Kapitel 11: Die unausgesprochene Wahrheit
»Ich bin hier, wenn du mich brauchst.«
Seine Worte hallten den ganzen Vormittag in meinem Kopf wider. Wie eine nie endende Dauerschleife.
Zum Glück war in diesem Moment Jesse um die Ecke gekommen und hatte uns jeden einen Rucksack in die Hände gedrückt, mit dem Kommentar, dass wir uns das Geturtel für die Abendstunden aufheben sollten und wir nun erstmal wandern gehen.
Meine Wangen begannen zu glühen und Hitze stieg in mir auf, als ich in diesem Augenblick bemerkte, wie nah Hudson mir war und wie es für die anderen ausgesehen haben musste. Ein kurzer Seitenblick zu Grace hatte mir meine Vermutung bestätigt. Sie grinste mir augenbrauenwackelnd entgegen und hatte den Mund zu einem wissenden Lächeln verzogen. Ich versuchte ihr erst gar nicht zu erklären, dass es nicht das war, wonach es aussah. Rasch wandte ich den Blick ab und schaute zu Jesse, der in diesem Moment Hudson anzüglich auf die Schulter klopfte.
Meine Augen spuckten förmlich Feuer, als ich ihn mit meinem Blick fixierte. Der eindeutige Wink, die Klappe zu halten, war aber völlig an Tarzan vorbeigegangen.
»Vielleicht besorge ich mir heute Abend lieber geräuschunterdrückende Kopfhörer«, fügte Jesse überflüssigerweise ebenfalls augenbrauenwackelnd hinzu und bedachte Hudson mit einem eindeutigen Blick, der daraufhin nur verächtlich schnaubte. Nur langsam erhob er sich endlich aus seiner hockenden Position, als wollte er sich nicht aus unserer kleinen Blase lösen, in der wir uns gerade noch befunden hatten. Noch ein letztes Mal sah er mich durch seine dichten Wimpern an und warf mir einen kryptischen Blick zu, den ich nicht zuordnen konnte, ehe er sich zu Tarzan umdrehte und ihn in den Schwitzkasten nahm.
Ich spürte förmlich, wie mir die Luft entwich, die ich, ohne es bemerkt zu haben, angehalten hatte.
Endlich konnte ich atmen.
»Das sagt der Richtige«, rief Hudson, während er mit Jesse im Schwitzkasten auf Miles zusteuerte, der nur mit dem Kopf schüttelte.
Noch bevor ich das Chaos in meinem Kopf sortieren konnte, hatte Grace mich schon nach oben gezogen. Sie sagte nichts, aber ihr Gesicht sprach Bände. Sie hatte die Lippen zu einem leichten Grinsen gekräuselt und ihre unschuldigen Augen blitzten förmlich auf, während sie immer wieder unauffällig in meine Richtung stierte. Die Arme hielt sie hinter ihrem schmalen Rücken gekreuzt.
Wir waren jetzt schon eine Stunde auf einen der vielen Wanderwege in Yosemite Nationalpark unterwegs. Als ich unsere erste Wanderung damals mitten in der Nacht geplant hatte, weil ich wieder mal nicht schlafen konnte, wollte ich für uns einen ganz besonderen Tag erschaffen, den wir nicht vergessen würden.
Wer hätte wohl damals gedacht, dass ich nun meinen Blick nicht von Hudsons durchtrainierte Rücken abwenden konnte, anstatt die Natur mit ihren hohen Bäumen und dem grünen Moosbett zu bewundern? Ich sollte vielmehr erstaunt sein von der gewaltigen Größe der Mammutbäume, als wir durch den Mariposa Grove wanderten und nicht die ganze Zeit mit meinen Augen Hudsons Bewegungen verfolgen.
Nachdem wir alle vor dem 2700 Jahre alten ''Grizzle Giant'' posiert und viele Erinnerungsfotos geschossen hatten, auf denen ich immer so weit es mir möglich gewesen war, Abstand zu Hudson zu hielt, hatte ich es mir zum Ziel gesetzt, heute nicht mehr an das Gespräch des Vormittags zu denken. Doch da hatte ich die Rechnung ohne meine kleine Schwester gemacht, die für ihre Verhältnisse fast schon unnatürlich still neben mir lief. Doch nur ein Seitenblick zeigte mir, wie sie unruhig auf ihrer Lippe herum kaute, fast so, als würde sie alles daransetzen, nicht ihre ungestüme Klappe aufzureißen. Ihre Gedanken und ihre offenen Fragen waren unendlich laut, sodass sie diese gar nicht aussprechen musste.
»Grace, egal, was du auch denkst oder deine bunten Murmeln sich in deinem Kopf zusammenreimen, du liegst falsch«, murrte ich, weil ihr schwerer Atem, das wiederholte Seufzen und die eindeutigen Seitenblicke mir gewaltig auf die Nerven gingen.
Wie sollte ich so nachdenken können?
»Hmm, wenn du das sagst, glaube ich dir natürlich«, sagte sie nickend, doch ich konnte aus dem Unterton ihrer Stimme heraushören, dass sie mir kein Wort glaubte.
Ich stöhnte entnervt auf.
»Wir haben nur geredet'', startete ich einen neuen kläglichen Versuch. Fast glaubte ich mir selbst nicht.
Grace zog die Augenbrauen hoch und verzog ihren Mund zu einem spitzen O.
»Ach so. Deshalb hat er auch vor die gekniet und deine Hand gehalten. Klar«, sagte Grace gedehnt, während ihr hochgesteckter Zopf munter durch die Gegend flog.
Meine Augen spuckten Feuerbälle, doch sie prallten einfach an ihrer makellosen Haut ab. Schnell hatte ich unseren kurzen Abstand überwunden und hielt ihr den vorlauten Mund zu, aus Angst, sie würde noch lauter reden. Schnell schoss mein Blick zu der Dreiergruppe, die nur wenige Meter vor uns lief und in ein angeregtes Gespräch vertieft schien. Zumindest machte Hudson nicht den Anschein, als hätte er etwas von dem Unfug meiner Schwester gehört. Doch bei ihm konnte man nie wissen.
»Sei still oder willst du für irgendwelche peinlichen Missverständnisse sorgen?«
Da sprach ganz klar die Verzweiflung aus mir.
»Ich habe Augen im Kopf, Schwesterchen«, murmelte Grace in meine Handfläche, wobei ich spürte, wie sie schon wieder grinste.
»Du bist unmöglich«, zischte ich, konnte aber nur schwer das Zucken meiner Mundwinkel unterdrücken.
»Hudson hatte schon immer einen Blick auf dich geworfen. Du willst es nur nicht wahrhaben.«
Das stimmte. Aber Grace konnte nicht wissen, dass er es nicht tat, weil er Interesse an mir hatte, sondern er musste einen anderen Grund haben. Einen, bei dem ich mir nicht wirklich sicher war. Aber es konnte nicht das sein, was Grace dachte. Das war absolut unrealistisch.
»Denk', was du willst. Ich werde mich nicht in etwas verrennen, dass du mir verzweifelt einzureden versuchst. Er sieht mich nicht so«, sagte ich noch einmal mit Nachdruck und hoffte, dass das Gespräch damit beendet sein würde. Als diese Worte meinen Mund verließen, spürte ich, wie sich mein Herz zusammenkrampfte und ein gewaltiger Druck es unter sich begrub.
Ich verriet ihr nicht, dass ein winziger Teil in mir hoffte, dass es doch anders sein würde und ich zum ersten Mal in meinem Leben jemanden getroffen hatte, der sich für mich interessierte und mit mir seine Zeit verbringen wollte. Jemand, der mich wählte, weil ich Lou war. Nur Lou, so wie Jesse so schön sagte.
Aber der große Teil meines Verstands wusste natürlich, dass diese winzige Hoffnung nur Träumerei war. Männer wie Hudson interessierten sich nicht für einen Niemand wie mich. Was auch immer er in meinen Augen gesucht hatte, er hatte es all die Zeit nicht gefunden. Bald würde er aufgeben und gehen. So wie alle.
Deshalb holte ich tief Luft und pustete die angestauten Gefühle hinaus in die schwüle Mittagshitze.
Grace schwieg, auch wenn es ihr sichtlich schwerfiel, nicht noch etwas zu dem Thema zu sagen. Ich spürte förmlich, wie es in ihr brodelte, aber sie hielt sich wacker zurück.
Wieder bohrte sich mein Blick zum wiederholten Mal an diesem Tag in Hudsons Rücken. Trotz des olivfarbenen Stoffrucksacks, der den größten Teil seiner Rückenpartie verdeckte, konnte ich deutlich das Spiel seiner Muskelstränge an seinen Oberarmen und seiner Schulter beobachten. Kurz verlor ich mich in dem Anblick seiner durchtrainierten Arme und den Sehnen, die stark hervorstachen. Kräftige Hände, die von Schwielen durchzogen waren. Hände, die mich bereits berührt hatten.
Er ist unerreichbar für dich. Sieh es endlich ein. Du bist nichts im Vergleich zu ihm. Was kannst du ihm schon bieten, außer uns, deinen fiesen Gedanken?
Ich schluckte und schüttelte den Kopf. Ein bitterer Geschmack formte sich auf meiner Zunge. Für einen Wimpernschlag verschwamm mein Blick und ich krampfte automatisch die Hände zu Fäusten. Es war immer dasselbe. Ich konnte mich einfach nicht von ihnen lösen. Sie waren immer da – in jeder Situation, egal, wohin ich ging. Denn sie waren ein Teil von mir und meiner Persönlichkeit. Mein ganz persönlicher Makel.
Plötzlich registrierte ich eine Bewegung vor mir. Miles ließ sich ein Stück zurückfallen und wartete mit einem breiten Grinsen auf uns. Seine Augen blieben einen Wimpernschlag zu lang an meiner Schwester hängen, ehe sich seine tiefen, schokoladenbraunen Augen auf mich legten. Ich erwiderte seinen Blick, der so viel Wärme in sich barg und mich für einen Moment meine fiesen Gedanken vergessen ließ.
Miles war einer der Menschen, bei denen man sich sofort wohlfühlte. Er war meiner Schwester in dieser Hinsicht so ähnlich, dass es mir ein Rätsel war, warum die beiden nicht schon längst zusammen waren. Miles hatte die Angewohnheit, jeden zu akzeptieren, wie er war. In der Schule hatte es ihn nie gekümmert, ob jemand beliebt oder unsichtbar war. Er war immer freundlich und zuvorkommen gewesen, hatte anderen bei ihren Problemen unterstützt und war stets auf die Menschen zugegangen, die Hilfe brauchten. Dabei trug er immer ein Lächeln auf den Lippen, wobei sich runde Grübchen auf seinen Wangen bildeten, wenn er lachte.
Ich konnte verstehen, warum Grace ihn so sehr mochte.
Auch Hudson drehte sich kurz zu uns um. Als unsere Blicke sich für einen Wimpernschlag begegneten, stoppte mein dämliches Herz und ich hörte auf, zu atmen. Schnell wanderten seine Augen zu Miles, ehe er fragend die Augenbrauen nach oben zog.
»Geht schon mal weiter. Ich habe noch was mit Lou zu besprechen«, rief Miles und deutete ein abwerfendes Winken an.
Sofort schnellte mein Blick zu ihm. Was hatte er mit mir denn zu bereden? Hatte ich etwas falsch gemacht? Binnen weniger Sekunden brach der Angstschweiß in mir aus. Fieberhaft überlegte ich, wie ich ihn verärgert haben könnte, doch da unterbrach er mein Gedankenkarussell schon, indem er sich verlegen an seinem lockigen Hinterkopf kratzte.
»Hör mal, Lou. Ich wollte mich noch einmal bei dir entschuldigen, dass wir drei Idioten dir solche Unannehmlichkeiten bereiten und dir deine Reise versaut haben. Ich kann mir vorstellen, dass es für dich ein ganz schön großer Schock gewesen sein musste, als wir vor deiner Haustür aufgetaucht sind. Besonders weil wir zu Schulzeiten nicht wirklich etwas miteinander zu tun hatten, was ich übrigens sehr schade finde. Und dann sind wir dazu auch noch drei Männer«, sagte er und schluckte schwer. »Auf jeden Fall tut es mir leid, dass es so gekommen ist. Ehrlich.«
Während er redete und sich immer wieder verhaspelte, riss ich die Hände hoch und schüttelte nur immer wieder den Kopf.
»Schon gut, so schlimm ist es nicht«, murmelte ich verlegen, da ich plötzlich merkte, wie die geteilte Aufmerksamkeit aller auf mir lag. Einschließlich Hudsons eindringlichen Blick.
Miles grinste verlegen. Irgendwie schien ihm die Situation noch unangenehmer zu sein als mir, was mich auf eine seltsame Art beruhigte.
»Ich verspreche dir, dass du keine Angst haben brauchst. Also, weil wir ja Männer sind. Hudson lebt sowieso nur in seiner Welt und Jesse ist vollkommen harmlos – das wirst du auch noch sehen. Aber, ja, was ich eigentlich sagen wollte, rede einfach mit mir, wenn wir dir auf den Sack gehen. Dann schnappe ich mir die anderen beiden und wir verziehen uns. Schlimm genug, dass du uns Quälgeister nun für die nächsten Wochen an der Backe kleben hast. Das gilt übrigens auch für dich Grace«, sagte er verlegen in ihre Richtung. Ich konnte förmlich spüren, wie das Herz meiner Schwester gerade unzählige Saltos machte, während sie mit funkelnden Augen eifrig nickte.
Als ich sie auf diese Weise sah, so glücklich und aufgeregt, füllte sich mein Herz mit Wärme und ich wusste, dass sie alles richtig gemacht hatte. Vielleicht würde der Trip doch nicht so schlimm werden, wie ich dachte.
»Wirklich Miles. Es ist okay. Ich freue mich, dass ihr mitgekommen seid«, sagte ich leise, auch wenn ich nicht glauben konnte, dass diese Worte tatsächlich über meine Lippen gekommen waren.
Seltsamerweise hatte ich durch Miles' offene Art und Jesses Schrägheit das Gefühl, trotz meiner Eigenarten, dazuzugehören. Dennoch traute ich diesem neuen, trügerischen Gefühl noch nicht ganz, weshalb ich vorsichtig blieb. Trotzdem war es sehr nett von ihm, die Situation noch einmal zu klären. Ich nahm seine Entschuldigung gerne an, auch wenn sie letztendlich nicht nötig gewesen wäre.
Grace dachte wohl ähnliches und schmunzelte in sich hinein.
Plötzlich tauchte direkt vor meinen Augen ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift »Yosemite Nationalpark« auf, worunter ein Abbild von einem bewaldeten Gebirge zu sehen war. Jesse hatte es sich tatsächlich zur Aufgabe gemacht, nur T-Shirts zu tragen, die aus dem Gebiet stammen, wo wir uns gerade befanden. Er musste es sich gestern Nachmittag in dem Laden des Campingplatzes besorgt haben, als er gefühlte Stunden auf der Toilette verbracht hatte. Tja, das Thunfischsandwich hatte seinen ganzen Tribut gezollt.
»Wow, nur Lou kann wieder sprechen«, witzelte Jesse, während er mit dem Rücken zum Weg vor mir herlief und mich breit angrinste.
Erschrocken riss ich die Augen auf. Wahrscheinlich nahm er es mir übel, dass ich heute Morgen nicht mit ihnen gesprochen hatte. Er dachte bestimmt, dass ich ein Freak war.
»Sorry«, murmelte ich leise und wich seinem Blick aus.
»Für was entschuldigst du dich? Grace hat uns schon vorgewarnt, dass du öfter mal in deine eigene Welt abtauchst. Es ist echt krass, dass du dann völlig auszoomst und gar nichts mehr mitbekommst. Das musst du mir unbedingt beibringen.«
Mein Kopf schnellte nach oben und ich schaute ihn überrascht aus großen Augen an.
»Meinst du das ernst?«, fragte ich erstaunt und spürte, wie sich mein Herz mit Wärme füllte. Sein Blick war voller Aufrichtigkeit, als er nickte und dabei seine langen, lockigen Haare nach vorn fielen.
»Klar, du solltest mich mal irgendwann morgens zum Yoga begleiten. Da kannst du so richtig auszoomen«, sagte er und knuffte mir freundschaftlich in die Schulter.
»Gerne«, murmelte ich und musste bei dem Gedanken, dass Jesse Yoga machte, lächeln. Es passte auf dem ersten Blick eigentlich so gar nicht zu ihm, doch irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er uns mit seiner Vielschichtigkeit noch öfter überraschen wird.
»Aber hey, nur Lou, ich habe ein bisschen Angst, was in deinem Kopf so vor sich geht. Du hast dir doch für morgen früh nicht schon einen neuen Schlachtplan überlegt, oder?«
Mit seinen Worten entlockte er mir ein breites Grinsen, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Sofort schoss mein Blick zu Hudson, der mich aufmunternd anschaute. Es war okay, sich so zu fühlen, wiederholte ich seine Worte in meinen Gedanken. Ich schöpfte neuen Mut. Könnten diese Menschen mich vielleicht so akzeptieren, wie ich war?
,,Das kommt wohl darauf an, wie laut du heute Nacht schnarchst'', erwiderte Grace frech und streckte Jesse die Zunge heraus.
»Vielleicht sollte ich mir in diesem Laden ein Vorhängeschloss kaufen, nicht das nur Lou auf die Idee kommt, mir heute Nacht ein Kissen aufs Gesicht zu pressen«, sagte Jesse und zwinkerte mir zu.
Meine Lippen kräuselten sich. Ein ungewohntes Gefühl und doch genoss ich für einen Augenblick die Unbeschwertheit des Moments.
»Sie würde uns allen einen ehrenvollen Dienst erweisen, das steht fest«, mischte sich Miles ein und zog Tarzan an seine Seite. Sie rauften miteinander wie kleine Kinder. Doch während sie miteinander kämpften, entstand zwischen uns eine kleine Lücke, die sofort Hudson mit seiner Präsenz ausfüllte.
Er lief so dicht neben mir, dass ich seinen Arm an meinem spürte. Ich schluckte schwer und konzentrierte mich, einen Schritt nach dem anderen zu machen, ohne dass auffiel, dass meine Atmung sich stetig verflachte, umso näher er kam. Für einen winzigen Sekundenbruchteil stieg mir der Duft seines Aftershaves in die Nase. Es löste das Gefühl in mir aus, ihm noch näher sein zu wollen, doch noch während ich den Gedanken hatte, verwarf ich ihn wieder.
Doch gleichzeitig erinnerte ich mich an gestern Abend, als er seine Hände auf meine nackten Schultern gelegt hatte. Seine Berührung hatte unzählige Schmetterlinge freigesetzt, von denen ich nicht wusste, dass ich sie in mir hatte. Noch immer stand ich unter Strom, weil ich wusste, dass ich mich tief in meinem Inneren nach dem Gefühl sehnte, berührt und geliebt zu werden. Aber es würde letztendlich nur eine Sehnsucht bleiben.
Das Klingeln eines Telefons riss mich aus meinen Tagträumen, in denen ich mich schon wieder in tiefgraue Augen verloren hatte.
Hudson griff in seine Hosentasche und holte das vibrierende Handy hervor. Obwohl es mich nichts anging, wer ihn um diese Uhrzeit anrief, schielte ich zu ihm und erhaschte einen kurzen Blick auf den Anrufer.
Denver.
Da Hudson dicht neben mir lief, konnte ich auch die panische und laute Stimme des Anrufers hören, die durch die Stille des Nationalparks hallte.
Bei dem Klang seiner Stimme regte sich etwas tief in mir.
»Hudson?«, schrie eine männliche Stimme. Angst und Verzweiflung waren förmlich aus seiner zitternden Stimme herauszuhören. Ich zog die Augenbrauen zusammen, während mein Blick fragend auf ihm lag.
»Wo zum Teufel steckst du? Und warum hattest du dein beschissenes Handy ausgeschaltet? Ich habe überall nach dir gesucht. Ich...ich dachte schon...«
Sofort versteinerte sich Hudsons Körper. Sein Kiefer spannte sich an und er ballte die freie Hand zur Faust. Ohne mich anzuschauen, drehte er sich von mir weg, als wollte er nicht, dass ich das Gespräch mitanhörte. Zielstrebig entfernte er sich von der Gruppe, die ihm alle hinterherstarrten.
»Denver, beruhig dich. Mir geht es gut«, sagte er so leise wie möglich, doch wir alle konnten es genau hören.
Irgendetwas stimmte nicht.
Miles hatte sich in der Zwischenzeit von Jesse gelöst. Sein strahlendes Lächeln verrutschte, als wüsste er genau, um was es in dem Gespräch ging. Er warf Hudson einen besorgten Blick zu, doch dieser schüttelte nur mit dem Kopf und bewegte sich immer weiter weg von der Gruppe.
Ich sah ihm nach. Trotz der Entfernung konnte ich noch einzelne Gesprächsfetzen aufsammeln. Irgendwas an der Art, wie die andere Person gesprochen hatte, die tiefe Sorge in seiner Stimme, als hätte er Angst gehabt, Hudson könnte etwas passiert sein, ließ meinen Magen zusammenziehen. Ich konnte es nicht wirklich erklären, aber ich ahnte, dass hinter diesem Anruf mehr steckte. Gleichzeitig war ich mir nicht sicher, ob ich mit meinen neugewonnen Sorgen um Hudson umgehen konnte.
»Es war kurzfristig«, hörte ich Hudson sagen, während er seine Hand in seinen Nacken legte. - »,Nein, erst in sechs Wochen.«
Eine kurze Pause entstand, in der Hudson sich an einen Baum lehnte und geradewegs hinauf in das dichte Blätterdach starrte. Auch wenn er einige Meter von mir entfernt stand, sah ich plötzlich durch das einfallende Licht eine weiße Narbe entlang seines Halses hervorblitzen. Ich hatte sie vorher noch nicht bemerkt. Sie verlief geradewegs entlang der Halsschlagader und für einen kurzen Augenblick fragte ich mich, wie er sich diese Verletzung zugezogen hatte.
»Ja, habe ich dabei. Du musst dir keine Gedanken machen.« - »Ja, ich rufe dich regelmäßig an, Denver«, hörte ich ihn leise sagen, während er kurz nickte und dann schließlich das Handy sinken ließ.
Plötzlich schaute er zu mir, als hätte er bemerkt, dass ich ihn heimlich beobachtet hatte. Ertappt drehte ich mich weg und beschleunigte meine Schritte, um zu den anderen aufzuschließen, die sich in der Zwischenzeit in Bewegung gesetzt hatten. Ich war so in das Gespräch vertieft gewesen, dass ich nicht einmal mitbekommen hatte, dass sie sich entfernt hatten.
Meine Gedanken rasten, während ich Hudsons durchdringenden Blick in meinem Rücken spürte. In der Zwischenzeit redete ich mir ein, dass es mich verdammt nochmal nichts anging, warum Denver sich solche Sorgen um ihn gemacht hatte. Ich hatte eigene Probleme und ich sollte mich nicht in seine Angelegenheiten einmischen.
Und ganz besonders sollte ich nicht dieses verdächtige Magengrummeln spüren oder mir Sorgen um ihn machen.
»Denver? Ist das nicht sein älterer Bruder?«, fragte Grace gerade Miles, als ich bei ihnen ankam.
»Ja, er war eine Jahrgangsstufe über uns. So wie ich Hudson kenne, hat er ihm wohl nicht gesagt, dass er den Sommer über nicht da sein wird.«
Es wunderte mich, dass Hudson ihm nichts gesagt hatte. Sie schienen eine enge Verbindung zu haben. So war es schon damals in der High-School gewesen.
»Hm, ist das so ein großes Problem für ihn?«, fragte Grace und ich dankte ihr gedanklich dafür, dass sie in diesem Moment so unnachgiebig blieb.
Miles schwieg einen Moment, als überlegte er, was er sagen sollte, um nicht zu viel zu verraten. Kurz streiften seine Augen meine.
,,Weißt du was? Ist doch nicht so wichtig. Denver macht sich einfach immer Gedanken um seinen kleinen Bruder. Es gibt keinen Grund zur Sorge.''
Es war als hätte er diese Worte direkt an mich gerichtet, doch das konnte nicht sein. Allein die Art, wie er versuchte das Gespräch kleinzureden, sagte mir, dass hinter dieser vermeintlich einfachen Sorge eines älteren Bruders mehr stecken musste. Warum sollte er es sonst so betonen?
Wir verstummten, als Hudson zu uns aufschloss. Seine Miene war undurchdringlich, sodass niemand von uns wusste, was in seinem Kopf vor sich ging.
Wieder hafteten sich meine Augen auf die Narbe an seinem Hals. Beim genaueren Hinsehen erkannte ich die Tiefe des Schnitts. Die Narbe war an einigen Stellen wulstig und durchzogen von roter und weißlicher Farbe, die teilweise durch die zusammengewachsene Haut unterbrochen wurde.
Ich kniff meine Augen zusammen und überlegte fieberhaft, während ich den Blick nicht von ihm lösen konnte. Irgendetwas stimmte nicht.
Ich sah, wie er schwer schluckte. Und als ich den Blick hob, starrte mich Hudson Bale mit seinen dunklen Augen an, als wappnete er sich bereits für die Erkenntnis, die sich wenige Augenblicke später in mir breit machte.
Stumm schauten wir uns an.
Die anderen waren in der Zwischenzeit weitergegangen, doch ich konnte trotzdem ihre neugierigen Blicke auf uns spüren.
»Das solltest du nicht tun, Hudson«, sagte ich mit belegter Stimme, während die Luft um uns herum zu knistern begann. Mein Mund war staubtrocken, während mein Herz alarmierend gegen meine Brust stieß.
Hudson trat einen Schritt auf mich zu. Er war mir nun wieder so nah, dass ich seinen heißen Atem auf meiner Stirn spürte.
»Was sollte ich nicht tun, Lou?«, fragte er mit einer solch tiefen und rauen Stimme, dass ich von der Heftigkeit seiner Reaktion eine Gänsehaut bekam.
Sein Gesicht kam mir immer näher, doch ich widerstand dem Drang, zurückzuweichen.
Wieder flog mein Blick zu seinem Hals, während ich schwer schluckte. Ein verdächtiger Glanz bildete sich in meinen Augen.
»Du solltest mich nicht auf diese Weise beunruhigen. Verstehst du? Ich sollte mir keine Sorgen um dich machen«, sagte ich mit Nachdruck in der Stimme und drückte ihn leicht von mir weg, sodass er zurücktaumelte.
Er runzelte die Stirn und atmete tief ein und aus. Sein gesamter Körper spannte sich an.
»Ich denke, diese Grenze haben wir schon lange überschritten und das weißt du. Du willst es dir nur noch nicht eingestehen«, antwortete er mit finsterer Miene und drehte sich wortlos um.
Und wieder einmal war es Hudson Bale, der mich mit einem schlagenden Herzen und einer Flut aus Gedanken fragend zurückließ.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro