
neunundzwanzig
- Ich verspreche dir, dass ich bleibe, egal was passiert. -
Die Tage verstrichen endlos, bis endlich Freitag war. Das Einzige, was ich tat, war den ganzen Tag im Bett zu liegen. Ich skypte Nachmittags mit Cara und Mason, gleich nachdem sie aufgestanden waren. Sie sagten, dass Spanien großartig sei. Bis auf die Zeitumstellung hatten sie sich unglaublich schnell an das Land gewöhnt. Sie schickten mir immer mehr Bilder und erzählten stundenlang von ihren Ausflügen. Ich brauchte diese Ablenkung und sie tat wirklich gut. Zugleich konnte ich jedoch einfach nicht stillsitzen. Ich hatte mich so sehr an die vergangenen Wochen gewöhnt. Daran herum zu laufen, etwas zu unternehmen. Jetzt war niemand da, mit dem ich etwas machen konnte.
Darum war ich wirklich erleichtert, als es schließlich Freitag war. Ich würde Davis wiedersehen. Er hatte mir jeden Tag geschrieben, doch das war einfach nicht dasselbe. Es war so komisch, wenn man jeden Tag mit einer Person zusammen war und so plötzlich getrennt wurde - ja, das plötzlich, war wirklich mehr als überraschend.
Er hatte mir jeden Abend erzählt, wie nervig es zu Hause war. Zwar ließ sein Vater ihn am Morgen im Bett, doch gleich nach dem Mittag, nahm er ihn mit in die Firma, um irgendwelche Vorbereitungen zu treffen. Immerhin nahm er seine Tabletten und er versprach mir jedes mal hoch in heilig, dass es ihm gut ginge, egal, wie anstrengend die Tage für ihn waren. Er schrieb mir auch, wie glücklich Ruby war, dass er zurück war. Sie hatte ihm viele Fragen gestellt, darüber was er hatte und wie es ihm ging. Ich konnte mir vorstellen, dass sie sich nicht getraut hatte, ihren Vater zu fragen. Sie hatte sich erkundigt, ob er sie vermisst hatte und Davis schrieb mir, dass er seiner Schwester von mir erzählt hatte und sie mich unbedingt kennen lernen wollte. Diese Nachricht zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht. Sogar Scott hatte sich bei Davis gemeldet. Mit einem knappen:
Hey, Dave, alles klar. Mum hat gesagt, du warst im Krankenhaus. Sollen Lindsay und ich am WE vorbeikommen? College ist stressig.
Immerhin hatte er sich überhaupt gemeldet, dachte ich. Doch dann erzählte Davis mir, dass er dieses Angebot dankend abgelehnt hatte und er schrieb, wie diese Besuche meistens aussahen.
Scott kam mit seiner Verlobten in seiner Luxus Karre angerauscht, bei dessen Erwähnung Davis mir geschworen hatte, dass sie noch viel teuerer gewesen sein muss, als seine. Scott schwärmte davon, wie gut das College lief und, dass er und Lindsay sich schon bald räumlich vergrößern wollten. Nebenbei bemerkt lebten sie bereits in einer riesengroßen Penthauswohnung mit viel zu viel Platz für zwei Personen. Und darauf, dass sein Bruder mit seinem perfekten, sorgenfreien Leben angab und sich nicht den Dreck um irgendwas anderes scherte, hatte Davis nun wirklich keine Lust.
Dr.Cartney klopfte an der Tür und trat freundlich ein. ,,Blutwertuntersuchung", reif sie fröhlich, als wollte sie verkünden, dass ich im Lotto gewonnen hatte. Ich rollte mit den Augen. ,,Schon wieder?" seufzte ich. ,,Davis kommt heute an, ich habe versprochen, ihn vor dem MRT in der Eingangshalle abzufangen", versuchte ich sie zu überzeugen. An meinen Blutwerten hatte sich die letzten zwei Monate nichts geändert. Warum war das ganze also auf den Tag genau so wichtig?
,,Loucy, du weißt wir haben einen strikten Plan, den wir einhalten wollen. Wenn die nächsten drei Untersuchung weiterhin so gut ausfallen, müssen wir die Werte nur noch alle ein bis zwei Monate nehmen." Ich rollte mit den Augen, krempelte meinen Ärmel nach oben und legte meinen Armbeuge frei. ,,Dann mach bitte schnell", murmelte ich ungeduldig und schloss automatisch meine Augen. Auch nach so zahlreichen Blutabnahmen in meinem Leben, hasste ich es nach wie vor zu sehen, wie mein Blut langsam in das kleine Gefäß floss.
An solche Dinge gewöhnte man sich wohl nie.
•••
Ich hastete den Flur entlang, nicht ohne, dass bei dem Kafeeautomaten, verdrängte Erinnerung an Mr.Halter in mir hochkamen.
Außer einer Mutter, die versuchte ein nörgelndes Kleinkind zu beruhigen, war es in der Eingangshalle gähnend leer. Glücklicher weise saß Elly an der Rezeption. Eine liebevolle alte Dame, die es eigentlich allen Recht machen wollte. Die Einzige, die gefühlt jeden in der Klinik bei Namen und Diagnose kannte.
,,Hallo", begrüßte sie mich völlig überrascht, als ich mich lächelnd an den Tresen lehnte. ,,Hi, war Davis Halter schon hier?" Sie schien kurz zu überlegen.
,,Du meinst den großen braunhaarigen, der mit dieser blonden Frau angekommen ist?" Ich nickte hastig, vermutlich meinte sie mit der blonden Frau seine Mutter.
,,Ja, den meine ich." Sie zog eine Grimasse, als müsste sie mir eine schreckliche Nachricht verkünden. ,,Tut mir leid, Liebes, aber Dr.Martinez hat ihn gleich hinter sich her gezogen. Ein Armer Bursche, wenn du mich fragst, total außer Atem, wollte sich nur kurz hinsetzen und auf ein Mädchen warten." Ich musste schmunzeln, auch, wenn ich eigentlich genervt war, dass ich ihn verpasst hatte. Dennoch war es sehr amüsant, wie wenig Elly kombinieren könnte. Oder sie versuchte es einfach nicht.
,,Wissen, wo er ihn hingebracht hat?", hakte ich weiter nach, denn ich wusste, dass sie gerne viel erzählte, wenn man sie fragte. Wieder überlegte sie kurz und die Art, wie sie das tat war mindestens genau so lustig anzusehen, wie die Tatsache, das sieht Zusammenhänge nicht erkennen konnte.
,,Also ich glaube, Davis hat einen MRT Termin, der vermutlich zeitlich stark getaktet ist. Wenn du ihn suchst, dann schau am besten gleich dort nach, es ist keine fünf Minuten her. Allerhöchstens sechs." Sie schenkte mir eins ihrer strahlendsten Lächeln. Ich bedankte mich und lief nach draußen über den Park bis hin zum Nebengebäude. Ich erinnerte mich noch dunkel daran, wie ich mich in meinen ersten Wochen hier ständig verlaufen hatte. Alles sah gleich aus. Die Menschen, die Wände, die Möbel. Heute, nach sieben Jahren kannte ich das Gebäude und jeden ihrer Winkel. Ich hätte blind die versteckteste Ecke finden können, da ich wirklich jedes Versteck dieses Grundstücks kannte. Die Nische unter der Kellertreppe, die fast zugewachsene Tür hinten bei den Rosenbeeten, die zu dem alten, mittlerweile leerstehenden Gärtnerschuppen führte, selbst das Versteck für die Süßigkeiten der Schwestern meines Flügels kannte ich. Es wäre schön, das über mein wirkliches zu Hause sagen zu können. Ich wusste nicht, wo Mum die Teller und Gläser aufbewahrte, in welcher Schublade das Besteck lag und wo Mum ihren Schmuck aufbewahrte. Das Haus war mir fremd. Auch, wenn es mein zu Hause war.
In dem Wartebereich vor dem MRT Zimmer saßen zu meiner Enttäuschung nur drei Personen. Ein Mann, mit einem jungen Mädchen neben ihm, die höchstens zwölf war. Sie blätterte in einer der Zeitschriften, die überall in den Wartezimmern der Klinik auslagen. Sie sah kurz auf und lächelte mir zu, als ich eintrat und mich auf einem Platz, nah am Eingang setzte, um Davis zu sehen, wenn er den Raum verließ. Sie wirkte nervös und hatte den Termin offensichtlich noch vor sich. Erst nach kurzem betrachtete ich eine Frau, nur zwei Plätze von mir entfernt, die mir im ersten Moment fremd vorkam. Dann erkannte ich das blonde, frisch gestylte Haar. Ich versicherte mich, dass sie in ihrem Handy vertieft war, bis ich sie genauer ansah. Sie trug einen langen, eng anliegenden Rock, in den eine weiße Bluse mit einzelnen Spitzenapplikationen gesteckt war. Dazu trug sie hohe cremefarbene Schuhe, bei denen ich mich fragte, ob ich überhaupt darin stehen könnte. Neben ihren langen Beinen stand eine beige Tasche, die mit einem edel aussehenden Logo verziert war. Erst, als ich ihre blauen Augen erkannte, war ich mir sicher, dass sie Mrs.Halter war. Ich hatte sie damals in der Eingangshalle nur beiläufig wahrgenommen. Das war auch das einzige mal, dass ich sie gesehen hatte. Doch ich erkannte, dasselbe schimmernde Blau in ihren Augen, wie das ihres Sohnes. Eine Farbe, die von dem grellen weißen Licht so beton wurde, dass ich fast schon dazu aufgefordert wurde, diese Ähnlichkeit zu erkennen. Kurz verspürte ich den Drang sie anzusprechen, doch ich schwieg. Zudem hätte ich nicht gewusst, was ich sie hätte fragen soll.
,,Na, wie geht es ihrem Sohn? Hält er es zu Hause aus?"
Ich schüttelte innerlich den Kopf und versuchte mich mit dem Mädchen abzulenken, dessen Blicke ich dauerhaft aus den Augenwinkeln bemerkte. Ich sah zu ihr, einen Moment trafen sich unsere Augen. Ich sah, wie ängstlich sie war, als ob sie mich fragte, ob sie das gleiche vor sich hatte, wie ich.
Nie hatte ich mich für das Schicksal anderer interessiert, auch wenn ich vielleicht die Person gewesen wäre, die sie am meisten hätte verstehen müssen. Aber durch Cath hatte ich gelernt, mich nicht von dem leben anderer ablenken zu lassen. Sie sagte, das würde mich schwach machen. Ich wollte diese Aussage nicht abstreiten, doch seit ich Davis kannte, spürte ich dieses Ziehen in mir. Jedes Mal, wenn ich an das Schicksal der Patienten hier dachte.
Vielleicht war es Sorge oder Mitleid.
Ich wartete eine Weile, versuchte weder das Mädchen, noch Mrs.Halter anzusehen, was schwer war, da beide in meinem direkten Blickfeld saßen. Mit nachdenklichem Blick musterte ich die Zeitschriften, die ich alle schon mindestens zwei mal gelesen hatte und fragte mich, wann sie diese endlich wieder austauschen würde. Mich interessierte relativ wenig, worüber die Reporter in diesen viel zu gestellten Interviews berichteten oder was die neusten Mode und Beauty Tips der Saison waren, aber es war amüsant zu sehen, wie verkorkst und kompliziert das Leben da draußen war. Die Probleme dieser Leute würde ich gerne haben, wenn sie dafür dieses elende Krankenhaus besuchen würden.
,,Lizzy Johnson", erklang die Stimme einer jungen Frau, die hinter der Glasscheibe auf das Mädchen zu warten schien. Sie warf einen Blick zu mir, dann einen deutlich nervöseren zu ihrem Vater, der ihr aufmunternd zunickte. Kurz darauf stand sie auf und folgte der jungen Arzthelferin. Mein Blick starrte auf den Flur, wartete jeden Moment darauf, Davis zu entdecken. Ich wusste, dass er nun vermutlich im Gespräch mit dem Arzt war, doch meine Nervosität stieg mit jeder Sekunde. Die Nachricht könnte über seine Zukunft entscheiden.
•••
Nach weiteren zwanzig Minuten kam das Mädchen zurück ins Wartezimmer. Sie setzte sich nicht, sondern sagte nur leise:,,Du sollt mitkommen, Dad, zur Besprechung." Kurz fragte ich mich, ob ich Davis verpasst hatte, oder ob es sich bei der Frau im Wartezimmer tatsächlich um seine Mutter handelte, da entdeckte ich sein volles Haar plötzlich hinter der Scheibe.
Ich sah ihn nur von hinten, doch erkannte, dass Dr.Martinez ihm gegenüberstand und ihm lächelnd die Hand schüttelte. Ein Klos der Nervosität und Anspannung tauchte in meinem Hals auf. So freundlich hatte ich ihn noch nie gesehen. Ich sah, wie sie noch kurz einige Worte austauschten, dann wandte sich Davis ab und betrat das Wartezimmer. Der erste Blick galt seiner Mutter, die noch immer in ihr Handy vertieft war und ihren Sohn gar nicht zu bemerken schien. Dann entdeckte er mich. Seine Augen begannen zu leuchten. Ich sprang auf, brachte vor Anspannung kein Wort heraus. Gierig auf eine Antwort starrten meine Augen ihn an. Dann nickte er, als hätte er mich auch ohne Worte verstanden. Ein Stein viel mir vom Herzen. Tränen stiegen in meine Augen und mein Puls schoss in die Höhe. Völlig erleichtert viel ich ihm um den Hals. ,,Er ist weg", flüsterte er in mein Ohr, zog mich fest an sich. ,,Ja", sagte ich mit gebrochener Stimme und wurde von allen Emotionen überschüttet, die sich in den letzten Tagen in mir angesammelt hatten. Freudentränen liefen mir über die Wangen.
Es war ein unglaubliches Gefühl, ihn wieder in meinen Armen zu halten. Die Worte rauschten durch meinen Kopf. Der Tumor war weg. Gutartige kamen selten zurück. Davis war gesund. Ich legte meine Kopf an seinen Hals, könne die Tränen nicht unterdrücken, so erleichtert war ich in diesem Moment. Langsam löste er sich wieder, sah mich lächelnd und mit glühenden Wangen an.
Dann sah er nach rechts. Seine Mutter schien ihn mittlerweile bemerkt zu haben. Sie war aufgestanden und hielt ihre Handasche mit ihren zierlichen Fingern fest umklammert.
Ich blickte sie ebenfalls an. Überraschung lag in ihrem Gesicht. Und tatsächlich entdeckte ich ein winziges, gut verstecktes Lächeln. ,,Das freut mich Davis", sagte sie und ihre Stimme klang ruhig. Sie strich ihren Rock glatt und kam auf uns zu. Musternd sah sie mich an und blickte dann zurück zu ihrem Sohn. ,,Wirklich", fügte sie hinzu, ihr Lächeln wurde breiter. Jetzt war die Ähnlichkeit unübersehbar. Optisch schien Davis vielleicht mehr nach seinem Vater zu kommen, der Kräftige Körper und die dunklen Haar, doch dieses Lächeln hatte er eindeutig von seiner Mutter. Auch wenn ich bemerkte, dass sie es viel zu selten zu zeigen schien.
,,Das ist Loucy", stellte er mich vor. Sie streckte mir die Hand entgegen und ich schüttelte sie dankbar. Sie war anders als sein Vater, eindeutig. Ich verstand nicht, warum sie Davis nie besucht hatte, egal wie viel Einfluss ihr Mann auf sie hatte. ,,Freut mich. Kate Halter", entgegnete sie leise, zog die Hand zurück und umklammerte ihre Handtasche wieder mit beiden Händen. Kurz herrschte Schwiegen, sie sah Davis intensiv an, dann schwankte ihr Blick zu mir.
,,Dr.Martinez trifft uns in einer halben Stunde in seinem Büro im Haupthaus", meinte Davis schließlich, um die Stille zu unterbrechen. Mrs.Halters Blick schoss in Sekunden schnelle zurück, als fühlte sie sich dabei ertappt, mich angesehen zu haben. ,,In Ordnung", sagte sie krampfhaft monoton. ,,Ich gehe schon mal vor, muss noch telefonieren." Sie nickte mir zu, das Lächeln war von einer auf die andere Sekunde verschwunden. Kurz sahen wir ihr hinterher. Meine Freude war ebenso versteinert, wie die von Davis. Erst als seine Mutter den Raum verlassen hatte, entfachte sie wieder. Ich strahlte ihn an.
,,Du bist gesund", sprach ich meine Gedanken endlich aus. Er nickte. ,,Ja", flüsterte er nahezu lautlos. ,,Lass uns gehen, ich brauche jetzt frische Luft." Er wandte sich zum Ausgang. Ich folgte ihm. Mit jedem meiner Schritte wuchs die Erleichterung. Ich wusste, dass Davis nun weitermachte mit seinem Leben. Ich kannte das Risiko, dass ich kein Teil mehr davon sein könnte. Denn ich saß hier weiterhin fest, daran würde sich nichts ändern. Aber die Freude, ihn gesund zu sehen war wichtiger und viel entschiedener, als der Egoismus. Nach der Begegnung mit seinem Vater dachte ich tatsächlich, ich könnte egoistisch sein. Ich wusste, dass ich Davis brauchte und ich hatte Angst ihn zu verlieren, wenn er nach Hause zurückkehrte. Aber jetzt, wo ich ihn so sah - glücklich - da wusste ich, dass ich das akzeptieren musste und sogar konnte. Ich spürte viel zu überraschend, wie seine Hand meine Umschloss, als wir ins Freie traten. Die Luft war frisch, die Sonne blitzte hinter dichten Wolken hervor. Ich sah auf, sein Blick ruhte auf der Umgebung. Er betrachtete alles, als würde er es zum ersten Mal sehen. Die hohen Bäume, den Teich in der Ferne. Der Weg auf dem wir standen und so oft unsere Runden gedreht hatten. Eine weitere davon schien er gerade anzupeilen.
,,Ich will, dass du weitermachst", sagte ich nach einer ganzen Weile. Seine Schritte verlangsamten sich und er sah verwundert zu mir. ,,Ich hoffe, dass du das alles bald hinter dir lassen kannst und dein Leben weiterlebst." Ich hatte eine Weile überlegt. Die richtigen Worte gab es nicht, die gab es nie. Doch diese scheinen mir angemessen zu sein.
,,Was?", er schien überrascht zu sein, seine Augenbrauen zogen sich zusammen, seine Haare wehten im schwachen Wind. ,,Ich will, dass du weißt, dass du zu nichts verpflichtet bist. Von jetzt an bist du kein Patient mehr, du wirst zur Schule gehen, deinen Abschluss machen. Diese Krankheit immer weiter hinter dir lassen. Und ich war ein Teil davon." Ruckartig bleib er stehen, sein griff um meine Hand wurde fester. ,,Du meinst?", begann er verwirrt, ich nickte auffordernd. ,,Dass du mich vergessen wirst."
Fassungslos starrte er mich an. Fast schon wütend sah er aus. ,,Wie kannst du das nur von mir denken?", fragte er entsetzt. Seine Stimme war dumpf. ,,Wie kannst du ernsthaft denken, dass ich so ein Arschloch bin und dich nur ausnutze? Als einen Begleiter, um mir die Scheiß Zeit nen bisschen angenehmer zu gestalten. Als wenn ich dich gleich vergesse, nur weil ich meine Krankheit hinter mir lasse." Er schüttelte den Kopf. ,,Wie wenig musst du mich kennen, um so etwas zu denken?" Ich merkte, wie verletzt er war. Ich biss mir auf die Unterlippe und schwieg. Noch immer hielt er meine Hand umklammert und ich spürte seinen intensiven Blick auf mir, als wartete er auf eine Antwort.
,,Ich..Ich habe mit deinem Vater gesprochen.", sagte ich leise, fast schon schüchtern. ,,Wo?", rief er, ließ meine Hand nun endgültig los. ,,Als er auf dich gewartet hat, um dich abzuholen. Ich habe versucht ihn zu überreden, ihm die Situation klar zu machen und...", ich verschluckte meine Worte. ,,Was hat er getan?", die Wut in seinem Tonfall schien auf seinen Vater überzugehen. Ich schüttelte beruhigend den Kopf.
,,Nichts. Wir haben uns nur unterhalten. Aber mir ist dabei klar geworden, dass ich nicht egoistisch sein darf. Dass der Gedanke, dass ich mir ein winziges bisschen wünsche, du wärst nicht gesund und würdest hier bleiben, gar nicht erst existiert. Das darf er nicht. Und ich weiß, dass ich mich freuen muss und Davis, ich verspreche dir, das tue ich."
Er atmete aus ,,Lou", hauchte er. Endlich klang seine Stimme weicher. ,,Das ist nicht egoistisch", sagte er leise und zog die Stirn in Falten. „Das ist sogar verdammt süß von dir." Er legte seine Hand an meine Wange. Verlegen wandte ich meine Kopf ab, konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen.
,,Aber wie kannst du nur denken, dass ich dich vergessen würde? Dr.Martinez hat gesagt, dass an den Wochenenden zur Routineuntersuchung hierher kommen werde. Ganz nebenbei werde ich wohl die nächste Zeit alle vier Wochen zum MRT gehen und dich...", er räusperte sich. ,,Wohl oder übel weiter belästigen müssen." Ich lachte leise, doch noch immer lag dieses bedrückende Gefühl in meinem Magen.
,,So wird das nicht bleiben, Davis.", murmelte ich. ,,Was glaubst du, wie oft Cara und Mason früher zu mir gekommen sind. Täglich. Und jetzt immer weniger. Irgendwann werden sie aufs College gehen. Ich kenne sie mein leben lang und trotzdem weiß ich, dass sie irgendwann fort sein werden. Und ich muss zugeben, dass macht mir verdammt Angst."
Davis Hände umschlossen meine erneut, langsam zog er mich an sich. ,,Ich kann zwar nicht für deine Freunde sprechen, auch, wenn ich sicher bin, dass sie es genau so sehen, wie ich." Er zog mich in seine Arme. Die Umarmung war länger und intensiver, als die vor einigen Minuten. ,,Aber ich verspreche dir, dass ich bleibe, egal was passiert."
Dankbarkeit ist womöglich das wichtigste, was man besitzen sollte. Dankbar zu sein, selbst in den dunkelsten Momenten. Manchmal dachte ich, ich würde vor mir eine lange Treppe haben und jeden Tag eine Stufe nach unten gehen. Jeden Tag ein neues Problem, eine neue Beschwerde. Ich wusste, dass es Wege gibt, eine Stufe nach oben zu gehen. Es gab Personen, die mir die Hand reichten, mir das positive zeigten. Aber eine lange Zeit habe ich alles abgewehrt, bin immer weiter nach unten gegangen. Jetzt stehe ich hier. Ganz unten.
Doch plötzlich habe habe das Gefühl, nach oben geklettert zu sein. Eine einzige Stufe, die sich so groß anfühlt. So mächtig und gut. Dann schaue ich nach oben und sehe die tausend anderen Stufen, die ich nehmen muss, um zurück nach oben zu gelangen. Kurz habe ich Angst, das Gefühl festzustecken, sehe meine ganzen Probleme, die mich nach unten geschoben haben. Dann sehe ich zurück nach unten. Entdecke die eine Stufe, die ich nach oben gestiegen bin. Ich verstehe, dass es nicht wichtig ist, eines Tages oben anzukommen, denn ich weiß, dass das unmöglich ist. Aber ich erkenne, das es genügt, fast schon viel besser ist, hier unten zu stehen und diese kleine Stufe zu sehen. Den Erfolg, das Positive. Die Kraft, die mich nach oben gezogen hat. Egal wie weit, egal, dass es so viel anderes gibt, was mich für immer hier unten halten wird. Denn ich bin glücklich, ganz egal auf welcher Stufe ich stehe, so lange ich nach oben steige.
Das ist Dankbarkeit für mich. Nicht die Dinge zu sehen, die schlecht laufen. Die Probleme und die Sorgen, die ich vielleicht letzte Woche hatte oder das ganze Jahr über. Sondern die Dinge zu sehen, die mich glücklich machen. Denn die gibt es, das weiß ich jetzt. Egal, wie weit unten man auf seiner Treppe steht, es gibt immer jemanden, der dir die Hand reicht, dir eine Chance bietet aufzusehen. Und ich verspreche, es ist der beste Weg diese Hand anzunehmen. Denn sie zeigt dir, wie dankbar du für jeden noch so kleinen Moment sein solltest. So oder so hat mir die Krankheit gezeigt, was Dankbarkeit heißt, viel zu früh musste ich das lernen. Aber besser als zu spät.
Warum sich über Steuern beschweren, darüber dass der Fernseher wieder spinnt oder die Eltern nerven?
Wenn es doch so viel gibt, für das man jeden Moment dankbar sein könnte. Die Möglichkeit unglaublich liebevolle Menschen um sich herum zu haben. Leute, die sich um einen Sorgen, dich in die Arme nehmen, ganz egal, wie weit unten du stehst.
Mein Leben lang habe ich damit gekämpft, endgültig zu akzeptieren, dass ich krank bin. Dass der Krebs immer ein Teil von mir sein wird. Die Wut und der Hass auf die Schmerzen und das Leiden.
Aber vielleicht ist das auch nur ein Schritt des Lebens gewesen. Oder des Schicksals, ganz egal wie man das nennen soll. Vielleicht hätte ich genau das niemals festgestellt, wäre blind durch mein Leben gelaufen, ohne diese Dankbarkeit kennen zu lernen. Und natürlich wäre es falsch zu sagen, ich würde mir diese Krankheit nicht fort wünschen. Doch ich denke, dass alles im Leben geplant ist. Vielleicht wäre es schlimmer gekommen, hätte ich diese Krankheit nicht bekommen. Wäre viel schneller ganz unten an der Treppe gewesen, hätte keine Hand gehabt, die mich nach oben gezogen hätte. Das kann ich nicht sagen, dass kann keiner. Doch ich finde, es ist ein gutes Gefühl, zu wissen, dass die Krankheit nicht sinnlos ist, egal, wie beschissen sie ist. Sie hat mir die Augen geöffnet. Und dafür bin ich dankbar, auch, wenn ich unten stehe.
Was denkt ihr über das Thema Dankbarkeit? Gerade in solch einer Situation.
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