
zwanzig
- Momente in denen man das Gefühl hat, dass gerade alles gut läuft -
Ich glaube, ich mochte den Juni schon immer. Vielleicht war es nur der Name. Oder der Gedanke, dass ich diesen Monat immer mit der Sonne verband. Vielleicht stimmte es sogar. Denn mir kam es so vor, als wäre der Juni tatsächlich der sonnigste Monat im ganzen Jahr gewesen. Zumindest konnte ich mich nicht daran erinnern, dass es in den letzten Wochen mehr, als nur ein paar Tropfen, geregnet hatte. Schon traurig, dass auch dieser wundervolle Monat sich nun langsam dem Ende neigte. Es war, als hätte er nie wirklich stattgefunden. Tage und Wochen in denen ich kaum etwas gemacht hatte und dennoch so produktiv und beschäftigt war, wie Jahre nicht mehr. Davis hatte sich nahezu vollständig erholt. Alle Nachuntersuchungen vielen mehr als positiv aus und es schien keine Anzeichen auf irgendetwas negatives zu geben. Anders gesagt, er war vorübergehend gesund. Und diese Nachricht war es, die diesen Monate perfekt machte. Am liebsten wollte ich, dass er nicht mehr endete. Meinetwegen hätte ich diesen Tag mein Leben lang weitergelebt. Auch wenn ich tagtäglich dasselbe tat. So lange es mich glücklich machte, wünschte ich mir, er würde nie enden. Aber dass musste er nun mal. Und so lag ich abends nicht im Bett und bedauerte, morgen wieder aufstehen zu müssen, sondern bedauerte, dass der Tag schon wieder herum war.
Ich saß seit langem wieder draußen auf der Bank und wartete, dass Davis von einer Besprechung wieder kam. Wir waren oft zu der Lichtung gegangen. Nahezu jeden Tag. Und ich konnte einfach nicht aufhören, diesen magischen Ort zu vergöttern. Und so war es, wie Davis es prophezeit hatte, fast wie ein grauer Fleck, wenn ich, wie jetzt, auf das runde Fleckchen Wasser starrte und mir wünschte, das Wasser würde genau so sehr glitzern wie das des Flusses.
,,Na, schon Langeweile?", erklang Davis Stimme hinter mir. Kurzer Hand sprang er über die Seitenlehne und setzt sich zu mir. Mit einer gespielten Bewunderung musterte ich sein, nicht mehr all zu neues, Kunststück und schüttelte anschließend den Kopf.
,,Keine Sorge, ich kann auch gut ohne dich klar kommen." Er entgegnete ein ironisches Lachen und schüttelte schnell den Kopf.
,,Lou, du brauchst uns beiden nichts vor machen. Denn wir wissen alle beide, dass du ohne mich aufgeschmissen wärst." Ich konnte mir ein Grinsen nur schwer verkneifen, zwang mich allerdings meinen Ausdruck keinen Millimeter zu verziehen.
,,Ich habe 17 Jahre ohne dich auskommen können. Mach dir nicht zu großen Hoffnungen." Bevor er etwas erwidern konnte, nickte ich auf seine linke Hand, welche sich hinter seinem Rücken befand, als wollte er etwas verstecken.
,,Was has du da?", fragte ich interessiert und versuchte in seinem Gesicht eine Antwort abzulesen. Doch dazu kam ich nicht. Anders als sonst schien er kein Geheimnis aus allem machen zu wollen und hielt mir in Sekunden schnelle seine Hand direkt vor mein Gesicht. In ihr ein rechteckiger Kasten aus Pappe, der mit Dicken Klebestreifen verschlossen war und deutlich schwerer war, als er aussah. Es schien also tatsächlich etwas darin zu sein.
Ich zog fragend die Stirn in Falten. ,,Was ist das?" Er rollte mit den Augen und sah mich auffordernd an. ,,Du musst schon reingucken. Ist vor einer Stunde mit der Post gekommen."
Zögernd knibbelte ich an dem Ende des Klebebandes und versuchte es abzuziehen. Die Neugier kam in mir hoch, da ich mir nicht im geringsten vorstellen konnte, was darin sein konnte. Schnell klappte ich die Seiten auf und griff mit meiner gesamten Hand herein. Unter einer dichten Schicht mit irgendeinem lückenfüllenden Papier, ertastete ich einen merkwürdig geformten Gegenstand. Er war auf eine gewisse Art quadratisch, hatte jedoch mehrere unförmige Elemente und fühlte sich außergewöhnlich an.
Vorsichtig, in der Angst, ich könnte etwas kaputt machen, zog ich es heraus. Meine Augen weiteten sich und verwirrt ließ ich meinen Blick zwischen Davis und dem Gegenstand schwanken.
,,Eine Polaroid Kamera?", fragte ich überrascht und betrachtete sie genauer. Ich hatte nie so ein Teil gehabt. Offen gesagt, hatte ich nie wirklich Bilder gemacht. Wahrscheinlich aus dem simplem Grund, dass ich nichts spannendes zu fotografieren hatte. Früher hatte Mum mir eine Kamera verboten, da sie fand, dass ich womöglich nicht damit umgehen konnte. Heute hatte ich mein Handy. Aber die einzigen Bilder die ich darauf hatte waren die unfassbar unlustigen Bilder mit den noch unlustigeren Sprüchen, die immer zu Weihnachten oder Ostern verschickt wurden. Die meisten davon erhielt ich von von der älteren Schwester meines Vaters. Die einzige Person auf der Seite meines Vaters mit der wir mehr oder weniger gezwungener Maßen Kontakt hatten, da sie nur zwei Straßen weiter wohnte. Auch, wenn sie in meinen Augen lange nicht zur Familie gehörte.
Dass ich sie das letzte Mal gesehen hatte, musste aber mehrere Jahre her gewesen sein. Und wie ihr Kontakt auf mein Handy gekommen war, weiß ich bis jetzt nicht. Fakt ist, dass sie hundert prozentig der Generation angehört, die diese Feiertags Bilder zum totlachen findet und sie diese aus dem Grund an ihre gesamten Kontakte verschickte.
,,Was ist denn los?", riss mich Davis Stimme aus meinen Gedanken. ,,Gefällt sie dir nicht?", fragte er zum Teil überrasch, als auch belustigt. Wahrscheinlich als Antwort auf meinen nachdenklichen Gesichtsausdruck, der eigentlich nur Tante Sues Feiertagsbildern galt und irgendeinem dieser komischen Sprüche. Schnell schüttelte ich meinen Kopf und sah ihn strahlend an.
,,Nein Davis, im Gegenteil. Ich liebe sie", meinte ich und auf meinen Lippen lag ein Strahlen. Auf seinem Gesichtseindruck breitete sich Begeisterung aus.
,,Aber, das ist viel zu...", begann ich, bevor Davis in Sekunden schnelle seine Finger auf meine Lippen legte.
,,Schh, wag es nicht, den Satz auszusprechen", flüsterte er mit strenger Stimme. Ich lehnte mich zurück und umgriff sein Handgelenk, um dennoch meinen Gedanken aussprechen zu können.
,,Warum?", fragte ich nur. ,,Du sollst mir nichts schenken. Schon gar nicht einfach so, ohne jeglichen Anlass."
,,Aber es gibt einen Anlass." Überrascht zog ich die Augenbrauen hoch. ,,Und der wäre?"
Er schlug die Arme übereinander, als es ihm endlich gelungen war, sein Handgelenk aus meinem festen Griff zu befreien.
,,Ich will dein Leben bunter machen", entgegnete er und wartete darauf, dass ich von selbst verstand, was er damit meinte. Die Reaktion folgte nur einen Bruchteil später. Meine Augen begannen zu funkeln und mein Blick wanderte zurück auf die Kamera in meinem Schoß.
,,Ich meine ich bin erst seit ein paar Wochen hier. Und diese kalten Wände kotzen mich an." Ich unterbrach ihn durch ein leises Kichern.
,,Ich bin vielleicht kein Poet, aber dafür bin ich intelligent." Wieder zog ich meine Augenbrauen nach oben, worauf Davis nur mit den Augen rollte. ,,Intelligent indem ich dich verstehe. Ich sehe das Problem und ich erkenne die Lösung: Bilder an die Wände. Und wie kommen Bilder an die Wände? Genau, durch dieses Ding in deinem Schoß." Ich schüttelte den Kopf. Zum einen vor Entsetzen, dass er mir Grundlos etwas gekauft hatte, zum Großteil jedoch aus purer Freude.
,,Davis, du glaubst gar nicht wie..." Ich legte meine Arme um seine Schultern und zog ihn in eine feste Umarmung. Alles diesem Gefühl in mir zu verdanken. Die Freude, die mich einen Moment alles vergessen ließ.
,,Du brauchst mir nicht zu danken", flüsterte er durch mein Haar. Für Sekunden schloss ich die Augen, bis die perfekte Harmonie plötzlich von einem unerträglichen Geräusch gestört wurde
•••
,,Lass sie uns ausprobieren", rief ich plötzlich, indem ich die Stille unterbrach. Wir waren in Davis Zimmer. Er lag auf seinem Bett und tippte mit seinem Laptop wie wild irgendwelche Nachrichten, da ihm gleich nach dem kurzen Mittagessen eingefallen war, noch etwas wichtiges klären zu müssen. Aus einfachem Desinteresse hatte ich nicht nachgefragt und war ihm einfach auf sein Zimmer gefolgt. Da er nun aber schon seit einer geschlagenen Stunde schweigend auf den Bildschirm starrte und dabei so langweilig zu beobachten war, wie ein schlafendes Faultier, überkam mich nun langsam die Langeweile. Ich hatte die ganze Zeit nur aus dem Fenster gesehen und nachgedacht.
Doch langsam hatte ich wirklich keine Geduld mehr.
,,Jetzt?", erklang Davis Stimme beiläufig und ich lehnte meinen Kopf auf dem Stuhl so weit zurück, wie es ging, um die Decke zu beobachten. Dasselbe Bild, wie immer.
,,Natürlich jetzt, wenn du denn auch mal fertig bist mit dem was du da machst." Ruckartig setzte ich mich auf. Der selbe Anblick wie vor zehn Minuten. Als er noch immer dabei war, vertieft eine Nachricht zu tippen, richtete ich mich langsam auf und setzte mich neben ihn auf sein Bett.
,,Was schreibst du?", fragte ich, da er mir auf die andere Frage keine konkrete Antwort geben wollte. Er seufzte und lehne sich zurück in das Kissen. Den Laptop ließ er das erste Mal seit Minuten aus den Augen. ,,Der Anruf eben - das war mein Dad." Er fuhr sich durch sein dichtes Haar.
,,Oh", sagte ich nur, da ich nicht wusste, wie ich sonst hätte reagieren sollen. Doch ich brauchte gar nicht nach fragen, denn komischer Weise schien Davis auf ein mal wieder gesprächiger zu sein.
,,Für ihn ist seit meiner Geburt klar, dass ich eines Tages mit meinem Bruder seine Firma übernehmen werde. Wir verkaufen Autos - Sportwagen - und andere Elektro Artikel. Ein Familien Unternehmen, welches mein Großvater damals gegründet hat." Wahrscheinlich dachte er, es würde mich nicht interessieren, weshalb er weitere Details wegließ. Doch tatsächlich hätte es mich nicht gestört, mehr zu erfahren. Auch wenn ich ihn seit einer gefühlten Ewigkeit, die in Wirklichkeit nur einige Wochen betrug, kannte, hatte ich das Gefühl noch immer viel zu wenig über seine Familie zu wissen. Ich wusste zwar, dass sein Vater Geschäftsführer war und, dass sie augenscheinlich viel Geld hatten. Vermutlich die einzige Entschuldigung dafür, dass er mir anlasslos ein Geschenk kaufte. Doch, dass Davis die Firma übernehmen sollte, wusste ich nicht. Vor allem nicht, ob er das überhaupt wollte. Tatsächlich hatte ich nie darüber nachgedacht. Ich kannte Davis gut. Sein Verhallten und seinen Charakter. Ich verstand, was er dachte. Ich verstand ihn. Die Dinge, die man erst nach einer jahrelangen Freundschaft heraus fand. Vielleicht war es bei uns andersherum. Ich ertastete erst den Kern. Und dann ganz langsam den Rest darum herum.
Doch in meinen Augen, war Davis der Klischee Football Spieler und der beliebte Highschool Schüler. Der, der es ohne Stipendium auf eines der besten Colleges schaffen würde. Und studieren würde, so lange, bis er wusste, was er erreichen wollte. Doch nie hatte ich darüber nachgedacht, dass seine Zukunft schon in festen Händen lag. Vielleicht aus dem Grund, dass meine das genaue Gegenteil war. Ich hatte keine Pläne für irgendwann. Ich durfte nicht ein mal welche für die nächste Woche oder sogar nächstes Jahr haben. Denn wer wusste schon, ob diese Pläne jemals ausgeführt werden konnten.
,,Und was willst du?", fragte ich nach einer Weile. Davis zuckte müde mit den Schultern. ,,Ich weiß es nicht und ich denke genau da liegt mein Problem. Aber ich weiß um so besser, was ich nicht will. Mit zehn brachte mein Vater mir bei, wie ich Rechnungen zu schreiben hatte. Wie Verträge unterzeichnet werden und alles was man als Leiter einer solchen Firma können muss. Natürlich hat er mich nicht gefragt, ob ich das alles überhaupt will. Für ihn war das alles selbstverständlich. Für mich eigentlich auch." Mit einem Ruck klappte er den Laptop zu und war nun endlich in der Lage, mich an zu sehen. ,,Wieso das denn?", fragte ich und bemerkte, wie ausdruckslos seine Miene war. Ich hatte mich nie mit alledem beschäftigen müssen. Früher wollte ich Tierärztin werden, wie gefühlt jedes kleine Mädchen. Mein nächster Berufswunsch war Astrophysikerin, da Mum irgendwann eine Doku über das Weltall im Fernsehen laufen hatte und ich gleich mehr als fasziniert von den weiten der Galaxie war. Mehr gab es nicht.
,,Naja, wenn man von Anfang an eingetrichtert bekommt, was man tun soll, muss man sich von keinen Alternativen ablenken lassen. Dad hat mich früher oft mit zur Arbeit genommen. Er sagte, ich wäre wie er früher." Er schüttelte für einen Moment kurz den Kopf. ,,Ein Grund, weshalb ich ihn und mich selbst noch mehr gehasst habe. Er war schon immer kompliziert. Er hat Drogen genommen, ganz knapp seinen Highschool Abschluss bekommen und ist dann einfach den selben Weg gegangen, wie mein Großvater. Aus Faulheit. Manchmal frage ich mich, wie er es überhaupt von dieser Schiene weggeschafft hat. Das Schlimmste ist, dass ich mich viel zu oft in ihm wieder erkenne. Ich habe keinen Plan für mein Leben. Meine Noten sind verdammt noch mal schlecht und von dem gesamten letzten Jahr will ich gar nicht reden. Du glaubst nicht, wie ich mich für all das hasse. Dafür, dass ich so bin wie er."
Stille.
So hatte ich das ganze noch nicht gesehen. Ich wusste, das er seinen Vater hasste. Aber das er sich selbst für all das noch viel mehr hasste, brachte mich für eine kurze Weile in Verwunderung.
,,Das ist der Grund, weshalb ich diesen Scheiß überhaupt mache. Jeden Tag hält er mir vor die Nase, wie dumm ich bin. Wie mein Leben aussehen wird, wenn ich nicht auf ihn höre. Ohne einen richtigen Abschluss. Kein College. Absturz. Und davor habe ich Angst. So sehr, dass ich seit Jahren das mache, was er will. Ich gehöre ihm Lou." Schnell schüttelte ich den Kopf. Unauffällig aber impulsiv.
,,Mir fallen gleich tausende Dinge ein, die dich von ihm unterscheiden. Ich kenne ihn nicht. Aber ich weiß wer du bist. Und das bist du ganz sicher nicht. Du könntest so viel mit deinem Leben machen. Ich weiß, dass du ihn dafür nicht brauchst."
,,Da bist du aber die Einzige", murmelte er und schwang sich aus dem Bett.
,,Gehn' wir?", fragte er plötzlich. Ich zog die Augenbrauen nach oben und sah ihn einen winzigen Moment lang verwundert an. Er wollte nicht darüber reden. Noch hatte er Zeit.
,,Wohin?"
Plötzlich tat er so, als würde er seit Stunden dasselbe erzählen.
,,Na Bilder machen." Ich grinste kopfschüttelnd und boxte gegen seine Schulter. Er entgegnete ein Lächeln. Wie so oft wurde mir warm ums Herz.
Geschenke können noch so teuer sein. Noch so groß oder noch so schön. Haben sie keine Bedeutung, so sind sie schon nach ein paar Wochen oder Monaten, wenn es gut kommt Jahren, bedeutungslos. Wenn Geschenke keine Geschichte erzählen können, dann sind sie wertlos. Egal wie teuer, groß oder schön sie sind.
Eine Kamera zum Beispiel. Für den einen ist es ein Objekt. Bilder zu machen, sie Erinnerungen zu nennen, wobei sie doch nur ein unbedeutendes Essen fotografiert haben. Den ach so tollen Urlaub in den Malediven, der eigentlich völlig daneben lief, aber die Bilder so aussehen, als ob sie ein perfektes Leben festhielten.
Und dann gibt es die andere Seite. Die Leute, für die die Kamera wirklich etwas bedeutet. Sie hält Momente fest, die nie wieder kommen. Momente in denen man das Gefühl hat, dass gerade alles gut läuft. Die wirklich zeigen was passiert. Seien sie nun auf den Malediven oder aus einem einfachen Klinik Zimmer mit Blick auf die Natur geschossen worden. So lange die Kamera Momente festhält und keine einfachen Orte, hat sie eine Bedeutung. Und so weiß ich, dass dieser kastenförmige Gegenstand in meinem Schoß nie an Bedeutung verlieren wird.
Ebenso wenig, wie die bunten Lichter und Momente an meiner Wand. Die einst mal weiß und kalt und einsam war.
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