Kapitel 2: Ein Schlag ins Gesicht
Eine Bewegung vor meinem Gesicht katapultierte mich geradewegs zurück in die Wirklichkeit. Leicht schüttelte ich meinen Kopf, um die fiesen Gedanken zu vertreiben. Auch wenn ich wusste, dass sie nicht verstummen würden.
Meine Sicht klärte sich und vor mir erschien das Gesicht meiner Zwillingsschwester, die mir nicht unähnlicher sein konnte. Manchmal fragte ich mich, ob wir wirklich Zwillinge waren oder ob mich jemand im Krankenhaus vertauscht hatte. Ihre honigblonde Mähne hatte sie heute zu einem hohen Zopf gebunden, sodass sie ein wenig aussah wie Ariana Grande. Dazu passten auch ihre gebräunte Haut und die strahlenden meerblauen Augen, die an manchen Stellen mit grünen Nuancen versehen waren und warm schimmerten. Das Bild wurde abgerundet von ihrer kleinen, spitzen Nase und den vollen Lippen, die meistens mit einem herzerwärmenden Lächeln geschmückt waren.
Grace war eine Naturschönheit. Sie war einer der Menschen, die man gerne anschaute. So jemand, bei dem man einfach nicht wegsehen konnte, weil ihre warmherzige und gutmütige Art sofort auf einem selbst übersprang. Sie war jemand, bei dem man sich sofort wohlfühlte, auch wenn man nur wenige Worte mit ihr wechselte. Mit ihrer lebenslustigen und heiteren Art hinterließ sie bei einem stets ein warmes Gefühl.
Vielleicht sah ich sie deshalb so oft von der Seite an. Weil sie alles war, was ich immer sein wollte.
»Hey Träumerin, in welche unterirdischen Gedankenwelten bist du schon wieder abgetaucht? Hast du gehört, was ich gesagt habe?«, fragte Grace und fuchtelte mit ihrer Hand noch immer vor meinem Gesicht herum, als würde sie versuchen, eine Fliege zu erschlagen.
Ich versuchte mich an einem entschuldigenden Lächeln, an dem ich kläglich scheiterte. Wenn ich lächelte, sah es eher so aus, als würde ich alles daransetzen, Penny Wise Konkurrenz zu machen. Es wirkte in meinem Gesicht fehl am Platz. Wahrscheinlich, weil es sich nie echt anfühlte. Schon wieder fragte ich mich, wann ich das letzte Mal gelacht hatte, weil ich mich über etwas gefreut hatte.
»Lou, du tust es schon wieder!«
Sie hatte recht. Leider passierte mir das oft, dass ich einfach auszoomte und mich völlig in meinem Gedankenmeer verlor.
Seufzend streckte ich mich.
»Tut mir leid, Sis. Mein Kopf ist gerade einfach nur so voll. Wir haben morgen noch so viel zu tun. Die Koffer müssen gepackt werden, den Van müssen wir noch von Onkel Jo holen und einkaufen waren wir auch noch nicht. Ich weiß nicht, wie du im Moment so entspannt sein kannst.«
Auf diesen sechswöchigen Trip fieberte ich schon über ein Jahr hin. Seit wir beide in einer warmen Sommernacht den Plan geschmiedet hatten, einen Roadtrip durch die USA zu unternehmen, hatte ich alles darangesetzt, dass wir uns dieses Jahr unseren Kindheitstraum erfüllen konnten. Dafür hatten wir uns über die letzten beiden Semester einen Nebenjob gesucht, um alle anfallenden Kosten abzudecken. Ich erinnerte mich nicht, wie viele Nachtschichten ich in der Verpackungsfabrik geschoben und mir den Arsch aufgerissen hatte, um das Geld zusammenzubekommen. Doch irgendwie hatten wir es geschafft. Die Route war gesetzt, das Wichtigste war organisiert, nur die wesentlichen Feinheiten fehlten noch. Dann konnte endlich unser Sommer beginnen.
Grace schüttelte nur lachend den Kopf, sodass ihr Zopf schwungvoll hin und her wippte. Um mich zu beruhigen, legte sie eine Hand auf meinen Oberschenkel. Sie war wie immer die Ruhe in Person. Es gab kaum etwas, dass sie aus der Fassung bringen konnte. Das hatte sie von Dad.
»Wir haben doch alles schon bis ins Detail besprochen. Morgen Vormittag gehen wir die Lebensmittel einkaufen. Nach dem Mittag packen wir unser Gepäck und haken alles auf deiner Liste ab, sodass wir bloß nichts vergessen und gegen Abend fahren wir zu Onkel Jo und holen den Van. Mit dir als unsere Reiseplanerin kann gar nichts schief gehen, deshalb bin ich auch null Komma null nervös. Solange dein Gehirn dabei ist, kann gar nichts schief gehen.«
Sie grinste mich schief an und knuffte mich in den Arm. Ich verdrehte die Augen, konnte mir aber ein Schmunzeln nicht verkneifen.
Alles, was ich wollte, war, dass nichts schief ging. Häufig plante ich alles bis ins Detail durch. Ich hasste Überraschungen und unvorhersehbare Ereignisse, denn damit konnte ich nur schlecht umgehen. In den meisten Fällen brauchte ich lange, um mich an nicht eingeplante Veränderungen zu gewöhnen. Damit das bei unserem Trip nicht passierte, achtete ich penibel darauf, dass alles in meinem Kontrollbereich lag. Nur so fühlte ich mich sicher.
»Trotzdem. Du weißt, ich kann es nicht leiden, wenn irgendetwas passiert, dass nicht nach Plan läuft«, murmelte ich seufzend, während ich den Gänseblümchen den Kampf ansagte. Wenn ich weiter das Gras auf dieser Weise bearbeitete, würden hier bald keine Blumen mehr stehen.
Grace gluckste nervös. Sofort schoss mein Blick in ihre Richtung. Während ich ihr schuldbewusstes Gesicht abschätzig betrachtete, bemerkte ich die zarte Röte, die sich auf ihren Wangen ausbreitete.
,,Grace'', sagte ich gedehnt und richtete mich augenblicklich auf. Ich kannte diesen verräterischen Gesichtsausdruck. Sie hatte irgendetwas angestellt, dass mir nicht gefallen würde. Ich konnte förmlich spüren, dass sie etwas vor mir verheimlichte. Schließlich war sie nicht nur meine kleine Schwester, sondern auch mein Zwilling. Auch wenn wir vom Aussehen und Charakter vollkommen unterschiedlich waren, kannte ich sie in und auswendig.
Sie wich meinem Blick aus und kaute auf ihrer Unterlippe herum.
»Weißt du, was das angeht. Ich wollte es dir schon länger erzählen, aber irgendwie schien nie der passende Zeitpunkt...«, stocherte sie herum. Als sie ihre Lider aufschlug und sie mich mit ihrem Dackelblick anschaute, wusste ich, dass mir die nächsten Worte nicht gefallen würden.
Ich kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen.
»Ich rasiere dir den Schädel, wenn es irgendwas mit unserem Trip zu tun hat«, sagte ich und hielt ihr drohend meinen Zeigefinger vors Gesicht.
Wieder blinzelte sie nur schuldbewusst. Ihre Lippen verzog sie zu einer Schnute.
»Du weißt selbst, dass mir eine Glatze nicht stehen würde«, murmelte sie, worauf ich eine Augenbraue hob. Wir wussten beide, dass sie sogar mit einer Glatze aussehen würde wie ein Model.
»Guter Versuch, aber du weißt, deine Ablenkungsversuche ziehen bei mir nicht. Spuck es schon aus. Vielleicht rasiere ich dir auch nur eine Augenbraue weg, wenn es nicht so schlimm ist.«
Ich grinste diabolisch und deutete mit einer Handbewegung mein Vorhaben an. Grace riss erschrocken die Augen auf. Sie öffnete ihren Mund, schloss ihn aber wieder.
Als sie merkte, dass sie aus dieser Sache nicht herauskommen würde, setzte sie ihre letzte Geheimwaffe ein, von der sie wusste, dass sie sogar bei mir zog. Sie lachte dieses Sonnenlachen, bei dem alle Menschen um sie herum verzaubert wurden. Ich blinzelte mehrmals, um mich aus meiner Trance zu lösen, doch ich konnte nicht verhindern, wie sich bei ihrem Anblick mein Magen stark zusammenzog.
Wieder war da diese Stimme in meinem Kopf, die mir leise zu wisperte: Warum bist du nicht so wie sie? Wieso kannst du nicht so frei lachen? Was stimmt mit dir nicht? Sieh doch, es ist gar nicht so schwer. Aber du kannst das nicht, weil du immer in ihrem Schatten stehen wirst.
Schnell bohrte ich meine Fingernägel in meine Handflächen, um diese Gedanken zu vertreiben. Ich wollte nicht auf sie hören, obwohl ich wusste, dass sie recht hatten. Ich sollte mich nicht mit Grace vergleichen und doch tat ich es. Und meistens kam dabei nie etwas Gutes für mich heraus. Denn wenn es einen Wettbewerb zwischen uns geben würde, würde sie in jedem einzelnen Punkt gewinnen. Das tat sie schon immer.
Gerade als Grace ihren Mund öffnete, um mir zu erklären, was sie angestellt hatte, wurden wir unterbrochen. Eine kleine Gruppe, bestehend aus zwei Mädchen und einem Jungen, schlenderten entspannt auf uns zu.
Sofort spannte ich mich an. So war es immer, wenn ich auf neue Menschen traf. Ich fühlte mich dann jedes Mal unwohl und fehl am Platz.
»Hey, Grace. Was geht? Wir haben dich schon überall gesucht'', sagte das Mädchen mit dem hellblonden Pixie, während sie vor uns zum Stehen kam. Die vielen Piercings an ihrem rechten Ohr glänzten im Sonnenlicht. Ich kannte sie nicht, doch die wenigen Sekunden reichten mir schon aus, um für mich zu wissen, dass ich nicht mit ihr zurechtkommen würde. Sie strahlte eine solche Dominanz und Selbstbewusstsein aus, dass ich mich unwillkürlich zurück in den Schatten drängte.
Während sie meiner Schwester ein selbstsicheres Lächeln zuwarf, ignorierte sie mich, als würde ich gar nicht existieren.
Ich fühlte mich sichtlich unwohler in dieser Konstellation, obwohl niemand mich beachtete. Unruhig rutschte ich hin und her und rieb mir dabei dunkle Grasflecken in die kurze Jeans. Meine Finger grub ich unbewusst in das trockene Gras. Mir war bewusst, dass ich überreagierte, denn diese Menschen sahen mich sowieso nicht. Für sie war ich nicht mal sichtbar. Dennoch konnte ich nicht verhindern, wie sich mein Magen verknotete.
Mein Blick wanderte über den Rest der Dreiergruppe. Der große Blonde mit den struppigen Haaren stand gelangweilt ein wenig abseits und zündete sich gerade eine Zigarette an. Kurz warf er Grace einen nichtssagenden Blick zu, ehe er seine Kippe ansetzte und einen tiefen Atemzug nahm.
Das andere Mädchen mit dem kurzen, schwarzen Pony, der ihre Stirn noch größer wirken ließ, drängte sich kaugummikauend an Pixie vorbei.
»Stimmt. Wir haben das halbe Campusgelände nach dir abgesucht. Hast du vergessen, dass du dich mit uns treffen wolltest?«, fragte die Schwarzhaarige mit dem hohen Zopf.
Grace kratzte sich an der Stirn. Ich schüttelte nur den Kopf und verdrehte die Augen. Irgendwann würde diese Frau noch ihr Gehirn vergessen.
»Oh, das habe ich total verpeilt. Sorry Leute. Was gibt es denn?«
Pixie grinste überlegen.
»Heute Abend steigt doch die große Abschlussfeier. Du wolltest mit uns dahin gehen.«
Das Pony-Mädchen nickte zustimmend, ehe sie im nächsten Moment ihre große Kaugummiblase platzen ließ. Ich rümpfte angeekelt die Nase und wandte meinen Blick ab.
Stattdessen spürte ich den Blick meiner Schwester auf mir. Kurz begegneten sich unsere Augen, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Manchmal fragte ich mich, was an uns überhaupt gleich war. Ihre Iriden strahlten von einem so intensiven Blau, dass ich glaubte, ich würde direkt in die Karibik eintauchen. Wenn ich jedoch in den Spiegel sah, erblickten mich matte, grün-braune Augen, die keine Spur von Glanz in sich bargen. Sie reflektieren das Licht nicht, sondern wirkten eher undurchsichtig und verbargen eisern das, was ich so verzweifelt versuchte, vor der Außenwelt zu beschützen. Über meine Augen würde niemand stolpern. Niemand würde mir einen zweiten Blick schenken oder fasziniert sein. Aber das wollte ich auch nicht. Denn dann würde ich plötzlich im Licht stehen, obwohl ich mich doch im Schatten so wohl fühlte.
Grace' Augen verengten sich, fast als würde sie sich entschuldigen. Denn im selben Atemzug hatte sie vorgeschlagen, heute Abend mit mir Pizza zu essen und noch ein paar Kleinigkeiten für unsere Reise vorzubereiten. Das würde wohl jetzt ins Wasser fallen. Aber das war okay. Immerhin war ich kein kleines Kind mehr. Deshalb nickte ich ihr zu und versuchte mich an einem schmalen Lächeln.
»Wisst ihr was, Leute? Geht heute ohne mich. Ich habe schon andere Pläne«, sagte meine Schwester mit ihrem Sonnenlächeln, ohne den Blick von mir zu nehmen. Sofort erfüllte sich mein Herz mit Wärme. Denn Grace war wohl der einzige Mensch auf dieser Welt, der sich für mich entscheiden würde und bewusst bei mir bleiben wollte. Ihre Loyalität berührte mich, doch gleichzeitig hatte ich ein schlechtes Gewissen. Sie sollte nicht wegen mir zurückbleiben. Wenn ich normal gewesen wäre, dann wären wir zusammen als Zwillinge zu dieser Party gegangen. Doch das war ich nicht. Nie wieder würde ich so einen Ort betreten. Schon als ich nur an das letzte Mal dachte, stieg die Übelkeit in mir empor und ein immenser Druck bildete sich um meine Kehle, als würde mir jemand die Luft abdrücken.
»Ach komm schon, Grace. Mit dir wäre es viel lustiger. Einige aus den höheren Semestern haben extra nach dir gefragt. Komm doch mit, hm?«, quengelte das Pony-Mädchen.
Grace lächelte ihr entschuldigend entgegen. Noch blieb sie freundlich, aber ich konnte an ihrem Blick erkennen, dass ihre Geduld langsam am Ende war. Denn das, was Grace wohl am meisten hasste, war, wenn jemand ihr nein nicht akzeptierte. Doch plötzlich schien ihr eine Idee zu kommen. Ihr rechter Mundwinkel zuckte leicht nach oben. Ihr kurzer Seitenblick in meine Richtung sagte mir, dass mir ihre nächsten Worte nicht gefallen würden.
»Was ist mit Lou? Wenn sie geht, komme ich auch.«
Kurz darauf legte sich ihre warme Hand auf meinen Arm und zog mich damit in meine persönliche Hölle. Denn nun lag die Aufmerksamkeit der anderen drei auf mir. Plötzlich wurde ich sichtbar – und es gefiel mir nicht. Ich blinzelte. Mein Magen krampfte sich zusammen, während alles in mir mich dazu drängte, zurück in den Schatten zu treten. Ich wollte nicht im grellen Licht der Aufmerksamkeit stehen. Es war zu viel und es blendete mich.
Doch schon im nächsten Atemzug wurde ich schmerzlich herausgerissen aus meiner Gedankenwelt und zurück in die Realität verfrachtet, in der niemand meinen Namen kannte.
»Wer soll das sein?«, fragte Pixie desinteressiert. Für einen Wimpernschlag fielen ihre Augen auf mich. Vielleicht streiften sie mich auch nur. Ich war mir da ehrlich gesagt nicht sicher. Eigentlich interessierte es mich auch nicht wirklich. Es war nicht das erste Mal, dass mich Menschen auf diese Weise behandelten – als wäre ich Luft. Immerhin strengte ich mich auch nicht sonderlich an, um sichtbar zu werden.
Jetzt war es Grace, die mit ihren Zähnen zu knirschen begann. Die Luft um mich herum kühlte binnen weniger Sekunden rasant ab. Ihr Griff um meinen Arm verfestigte sich.
,,Ich rede von meiner Schwester, Lou'', presste sie heraus und rückte noch ein Stück näher zu mir, als wäre sie eine tollkühne Löwin, die ihr Junges beschützte. Obwohl ich als große Schwester doch eigentlich diese Aufgabe übernehmen sollte.
Ich hatte sie schon immer dafür bewundert, dass sie sich trotz, dass sie wütend war, immer noch wie ein Engel anhörte. Mich würde es nicht wundern, wenn Pixie nicht mal bemerkte, dass Grace gerade beinahe explodierte. Wieder fielen die Augen des Mädchens auf mich. Nur kurz, aber ihr reichte wohl, was sie sah. Das Lächeln, das sie daraufhin meiner Schwester zuwarf, war so voller Falschheit, dass mir wieder einmal bewusst wurde, weshalb ich mich von solchen Menschen fernhielt.
,,Ach, ihr seid Schwestern? Sie sieht dir nicht im Ansatz ähnlich. Im Vergleich zu dir ist sie so unscheinbar.'' Sie traf den Nagel auf den Kopf. Obwohl mich ihr Kommentar nicht kümmern sollte, traf er mich direkt in diesen kleinen Spalt des Herzens, den ich einfach nicht schließen konnte, egal, was ich auch tat. Gerade dort, wo es besonders wehtat.
Grace stutzte. Sie war es nicht gewohnt, dass jemand abfällig über mich sprach. Normalerweise machten das die Menschen hinter ihrem Rücken. Es war kein Wunder, dass der Schock sie für einen Wimpernschlag lähmte. Doch schon im nächsten Augenblick trat die blanke Wut in ihre schönen, türkisblauen Augen. Sie verengte sie zu schmalen Schlitzen, ehe sie förmlich von ihrer sitzenden Position aufsprang und sich dicht vor Pixie stellte. Den Mund hatte sie zu einer schmalen Linie verzogen und die Hände waren zu Fäusten geballt.
»Willst du damit irgendetwas andeuten?«
Ihre Stimme vibrierte. Pixie grinste nur fies.
»Ach was, du hast das in den falschen Hals bekommen, aber du musst doch zugeben, dass kein normaler Mensch euch für Schwestern halten würde. Ich meine, schau dich an. Jeder auf diesem Campus kennt deinen Namen. Warum sollten wir uns mit einem Niemand abgeben, nur weil sie deine Schwester ist?«
Ich ließ ihre Worte einfach über mich ergehen. Denn ich wusste selbst, dass ich neben Grace farblos erschien, während sie all die leuchtend kräftigen Farben ausstrahlte. Es war unnötig, es noch einmal zu betonen. Statt mich zu verteidigen, blieb ich still. Ich war die Ruhe selbst, als ich mich aufrichtete und hinter Grace trat, die förmlich schäumte vor Wut. Leider ließ ihre Menschenkenntnis zu wünschen übrig, weshalb sie sich immer mal wieder mit solchen Kreaturen abgab. Doch sie musste selbst lernen, welche Menschen ihre Zeit wert waren und welche nicht.
Ich packte sie am Arm und zog sie, ohne ein Wort zu verlieren, von den anderen weg. Als wir uns einige Schritte entfernt hatten, sagte ich mit meiner altbekannten Ruhe zu ihr: »Sie sind es nicht wert. Lass sie einfach reden. Es kümmert mich nicht.« Dass die Hälfte davon gelogen war, sagte ich ihr nicht.
»Ich sollte auf der Stelle umkehren und ihnen die Meinung geigen. Was fällt denen ein, so abfällig über dich zu reden? Du bist der liebste Mensch, den ich kenne«, plusterte Grace und konnte es nicht lassen, sich noch einmal nach der Dreiergruppe umzudrehen.
Sanft legte ich ihr meine Hand auf ihren Rücken. »Lass sie einfach. Solche Menschen ärgern sich vielmehr, wenn man auf ihre Provokationen nicht reagiert«, antwortete ich ruhig.
Grace warf mir einen langen Seitenblick zu, als würde sie fragen wollen, woher ich das wusste. Doch die Antwort darauf würde ihr nur unnötig das Herz brechen.
Um sie abzulenken, legte ich ihr überschwänglich den Arm um die schmalen Schultern und zog sie zu mir. Meine halblangen, straßenköderblonden Haare, die in einem bestimmten Licht in einem Kupferstich leuchteten, peitschten ihr dabei ins Gesicht. Im Gegensatz zu ihrer glatten, glanzvollen Mähne, hatte ich eine leichte Naturwelle, die aber nicht fließend war, sondern eher so aussah, als wäre mir der Lockenstab abgerutscht.
Ich lächelte sie von der Seite an. Sie erwiderte meinen Blick mit einer solchen Herzlichkeit, dass ich wie jedes Mal, wenn sie mich so anschaute, daran zweifelte, ihre Liebe und Aufrichtigkeit verdient zu haben.
Auch wenn Grace all das war, was ich niemals sein würde, liebte ich sie wie niemand anderen. Sie konnte nichts dafür, dass meine Gedanken mich auffraßen und mich verhöhnten.
»Dieser Sommer gehört nur uns beiden. Deshalb wird er einfach unvergesslich werden«, sagte ich mit einem tiefen Gefühl der Vorfreude in meinem Herzen und drückte sie noch enger an mich.
Ein Sommer. Das war alles, was ich wollte.
Das Aufeinandertreffen von geradeben hatte mir wieder einmal vor Augen geführt, wie sehr ich diese Auszeit benötigte. Sechs Wochen lang ohne Menschen, denen ich jeden Tag begegnen musste. Nur lauter fremder Gesichter, die ich nie wieder sehen würde. Ich brauchte Ruhe und Abstand, um endlich wieder atmen zu können. Denn hier, in dieser Stadt, an dieser Uni, mit all den Leuten um mich herum, erstickte ich.
»Das wird er. Ein Sommer, den wir nicht vergessen werden.«
Ihre Stimme klang belegt, doch sie überspielte es mit einem Grinsen.
Als wir die Tore der Universität endlich hinter uns ließen, vergaß ich, dass Grace etwas Wichtiges vor mir geheim gehalten hatte. Wenn ich in diesem Moment nur beharrlicher gewesen wäre, wäre vielleicht alles anders gekommen. Ich hätte die anbahnende Katastrophe verhindern können. Doch ich steuerte geradewegs in meinen Untergang hinein, ohne zu bemerken, wie zwei sturmgraue Augen mich von der gegenüberliegenden Seite beobachteten.
Undurchdringbare, graue Augen, denen ich mich nicht stellen wollte.
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