zehn
- Es ist eine Gabe. -
Ohne es überhaupt beabsichtigt zu haben, schlugen meine Augen auf. Die ersten Sonnenstrahlen, schienen durch die Vorhänge und blendeten mich, als würde man einen viel zu grellen Scheinwerfer zehn Zentimeter vor meinem Gesicht auf mich richten. Verbittert kniff ich die Augen zusammen und rollte mich mühsam auf die andere Seite. Erst nach mehreren Minuten schaffte ich es, klarer zu denken.
,,Scheiß Sonne", kam mir als erstes in den Sinn.
,,Samstag", war das zweite und deutlich größere Problem. Ein weiterer Samstag ohne Mum. Ohne ihr mitgebrachtes Essen und ohne ihre liebe Umarmung. Sie musste längst in Virginia angekommen sein. Gemeldet hatte sie sich kein mal bei mir. Nicht mal eine verdammte Nachricht. Ich bezweifelte stark, dass sie ihr Handy vergessen hatte. Vielmehr war ich mir sicher, dass man ihr in dieser dummen Anstalt dazu riet seinem Kind nicht zu schreiben und sich dafür einzig und allein auf sich selbst zu konzentrieren. Ich seufzte leise. Warum waren das die ersten Gedanken am Tag, jeden einzelnen Morgen? Ich konnte nicht mehr. Meine Gedanken und meine Kraft damit zu verschwenden und an sie zu denken, jede freie, langweilige Sekunde, wenn ich doch eh keine Antwort darauf bekommen würde. Ich drehte mich zurück auf den Rücken. Wieder seufzte ich.
Komischerweise, war mein nächster Gedanke ein anderer.
Davis.
Heute vor einer Woche hatte ich ihn kennengelernt. Es fühlte sich wie eine halbe Ewigkeit an. Schön, mit welcher Person, die man kennen lernte verbrachte man gleich zu Anfang eine ganze Woche ununterbrochen zusammen. Es war Wahnsinn, dass er mich so gut verstand, ohne mich auch nur ein bisschen zu kennen. Dasselbe von meiner Seite aus. Ich konnte nicht sagen was es war, aber irgendetwas an ihm schaffte es, mich jeden Morgen seit einer Woche wenigstens für ein paar Minuten meine Sorgen vergessen zu lassen. Ich dachte an das gemeinsame Frühstück. Ja selbst auf das Frühstück, dass ich sonst liebend gern ausfallen ließ, freute ich mich. Ich mochte den Gedanken, nicht allein in der hintersten Ecke sitzen und mein trockenes Toast anknabbern zu müssen. Ich wusste, dass ich am Nachmittag in den Park zur Bank gehen würde und er wäre da. Wie viele Stunden ich in meinem Leben schon ganz allein auf dieser Bank verbracht hatte. Und wie mir die letzten Tage mit ihm auf der Bank um Jahre mehr vorkamen. Ich wusste garnicht, ob wir wirklich immer sprachen, oder einfach nur gemeinsam schwiegen. Als es gestern das erste mal seit Wochen geregnet hatte, war Davis hereingelaufen und hatte uns eine riesige Decke geholt, sodass wir weiterhin auf das glänzende Wasser sehen konnten. Und obwohl wir am Ende des Schauers mehr, als nur durchnässt waren, trocknete uns anschließen die wiedererschienene Sonne. Ich hatte das Gefühl, noch nie so viel den warmen Sonnenstrahlen ausgesetzt gewesen zu sein, wie in den vergangen sieben Tagen. Wahrscheinlich hatte ich längst einen Sonnenbrand auf der Nase bekommen. Sah ich natürlich nicht. Einen Spiegel mied ich weiterhin. Und ich würde es an seiner Reaktion bemerken, würde er lachen und mich mit einem Clown vergleichen.
Langsam richtete mich auf. Ich hätte das Gefühl, dass mir das Aufstehen noch nie so leicht gefallen war, wie im den vergangenen Tagen. Ich mochte die gebrochenen Sonnenstrahlen, die durch die Vorhänge in mein Zimmer und in mein Gesicht schienen, auch, wenn ich mich jeden Morgen darüber beschwerte, dass sie mich aus dem Schlaf rissen. Ich mochte sogar meinen grässlichen Morgenmantel und ich freute mich einfach auf das Frühstück mit ihm.
Ich musste nicht auf die Uhr sehen. Mein Schlafrhythmus war zuverlässig. Seiner wahrscheinlich auch. Denn jedes mal, wenn ich die Kantine betrat, saß er schon längst auf seinem Platz. Auch, wenn er sich jeden Morgen bei mir beschwerte, wie sehr er es hasste so früh aufzustehen. Und ich ihm nur antwortete, dass er auch ruhig wieder ins Bett gehen konnte. Wohingegen er natürlich nur zu lachen begann.
Schnell griff ich nach meinem Mantel, schlüpfte in meine Schuhe und band noch während ich das Zimmer verließ, meine Haare zu einem kleinen Dutt zusammen.
Ich lief den, noch leeren, Flur entlang und stieß eine Tür nach der anderen mit einem Schwung auf. Wie lange ich früher für den Weg in die Kantine gebraucht haben musste. Den Fahrstuhl mied ich und eilte stattdessen die Treppen nach unten.
Mit fast schon einem kleinen Schmunzeln auf den Lippen und einem knurrenden Magen betrat ich den großen Saal. Meine Schritte waren lang und ich lief hungrig auf den hinteren Teil zu, auf einen Tisch, an dem ich bereits von dieser Entfernung eine Silhouette erahnen konnte.
,,Guten Morgen", rief ich ausgelassen und ließ mich auf den Stuhl fallen. Mittlerweile war es mir mehr als nur egal, dass Davis jeden Morgen den schrecklichen Ausblick auf das Ungetüm in ihrem kitschigen Morgenmantel aushalten musste.
,,Hi." Seine Stimme klang eintönig. Kein Schimmer von diesem motivierenden Ton in der Stimme. Keine Hoffnung auf eines seiner Lächeln. Für einen kurzen Moment zog ich meine Stirn in falten, entspannte mich jedoch schnell wieder. Jeder hatte mal einen schlechten Tag. Sogar Davis. Vielleicht war er ausnahmsweise auch einfach mal müde, was endlich mal zu seiner Behauptung, ein Langschläfer zu sein, passen würde. Oder er hatte einfach schlecht geschlafen. Ich beschloss ihn nicht darauf an zu sprechen und sah ihn nur auffordern an.
,,Holen wir uns was zu essen? Du kannst dir nicht vorstellen, was für einen Hunger ich habe", meinte ich fröhlich und war schon in begriff erneut aufzustehen, doch er schüttelte nur den Kopf.
,,Geh du nur. Ich halt dir den Platz frei." Ein schräges Grinsen, welches mehr oder weniger einfach meine Unsicherheit überdeckte, legte sich auf meine Lippen.
,,Alles - in Ordnung?", fragte ich stockend. ,,Du weißt schon, dass niemand aus der gesamten Klinik Lust hat um diese Urzeit zu frühstücken. Du kannst also guten Gewissens mit mir kommen." Ich versuchte meine Stimme belustigt klingen zu lassen. Wahrscheinlich scheiterte ich.
,,Ich habe einfach keinen Hunger", murmelte er und rührte seinen versteiften Oberkörper keinen Millimeter. So saß er da, wie bei einem Vorstellungsgespräch, vor dem die Leute im Fernsehen immer so wahnsinnig aufgeregt schienen. Was war bitte los mit ihm? Davis, der lockere, motivierende Sprücheklopfer, gute Laune Macher und vor allem, in meinen tiefsten Hoffnungen, kein verdammter Krebspatient. Er war gesund. Das musste er einfach sein. Aus welchem Grund auch immer er hier war. Langsam und nun viel unsicherer stand ich auf. Stumm lief ich zur Ausgabe. Rührei und Toast, wie immer. Ich zögerte einen Moment, doch packte mir dann, aus voller armseliger Hoffnung eine zweite Kelle voller Rührei auf meinen Teller. Langsam trottete ich zum Platz zurück. Vielleicht hätte ich einfach ein winziges Lächeln von ihm gebraucht. Unfassbar, wie mich seine Stimmung von einer auf die andere Sekunde so herunterziehen konnte, dass ich nun am liebsten einfach zurück auf mein Zimmer gelaufen wäre. Lautlos stellte ich den Teller auf den Tisch ab und setzte mich in einer auffordernden Bewegung auf den Platz. Ich wollte, dass er von sich aus begann zu erzählen. Ich war noch nie gut darin gewesen fragen zu stellen. Energisch schob ich den Teller in die Mitte und sah ihm dabei direkt in die Augen, als versuchte ich in ihnen eine Antwort zu finden.
,,Ich bestehe darauf", meinte ich und legte eine zweite Gabel mit einem Klirren direkt vor seine Hände. ,,So eine riesige Portion schaff ich nicht." Einen Moment hatte ich die Hoffnung, sein Ausdruck, würde sich erhellen. Das Einzige, was von ihm kam, war ein seufzten.
,,Ich auch nicht", meinte er und schüttelte seinen Kopf. Automatisch legte ich die Stirn in Falten. Konnte er mir nicht einfach sagen, was los war? Auch, wenn mir eigentlich längst der Appetit vergangen war, nahm ich provozierend einen großen Bissens des Rühreis. Wie konnte er darauf keinen Hunger haben? Davis, dem meist selbst zwei volle Teller zu wenig waren. Er sah mich nur weiterhin ausdruckslos an. Das Rührei schien ihn wirklich nicht im geringsten zu Interessieren. Es war etwas anderes. Und es musste etwas gravierendes sein. Warum konnte er nicht einfach sagen, was ihm auf der Seele lag?
,,Davis...", begann ich zögernd, nach dem ich auch den zweiten Bissen mit Mühe herunter geschlungen hatte. ,,Ist wirklich alles in Ordnung?" einen Moment schien er zu zögern. Ich sah förmlich, wie die Gedanken durch seinen Kopf zischten. Kurz sah es so aus, als wollte er etwas entgegnen, dann schüttelte er den Kopf.
,,Ich kann nicht, Lou. Tut mir leid." Seine raue Stimme kratzte in meinem Kopf. Ich ließ die Gabel auf den Teller sinken und sah ihm dabei zu, wie er aufsprang und mit einem letzten entschuldigenden Blick aus der Cafeteria lief. Und wieder war sie da. Das hilflose, verwirrte, schwache Mädchen, welches nichts machen konnte. Nutzlos und mit dem großen Wunsch, dass das alles nur ein Traum war. Ich wollte meine Augen öffnen, an den Platz laufen und Davis mit seinem strahlenden Lächeln und zwei bis zum Rand gefüllten Tellern sehen. Ich wollte einfach mein perfektes unperfektes Leben zurück. In dem das Einzige, was mich Glücklich machte, eine winzige Bewegung war. Ein Lächeln.
Wenn man eine Sekunde auch nur daran denkt, glücklich zu sein. Nein...fassen wir es einfacher. Wenn man auch nur einen winzigen Augenblick das Gefühl hat, einigermaßen mit seinem schrecklichen Leben klar zu kommen. Wenn auch nur kurz denkt, dass es vielleicht doch einen Sinn geben könnte. Warum muss einem diese Kleinigkeit genommen werden? Wieso muss das Universum nach weiteren Gründen suchen, um einen schlecht fühlen zu lassen?
Ich habe tatsächlich gedacht, dass alles besser werden würde.
Nach einer Woche hatte ich tatsächlich ein winziges bisschen Hoffnung.
Meine Mum hat mich verlassen.
Dank Davis denke ich nur selten daran.
Dank ihm verbringe ich nicht jede Sekunde damit, zusammen zu brechen. Weinend in meinem Bett zu liegen und einfach nicht mehr atmen zu wollen.
Es ist, als hätte er mir den Wert des Sauerstoffes gezeigt. Wie man damit umgehen muss. Es zu verehren und nicht als Feind anzusehen. Als Mittel zu überleben. Denn ich will leben.
Und egal was passiert ist - dass ich allein bin, sterbenskrank und wahrscheinlich nie, nicht mal nur ansatzweise, an ein normales Leben denken kann - er schafft es dennoch mich für eine Weile all das vergessen zu lassen. Die Stunden, die wir gemeinsam auf der Bank gesessen haben. Die wenigen, aber so bedeutungsvollen Worte, die wir ausgetauscht haben. Vielleicht will ich es nicht wahrhaben, es abstreiten, in der Hoffnung, ich könnte diesen Gedanken nach alldem, was ich mit Cath erlebt habe, einfach vergessen. Ich habe die ganze Zeit versucht diese Tatsache zu verdrängen.
Davis sollte ein Patient für mich sein. Einer der vielen Sterbenskranken in diesem riesigen Gebäude. Dessen Tod und Probleme mich nicht interessieren sollten. Ich hatte selbst mehr als genug davon.
Doch es ist unmöglich. Er ist nicht einfach nur ein Patient. Er ist niemand, über dessen Tod ich hinwegsehen könnte. Wenn mir selbst nur der kleinste Schimmer an Trauer in seinen Augen auffällt, fühle ich mit ihm. Ich will verhindern, ihn zu einer neuen Cath werden zu lassen. Einem Freund. Das sollte er einfach nicht sein, auch wenn diese Tatsache längst nicht mehr in meiner Kontrolle liegt. Ich habe all die Monate versucht ihren Tod zu vergessen. Weiter zu machen und so zu tun, als wäre auch sie nur eine dieser Patientinnen gewesen.
Aber ich muss mir langsam eingestehen, dass sie nicht nur das Schlimmste war, dass mir passieren konnte, sondern zugleich das Beste. Und diese Tatsache überschreitet alles. Ist es so falsch, lieber selbst zu sterben zu wollen, als Freund zu verlieren? Seinen ganzen Schmerz auf sich zu nehmen, nur um ihn zu entlasten, ihn Lächeln zu sehen?
Vielleicht ist es genau das, vor dem ich all die Zeit so eine große Angst hatte.
Freundschaft.
Bei Cath war ich gescheitert. Ein Grund mehr, dass mir das Universum eine zweite Chance gegeben hat. Ich darf nicht versagen. Nicht bei Davis. Ich ich merke erst jetzt, wenn ich seinen Schmerz und seine Angst in seinen Augen lese, dass ich handeln muss. Dass Freundschaft das aller Wichtigste ist.
Kein Fluch, wie ich bis jetzt gedacht habe. Es ist eine Gabe.
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