Kapitel 4: Ein Zombie kommt selten allein
Schon als ich am nächsten Morgen aufwachte, spürte ich das starke Klopfen meines Herzens. So viele Monate hatte ich diesen Tag entgegengefiebert. Fast vergaß ich den Druck auf meiner Brust, der mich an manchen Tagen in die harte Matratze presste. Doch heute würde ich diesem Gefühl in mir keine Gelegenheit geben, die Kontrolle über meinen Verstand zu übernehmen.
Ich versuchte, ruhig zu bleiben und die Vorfreunde nicht zu sehr an die Oberfläche treten zu lassen. Denn erst, wenn ich das Ortsschild von San Josè hinter mir gelassen hatte, würde mein Sommer beginnen. Bis dahin war ich noch hier gefangen, in unserer überschaubaren Zweizimmerwohnung mit den weißen Wänden, die mir an all den grauen Tagen noch immer keine Antwort auf all meine Fragen gegeben hatten.
Gedanklich ging ich noch einmal meine Packliste durch. Das Wichtigste war, dass ich den alten Reiseatlas mitnahm. Den hatte mir Grandpa vor wenigen Monaten in die Hand gedrückt. Seine Augen hatten gestrahlt und er war so stolz gewesen, als er ihn mir überreicht hatte, weil er einen kleinen Teil zu unserer Reise beitragen konnte. Deshalb hatte ich mir vorgenommen, nicht mit Google Maps, sondern mit dem guten alten Reiseatlas die Fahrt zu bestreiten. Immerhin fuhren wir auch einen Van, der aus den 1980er Jahren stammte. Warum dann also keinen Reiseatlas verwenden?
Und so hatte ich all unsere Ziele in ihm farblich markiert und an den oberen Rändern der Seiten bunte Klebestreifen befestigt, um mich zurechtzufinden. Dazu hatte ich extra in einem kleinen Notizbuch eine Legende angefertigt und nebenbei noch wesentliche Attraktionen zu den Ausflugszielen aufgeschrieben.
Ich fühlte mich auf alles vorbereitet. Donald würde uns quer durchs Land, von West nach Ost, manövrieren.
Als ich unsere Route damals geplant hatte, hatte ich Grace gebeten, dass wir weniger in den Städten und mehr in der Natur unterwegs sein würden. Besonders Las Vegas war für mich ein großes Tabu gewesen. Dort war alles zu laut, zu bunt, zu viel. Ich wusste von Anfang an, dass ich mich in den flackernden Lichtern nur verlieren würde.
Grace hatte sich einverstanden erklärt, also hatte ich mich munter ans Werk gemacht. Als ich vor zwei Monaten den Plan fertig erstellt und ihn Grace voller Stolz präsentiert hatte, sagte sie nur: »Das wird kein Roadtrip, Lou, sondern eine Nationalpark-Tour.«
Leider musste ich ihr recht geben. Mit insgesamt sechs Nationalparks war wohl mein Wunsch ausreichend abgedeckt. Um ein wenig Abwechslung hineinzubringen hatte Grace noch ein paar größere Städte hinzufügt, die sowieso auf unserer Route lagen. Auch wenn es mir ein wenig Bauchschmerzen bereitete, arrangierte ich mich mit Chicago, Cleveland und Detroit.
Alles wird gut werden, rief ich mir in Gedanken und atmete noch einmal kräftig durch, ehe ich die Decke beiseite schlug und aufstand.
Es würde ein guter Tag werden.
Noch ehe ich mich auf ins Bad machte, ging ich zu meinem Gepäck. Der Campingrucksack war bis zur Auslastungsgrenze vollgepackt. Es war schon ein Wunder gewesen, dass Grace und ich die Schnallen gestern Abend zu bekommen hatten.
Auch wenn die nervige Stimme in meinen Kopf mich förmlich anschrie, noch einmal zu kontrollieren, ob ich wirklich alles dabei hatte, widerstand ich dem Drang und wandte mich stattdessen dem kleineren Stoffrucksack zu, in dem ich meine wichtigsten Reiseutensilien verstaute. Mein Portemonnaie inklusive Ausweis, Kranken- und Bankkarte, Süßigkeiten für unterwegs und mein Reisenotizbuch. Doch etwas fehlte. Noch einmal kramte ich in der Tasche, doch zu meiner Verzweiflung war es nicht da. Panik durchflutete mich, als ich die Schubladen an meinem Schreibtisch herauszog, um nach dem in Leder gebundenen Buch zu suchen, das unbedingt auf diese Reise mitmusste. Denn dort drinnen standen all meine Gedanken, die ich aufschrieb, um sie irgendwie aus meinem Kopf zu bekommen.
Schließlich fand ich es unter meinem Kopfkissen. Erleichtert atmete ich aus und öffnete vorsichtig den Ledereinband.
Die ersten Worte hatte ich damals vor fünf Jahren aufgeschrieben, als ich es in meinem Kopf nicht mehr aushielt. Damals hatte ich mich dazu entschlossen, alles zu notieren, was mir durch den Kopf schwirrte. Das war der einzige Weg, wie ich mit meinen Gedanken koexistieren konnte. All meine Ängste, meine Verzweiflung und Zerrissenheit lagen offen für jeden, der dieses Buch entdeckte.
Mit zitternden Händen öffnete ich das kleine Büchlein und spürte einen kleinen Stich, als ich die Wörter las, die in verschnörkelter Schrift auf der ersten Seite zu finden waren.
Herzlich willkommen, meine fiesen Gedanken.
Ich erinnerte mich nur ungern an diesen Tag zurück, als ich dieses Wort aufgeschrieben hatte. Schon als ich nur daran dachte, fing mein Magen unruhig an zu grummeln. Deshalb verscheuchte ich die Erinnerung an meinen dunkelsten Tag im Leben und blätterte eine Seite um. In zittriger Schrift hatte ich an diesem Tag noch weitere Worte aufgeschrieben, die mir jedes Mal vor Augen führten, wie oft ich diese Prozedere schon durchgemacht hatte. Wieder stellte ich mir die Frage, wie viel wohl noch übrig war, von mir.
Wir verlieren uns
gehen kaputt
finden uns wieder
setzen uns zusammen
und zerbrechen wieder
so lange
bis nichts mehr übrig bleibt
von uns.
Mein Herz zog sich krampfhaft zusammen, ehe ich kurzerhand das Buch zu schnellen ließ und es in meinen Stoffrucksack nach ganz unten packte, sodass Grace es nicht finden würde. Ich konnte nicht riskieren, dass irgendjemand all meine Gedanken las. Denn dann wüsste sie, was in meinem Kopf vor sich ging und hatte endlich die Antwort darauf, was mit mir nicht stimmte.
Es war ein Risiko, das Buch mitzunehmen, doch ich hoffte, dass ich es während unserer Reise endlichen schaffen würde, etwas Positives zu schreiben. Das war alles, was ich wollte.
Schnell zog ich die Schnüre des Rucksacks zu und stellte ihn entschlossen neben seinen größeren Bruder.
Auf Zehenspitzen schlich ich durch die Wohnung zu unserem kleinen Bad, um Grace noch eine halbe Stunde schlafen zu lassen. Unser Trip würde anstrengend genug werden, da wollte ich ihr noch ein wenig Ruhe gönnen. Als ich mich vor dem Waschbecken postierte, beugte ich mich nach vorn und spritzte mir eine volle Ladung eiskaltes Wasser ins Gesicht. Nur für einen Sekundenbruchteil fühlte ich mich gut. Es betäubte und übertönte gleichzeitig die Leere, die in mir unaufhörlich weilte.
Ganz langsam hob ich meinen Kopf und schaute in das Spiegelbild meiner müden Augen, die mir trostlos entgegenstarrten. Spröde hingen meine dunkelblonden Haare nach unten. Statt dem vollen und voluminösen Haar meiner Mom, das Grace geerbt hatte, hatte ich die dünnen, nichtssagenden Haare meines Dads abbekommen. Auch wenn sie mir gerade mal bis über die Schultern reichten, waren sie an den Spitzen brüchig, obwohl ich sie noch nie gefärbt hatte. Nicht das erste Mal wünschte ich mir, die lange Haarpracht meiner Schwester zu haben. Sogar wenn sie sich mit einem einfachen Haargummi einen Messy Bun machte, war alles daran perfekt. Wenn ich versuchte, mir einen Dutt zu machen, brauchte ich dafür Ewigkeiten und mindestens an die zwanzig Haarsprangen, damit es danach aussah wie ein Vogelnest, in dem gerade Eier gelegt wurden. Erfolgreich scheitern – das konnte ich gut.
Also hatte ich mich dazu entschlossen, diese jämmerlichen Versuche zu unterlassen und einzusehen, dass ich keine der Frauen war, die jede Frisur tragen konnte. Vielleicht lag es an meinem Gesicht, das ein wenig fülliger war und keine geraden Linien hatte. Ich hatte weder hohe Wangenknochen noch eine kleine Stupsnase. Das Einzige, das ich an meinem Gesicht mochte, waren meine großen Augen, die immer ein wenig schreckhaft und ängstlich dreinschauten.
Und wenn ich ganz nah ans Licht ging, dann waren meine Augen nicht matt und eintönig. Stattdessen leuchteten sie in verschiedenen farblichen Nuancen. Um meine Pupille hatte ich in beiden Augen einen braunen Fleck. Darum flochten sich grün-blaue Tupfer, die im Licht hell strahlten.
Doch um dieses kleine Farbspiel sehen zu können, müssten andere mir erst einmal in die Augen schauen und sich die Zeit nehmen, all diese Details zu betrachten. Aber das tat niemand.
Langsam beugte ich mich zurück und ignorierte mein Spiegelbild. Hastig packte ich die letzten Utensilien zusammen und stürmte geradewegs in Grace' Zimmer. Mit einer schnellen Bewegung riss ich die langen, weißen Vorhänge beiseite, sodass die Sonne ihr geradewegs ins Gesicht schien. Angewidert verzog sie die Lippen und rümpfte die Nase.
»Nur noch fünf Minuten«, murrte sie und presste ihren Kopf schutzsuchend in das weiche Material des Kissens.
Doch das konnte sie vergessen.
»Nichts da. Wie hat Grandma immer gesagt? Der frühe Vogel fängt den Wurm.«
Mit diesen Worten scheuchte ich sie nach oben. Mit halbgeöffneten Lidern lief sie wie ein Zombie durch die Wohnung. Aus der Ferne hörte ich nur noch, wie sie schmerzvoll aufstöhnte, als sie wahrscheinlich gerade wieder einmal die Ecke des Wohnzimmerschrankes mitgenommen hatte. Ein hämisches Grinsen stahl sich auf meine Lippen, als ich mich in die Küche aufmachte, um uns Frühstück zu machen.
Im Gegensatz zu mir half kaltes Wasser bei dem kleinen Zombie nichts. Noch immer in ihrer Traumwelt gefangen, setzte sie sich mir gegenüber an den Tisch. Ihre Augen waren halb geschlossen und sie stützte ihren Kopf auf ihrer Hand ab. Nur einmal wollte ich auch so unbeschwert den Morgen beginnen. Grace hatte absolut keine Ahnung, wie sehr ich sie darum beneidete, dass ihre Gedanken sie nicht sofort auf Trab hielten. Wie es wohl sein musste, in den Tag zu starten, ohne von Selbstzweifel heimgesucht zu werden? Wohl sehr friedlich...
Um sie endgültig aus ihrer Zauberwelt zu entreißen, stellte ich die dampfende Kaffeetasse direkt vor ihrer Nase krachend ab. Von dem Geräusch erschrocken, riss sie ihre müden Augen auf.
»Hier, trink. Damit du bald wieder unter den Lebenden wandeln kannst«, sagte ich spöttisch und schob ihr einen Marmelade-Toast zu, den ich gerade für sie geschmiert hatte.
Dankbar lächelte sie mir entgegen. Normalerweise war sie ein richtiger Morgenmuffel. Kein Wunder also, dass das Frühstück eher leise verlief. Mit jedem Schluck Kaffee schien jedoch neues Leben in sie einzukehren. Schneller, als ich es realisieren konnte, hatte sie innerhalb von fünf Bissen das Toast verdrückt, als hätte sie Tage nichts zu essen bekommen.
Das war auch so etwas, dass ich nicht verstehen konnte. Es war schlichtweg egal, wie viel oder was sie aß, sie nahm einfach kein Gramm zu. Sie konnte sich drei Burger, zwei Teller Pasta und literweise Cola reinwürgen, ohne dass dieser Nimmersatt auch nur ein Sättigungsgefühl verspürte oder etwas ein Tag später auf der Waage spürte.
»Sag mal«, sagte sie mampfend. »Wie spät ist es eigentlich?« Während sie sprach, leckte sie sich das süße Gelee von den Fingern.
»9:00 Uhr«, antwortete ich knapp, während ich insgeheim schon wieder innerlichen Stress verspürte, obwohl wir eigentlich keine Eile hatten.
Wie vom Donner gerührt, schreckte sie nach oben. »Oh, verdammter Mist. Das ist nicht gut«, murmelte sie die letzten Worte mehr zu sich selbst. Jetzt war sie hellwach. Unruhig huschten ihre Augen umher, während sie sich immer kleiner zu machen schien.
Argwöhnisch hob ich eine Augenbraue.
»Warum bist du auf einmal so aufgeregt?«, fragte ich, während ich sie mit Argusaugen beobachtete, wie sie aufsprang und wie ein gerupftes Huhn durch die Wohnung sprintete.
Doch sie ignorierte mich. Stattdessen schien sie Freude daran gefunden haben, mit sich selbst zu reden.
»Ich habe vollkommen vergessen, es ihr zu sagen. Sie wird mir den Kopf abreißen«, murmelte sie und raufte sich die Haare.
»Wobei werde ich dir den Kopf abreißen?«, fragte ich neugierig, während ich langsam hinter sie getreten war.
Sie fuhr zusammen, als sie mich hinter sich bemerkte.
»Ach nichts, weißt du was? Wird schon schief gehen. Ich kann es jetzt eh nicht mehr ändern.«
Ein ungutes Gefühl bildete sich in meinem Magen. Ich trat einen großen Schritt auf Grace zu. Sie lächelte mich nur unschuldig an und wich meinem Blick aus.
Meine inneren Alarmglocken schrillten, als ich mich daran zurückerinnerte, dass sie vor zwei Tagen auf dem Campus sich ähnlich seltsam verhalten hatte.
»Grace, was hast du getan?«, fragte ich alarmierend, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was sie wieder angestellt hatte. Aber es konnte nichts Gutes sein, wenn sie sich so vor meiner Reaktion fürchtete.
»Ich glaube, die Antwort darauf wird dir nicht gefallen.«
Unsere Blicke verhakten sich ineinander. Auffordernd hob ich eine Augenbraue.
»Also, die Sache ist die...«, druckste sie herum und fummelte unruhig an dem Saum ihres Oversized T-Shirts herum.
Doch ehe sie fortfahren konnte, unterbrach uns das schrille Läuten der Wohnungsklingel.
Grace zuckte unter dem hohen Ton zusammen, als hätte sie bereits gewusst, dass er jede Sekunde laut durch unsere Wohnung schallen würde. In diesem Moment verdrängte ich die Frage, wer zu dieser Zeit an unsere Tür klingeln sollte, und bewegte mich in Richtung des Flurs, da Grace keine Anstalten machte, zu gehen. Stattdessen stand sie da wie ein Häufchen Elend, das jede Minute zur Schlachtbank geführt wurde.
Mein Herz klopfte wie wild, als wüsste es bereits, welches Unheil hinter der Tür auf mich lauerte.
Heute sollte der Beginn einer der schönsten Wochen meines Lebens sein, bis zu dem Moment, als ich die Hand auf die Klinke legte und sie nach unten drückte.
Damit besiegelte ich mein unheilvolles Schicksal.
Als ich die Tür einen Spalt breit öffnete und erkannte, wer da vor mir stand, setzte mein Herz einen Schlag aus, bevor es einfach stehen blieb.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro