D R E I U N D D R E I ß I G
Silas und ich haben eine Art Blase gefunden, in die wir uns flüchten können. Diese Blase ist sein Haus, das ohnehin schon so aus der Zeit gefallen wirkt, dass man sich fast tatsächlich ein wenig so fühlt, als wäre man in einer anderen Dimension. An einem Ort, an dem es keinen Krebs gibt und keinen Tod, der es schlicht nicht abwarten kann, sich junge Menschen zu holen.
Doch natürlich ist das alles nichts anderes als eine Blase, nicht mehr und nicht weniger. Blasen haben es auch leider so an sich, dass sie schockierend schnell zerplatzen können. Die Welt da draußen, die so verdammt schonungslos sein kann, beginnt immer mehr zu uns hindurchzuschimmern.
Wir sitzen auf einem der antiken, mit teurem Stoff bezogenen Sofas im Haus und witzeln darüber, dass alle Polstermöbel hier leicht müffeln und eine Reinigung dringend nötig hätten. Das ein oder andere Mal haben wir dann gemeinsam durch mein Handy gescrollt und Videos von mir angeschaut – auf Silas Wunsch hin. Mir ist das ganze ehrlich gesagt sehr peinlich und ich würde am liebsten im Boden versinken.
Ich genieße es allerdings in solchen Momenten, ihn heimlich von der Seite zu betrachten. Es ist schön zu sehen, wie viel Freude er daran hat, mir dabei zuzusehen, wie ich anderen Menschen das Schminken beibringe. Hier und da lacht er sogar, wenn ich einen Witz einbringe. Ich kann nicht mitlachen, da ein Teil von mir insgeheim schon immer dachte, dass ich eigentlich gar nicht wirklich witzig bin und nur ich meine Kommentare lustig finde. Scheint, als müsste ich mich vom Gegenteil überzeugen und anerkennen, dass ich die Leute hier und da tatsächlich zum Lachen bringen kann.
Heute ist es wieder so, dass wir uns Videos ansehen. Doch anders als die anderen Male scheint Silas heute die Kommentarfunktion für sich entdeckt zu haben. Wir schauen uns das alles immer noch von meinem Handy an, da Silas kein Social Media hat, deswegen kommentiert er natürlich nichts. Doch das Durchlesen der Kommentare macht ihm dafür umso mehr Freude.
Mit freudestrahlendem Blick sieht er zu mir und hält mir meinen Bildschirm hin, auf eines der Kommentare deutend. »Die Leute lieben dich! Zurecht, möchte ich sagen.« Er schüttelt ungläubig den Kopf. »Wenn ich gewusst hätte, dass ich irgendwann mal mit so einer Berühmtheit zu tun habe, hätte ich mir vielleicht einen besseren Haarschnitt zugelegt.« Ich lache laut los. »Du redest so einen Schwachsinn!«
Eine Weile lachen wir noch miteinander, dann widmet sich Silas wieder anderen Kommentaren. Mich beschleicht ein mulmiges Gefühl, da es nur eine Frage der Zeit ist, bis er auf eines stoßt, das nicht besonders nett ist.
Fast hätte ich ihm schon vorhin gesagt, dass es so ist, dass mich leider nicht jeder liebt. Doch irgendwie habe ich es nicht übers Herz gebracht.
Ich soll bedauerlicherweise recht behalten mit meiner Prognose. Ich kann förmlich mitverfolgen, wie das breite Grinsen aus Silas' Gesicht einem besorgten Stirnrunzeln Platz macht. »Das ist nicht sehr nett«, murmelt er und deutet auf ein Kommentar, welches sagt, dass meine Stirn viel zu groß ist. Müde lache ich.
»Da habe ich schon schlimmeres gesehen.« Silas sieht mich schockiert an und mir wird bewusst, dass er natürlich keine Ahnung hat, wie man mit sowas umgeht, ich jedoch mehrere Jahre damit verbracht habe, es zu lernen.
Ich nehme seine Hand. »Hör mal, ich will das auch gar nicht runterspielen. Solche Kommentare sind scheiße und nicht akzeptabel. Mit der Zeit habe ich gelernt, sowas richtig einzuordnen und damit gut umzugehen. Schau...«, ich nehme ihm das Handy aus der Hand, melde den Benutzer, blockiere die Person und lösche den Kommentar, »...so einfach geht das.«
Er schluckt hart. »Also als ›einfach‹ würde ich das jetzt nicht bezeichnen.«
Ich seufze tief. »Mittlerweile ist es auf jeden Fall einfacher für mich als vor ein paar Jahren, als ich mit Social Media angefangen habe. Es hilft mir, dass ich zu einem Zeitpunkt erkannt habe, dass solche Kommentare rein gar nichts mit mir zu tun haben. Menschen, die solche Worte an mich richten, sind die einzigen, mit denen das alles überhaupt etwas zu tun hat. Das sind Leute, denen ich in meinem Leben nie begegnet bin und die meine Visage aus irgendeinem Grund überhaupt nicht leiden können. Ich habe schon mal den Fehler gemacht, das viel zu nah an mich ranzulassen. Mach nicht auch diesen Fehler.«
Silas denkt eine Weile über meine Worte nach, dann nickt er bedächtig. »Ich verstehe, was du sagst. Mich hat es vorhin einfach trotzdem so kalt erwischt, als... okay, nicht böse sein, aber da war ein Kommentar, der noch sehr viel schlimmer war als dieser von gerade eben. Ich habe ihn dir nicht gezeigt, weil ich dich nicht traurig machen wollte.«
Ich umschließe Silas' Wange mit meiner Hand und streiche ihm über die Haut. »Ich bin nicht böse. Du bist so unglaublich süß.« Ich deute auf mein Handy, welches auf dem Sofa zwischen uns beiden liegt. »Möchtest du mir den Kommentar zeigen?« Ich habe das Gefühl, dass es ihm gut tun könnte, darüber zu reden.
Er sucht ihn heraus und hält mir dann resigniert das Handy hin.
»Wie oft muss man einer solchen dummen Kuh wie dir eigentlich sagen, dass sie sich verpissen soll? Du checkst es einfach nicht!«
»Kommt mir bekannt vor«, murmle ich, als ich dann auch noch einen ähnlichen Username sehe, wie die Male zuvor. Ich bin mir sehr sicher, dass sich diese Person mit den Hasskommentaren erneut einen neuen Account eingerichtet hat.
Für einen kurzen Moment habe ich den Gedanken, wie unglaublich banal es doch ist, sich jetzt mit sowas auseinanderzusetzen, wo Silas doch Krebs hat. Doch ehrlich gesagt begrüße ich diese Ablenkung enorm.
»Wie genau meinst du das?«, will Silas jetzt wissen. Ich blinzele, aus meinen Gedanken gerissen. Ich winke ab. »Ach, vergiss es. Ich hatte letztens nur immer den gleichen User – oder die gleiche Userin – die mir solche Kommentare dagelassen hat. Ich habe den Account gemeldet, aber es hat nicht lange gedauert, bis dann wieder ein neuer aufgetaucht ist.«
Silas sieht mich leicht alarmiert an. »Wie hast du herausfinden können, dass es die gleiche Person ist?«
»Hab's am Satzbau und generell am Inhalt erkannt. Zumindest sagt mir mein Bauchgefühl, dass es ein und dieselbe Person ist.«
»Wie oft ist das bisher passiert?«
Ich zucke die Schultern. »Ein paar Mal vielleicht? Zwei, drei? Sowas.«
Nachdenklich nickt Silas. Dann sagt er: »Kann ich diesen Username nochmal sehen?«
Ich bejahe und gebe ihn mein Handy. Stirnrunzelnd betrachtet er das Display. »Erinnerst du dich zufällig noch an die anderen Usernames davor?« Tatsächlich habe ich sie mir damals sogar aufgeschrieben. Ich weiß zwar nicht wirklich, was es bringen soll, aber ich nenne ihm die Namen.
Silas brütet weiter vor sich hin, bis er schließlich sagt: »Das scheint alles die Abwandlung eines Geburtstages zu sein. Zuerst ist da einmal die Drei, Null, dann die Acht. Anschließend kam die Sechzig und die Sechzehn. Jetzt haben wir Hundertzwanzig und Zweiunddreißig.«
Verwirrt schüttle ich den Kopf. »Aber warum muss das unbedingt ein Geburtstag sein? Könnte sich doch auch einfach um irgendwelche Zahlen handeln.«
»Nein, das glaube ich nicht. Wenn man nicht herausragend kreativ ist – was auf die allermeisten Leute wohl zutrifft – entscheidet man sich bei Passwörtern, Codes und eben auch Usernames meistens für eine Zahl, die einem was bedeutet. Lässt sich leichter merken, zum Beispiel. Oft sind das nun mal Geburtstage, entweder der eigene oder der von einem geliebten Menschen oder Haustier.«
Ich stemme die Hände in die Hüften. »Okay, und was für einen Geburtstag hast du da rausbekommen?«
»Müsste der dreißigste August sein. Kennst du da jemanden? Diese Kommentare klingen schon sehr persönlich motiviert. Kurz dachte ich, dass es Nathalie sein könnte, aber sie klingt einfach anders und hat auch wann anders Geburtstag.«
Mir klappt der Mund auf. Aber das kann nicht sein.
»Du siehst aus, als würdest du tatsächlich jemanden kennen, der da Geburtstag hat«, stellt Silas nüchtern fest.
Ich räuspere mich. »Susann. Meine eine Freundin. Ich müsste dir von ihr erzählt haben.«
Er nickt. »Ich erinnere mich. Könnte sie das denn gewesen sein? Traust du ihr sowas zu?«, fragt er mich mit prüfendem Blick. Ich puste einen Schwall Luft aus. »Eigentlich nicht, aber andererseits... schon. Ach, keine Ahnung. Sie war wirklich sehr komisch in letzter Zeit. Ich kann es mir auch nicht wirklich erklären. Ich schätze, ich werde sie mal damit konfrontieren.«
»Kannst du auf jeden Fall machen. Aber formuliere es mit Bedacht. Es besteht ja trotzdem noch die Chance, dass sie es nicht war. Ist lediglich eine Möglichkeit.«
»Klar, auf jeden Fall.«
Merkwürdigerweise trifft mich die Vorstellung, dass Susann sowas getan haben könnte, gar nicht so sehr wie erwartet. Liegt es daran, dass wir uns in den letzten Monaten so entfremdet haben? Oder hat es eher damit zu tun, dass mein Gehirn Silas' Schicksal als Priorität ansieht?
Ich weiß es nicht.
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