie mir komplett über den Kopf ziehen und verschwinden.
»Hast du Hunger, ich... äh, hab Frühstück gemacht.« Um seine Worte zu unterstreichen hebt er das Tablett, welches ich erst jetzt registriere, kurz in die Höhe. Hastig nicke ich. »Oh, danke! Ich, ja... hab tatsächlich Hunger.«
Verlegenes Schweigen dehnt sich zwischen uns aus. Er stellt das Tablett auf dem Bett während ich mich zeitgleich darüber beuge, sodass unsere Köpfe fast aneinander schlagen. Murmelnd entschuldigen wir uns bei dem jeweils anderen.
Er räuspert sich, deutet in einer kurzen fahrigen Bewegung aufs Frühstückstablett. »Naja, ich habe von allem was dazu getan. Wenn dir irgendwas nicht schmeckt, lass es ruhig da.«
Ich klopfte neben mir auf die Matratze. »Setz dich doch zu mir.«
»Hatte ich vor. Wenn es für dich okay ist.«
»Was?! Natürlich ist das okay!« Leise füge ich noch hinzu: »Ist ja jetzt wirklich nicht so, als hätten wir es noch nötig, umeinander zu schleichen.«
Silas schnaubt. »Touché.«
Er lässt sich zaghaft neben mir nieder, natürlich mit gebührendem Abstand und auf der Decke. Ich kann mich gerade so noch davon abhalten, die Augen zu verdrehen und ›Ich bin nicht giftig, wie du weißt‹ zu sagen. Doch das wäre auch nicht nötig, denn er scheint mir vom Gesicht abgelesen zu haben, was ich wirklich denke. Mit einem entschuldigenden Lächeln rückt er näher zu mir, schlüpft allerdings nicht unter die Decke.
»Okay, dann... guten Appetit?«, frage ich witzelnd. Er lächelt, doch es ist ein trauriges Lächeln.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Ich stutze. »Vielleicht beim Croissant anfangen?« Doch Silas geht nicht auf meinen humorvollen Ton ein. »Romy... ich bin dir Antworten schuldig. Noch immer. Das tut mir sehr leid.«
»Ja, klar bist du das, aber müssen wir das direkt jetzt klären?«
»Du hast mich doch ständig danach gefragt. Zurecht, natürlich.«
»Klar, das stimmt auch. Aber eigentlich würde ich jetzt echt gerne diese Brioche kosten.«
Er schmunzelt, doch wieder hat sein Lächeln eine traurige Note.
»Irgendwie hat es sich nie wie der richtige Moment angefühlt, um dir davon zu erzählen. Mit jedem Tag, den ich warte, um es dir zu sagen, hasse ich mich ein Stück mehr. Ich hasse mich dafür, dass ich dich so auf die Folter spanne, dafür, dass ich dir wehtun werde und dafür, dass ich so egoistisch war, dich überhaupt in mein Leben zu lassen.«
Resigniert und ein klein wenig enttäuscht verabschiede ich mich von der Idee, gleich den lieblich süßen Geschmack des Brioches auf meiner Zunge zu haben und wende mich Silas mit meinem Oberkörper zu.
»Weißt du was? Sag's mir einfach jetzt.«
Er wirkt überrumpelt. »J-jetzt?«
»Jetzt. Genau jetzt.«
Er scheint keine Anstalten zu machen, zu sprechen. Ich seufze leise.
»Manchmal muss man die Dinge einfach hinter sich bringen. Wie ein Pflaster abreißen.«
»Ich habe Krebs.«
Ich blinzele. »Was?« Irgendein Teil von mir hat seine Worte gehört und auch verstanden. Doch ein anderer Teil von mir – der wesentlich größere – ist nicht dazu in der Lage, wirklich zu begreifen, was er da gesagt hat.
»Wieso... sagst du sowas? Wie meinst du das?«, würge ich hervor.
»Ich sage es, weil es stimmt.« Silas' Stimme klingt überraschend ruhig dafür, wie schwerwiegend das ist, was er mir da enthüllt hat.
»Okay und... was für... wie...?«
»Der Krebs ist in meinem Hirn. Sehr tückische Sorte von Hirntumor.«
Ich nicke langsam, kann gar nicht mehr damit aufhören. Ich erinnere mich daran, dass meine Tante früher mal Brustkrebs hatte. Sie wurde bestrahlt und musste eine Chemotherapie machen, sie konnte den Krebs besiegen.
Nachdem diese Erinnerung wieder auftaucht, schwindet diese Starre in mir ein wenig. Man mag es fast Erleichterung nennen, doch es wäre nicht ganz akkurat.
»Okay«, beginne ich geschäftig, »wie wird der Krebs behandelt? In was für einem Stadium bist du? Was für Heilungschancen gibt es?«
Silas seufzt schwer. Sehr schwer. Das gefällt mir überhaupt nicht.
»Es ist ein... schlimmer Tumor«, entgegnet er mit Grabesstimme.
»Okay?«, sage ich gedehnt und weigere mich schlicht, mich von dieser endgültigen Stimmung, die in der Luft liegt, anstecken zu lassen. »Was heißt das dann?«
»Das bedeutet, dass ich um Grunde genommen keine Heilungschancen habe... um eine deiner vorherigen Fragen zu beantworten.«
Er klingt so ruhig, als er das sagt. So verdammt ruhig, dass es mich irgendwie wütend macht.
»Also musst du sterben?«, hake ich nach.
»Wir alle müssen irgendwann sterben«, antwortet er lakonisch.
»Das ist definitiv nicht der richtige Augenblick für eine Philosphiestunde«, zische ich aufgebracht. Silas hat den Anstand, um betreten den Blick zu senken. »Du hast recht, es tut mir leid. Ich schätze, für mich war der einzige Weg, mit diesem... Ding in meinem Kopf umzugehen, kompromisslose Ironie. Sarkasmus. Humor. Alles andere... wenn ich wirklich anfangen würde, mich auf diesen Gedanken einzulassen, dass... naja, dass ich vielleicht noch ein paar Jahre habe, wenn es hochkommt... dann würde ich durchdrehen.« Er fährt sich durch die kurzen Haare. »Verdammt, ich hatte doch noch so viel vor.«
Ich räuspere mich und schlucke, doch dieses kratzige, enge Gefühl in meinem Hals will trotzdem nicht verschwinden.
»Wie lange hast du noch genau?« Eine Frage, die ich stellen muss, auch wenn ich die Antwort darauf eigentlich gar nicht hören möchte.
»Das kann man schwer sagen. Aber leider nicht ewig.«
»Es muss doch irgendwelche Zahlen geben, die du mir auftischen kannst.«
Silas nickt bedächtig. »Die gibt es. Aber ich will dir am liebsten keine Zahlen auftischen. Schätze, ich komm aber nicht drum rum, was?«
»Bitte sag mir einfach, wie lange du noch hast«, murmle ich mit enger Kehle und fühle mich merkwürdig distanziert von der ganzen Situation. Es fühlt sich beinahe so an, als würde ich Silas und mich von oben aus der Ferne betrachten.
»Es ist nicht immer möglich, eine genaue Zahl zu sagen, hängt von einigen Faktoren ab, wie es am Ende dann für mich läuft. Maximal vier Jahre werde ich wahrscheinlich haben. Die Zahlen sind leider gegen mich, da eher wenige wirklich so lange durchhalten.«
Eine eiserne Hand legt sich um meine Kehle. Meine Stimmbänder fühlen sich an, als wären sie zusammengeknotet. Tausend Worte liegen mir auf der Zunge, doch ich bin nicht dazu in der Lage, auch nur eines hervorzubringen.
»Aber...«, setze ich an, weiß jedoch gar nicht, wie ich diesen Satz beenden soll. Aber was? Zu sagen, dass das alles doch so verdammt unfair ist, schmeckt mir nicht. Es entspricht zwar der Wahrheit, schneidet jedoch die Gefühle, die ich gerade empfinde, die Gedanken, die mir im Kopf umherschwirren, nicht mal ansatzweise an.
»Was kann ich für dich tun, Romy? Was brauchst du? Soll ich dich allein lassen? Willst du nach Hause? Bitte sag's mir.« Silas sieht mich bei diesen Worten so besorgt an, aber eigentlich bin doch ich diejenige, die besorgt um ihn sein sollte. Das ist einfach so verkehrt.
»Kannst du bitte einfach nicht sterben?«, flüstere ich, da ich meiner Stimme nicht traue. Ich fühle, wie mir bereits Tränen in den Augen brennen und dränge sie gewaltsam zurück.
Er lächelt traurig. »Ich wünschte, ich könnte dir diesen Wunsch erfüllen.«
...
Ich habe bereits jegliches Gefühl für Zeit verloren. Mir kommt es vor, als wäre es lediglich einige Stunden her, dass ich an Silas' Tür geklopft habe, aber ich weiß ziemlich sicher, dass es mindestens zwei oder drei Tage her sein muss.
Es ist nicht so, dass wir das Thema Tod und Krebs von nun an komplett gemieden haben, im Gegenteil. Wann immer es einem von uns beiden in den Sinn kam, darüber zu sprechen, taten wir es einfach. Mittlerweile weiß ich ein wenig mehr über den weiteren Verlauf und das, was auf ihn – auf uns – zukommt.
Ich habe mich dazu entschieden, die Zeit die wir noch haben, zu nutzen und ihn zu unterstützen. Mir ist bewusst, dass es mitunter auch noch richtig hässlich werden kann, für beide von uns, doch das nehme ich gerne in Kauf wenn es bedeutet, ihn auf seinem restlichen Weg begleiten zu dürfen.
Ich habe Silas Fragen gestellt, viele Fragen. Das Wissen, dass ich dadurch erlangt habe, ist einerseits sehr verstörend und beunruhigend, andererseits gibt es mir ein Gefühl von Sicherheit, genauestens (oder zumindest so genau wie möglich) Bescheid zu wissen.
Wir sind viel zu zweit, reden miteinander über Gott, die Welt, alles und nichts. Natürlich hat Silas sich die Frage gestellt, warum es gerade ihn treffen musste. »Manchmal fühlt es sich an, wie ein trauriger Witz, wie ein Mittelfinger des Universums. Hast du gewusst, dass ein Tumor wie ich ihn habe normalerweise gar nicht bei Menschen in meinem Alter auftaucht? Diese Art des Hirntumors ist ja sowieso schon selten, aber wenn man es bekommt, dann eher ab mittleren Alters aufwärts – so haben es die Ärzte zu mir gesagt. Ich bin gerade mal fünfundzwanzig.«
Wenn ich Silas so sprechen höre, bricht es mir das Herz. Ich kann plötzlich verstehen, wie es sich anfühlt, den Glauben verloren zu haben. Was für ein absolut kranker Witz steckt dahinter? Willkür, nichts als Zufall würden Wissenschaftler vielleicht sagen. Ich jedoch, habe keine Ahnung.
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