einundzwanzig
- Happy Birthday -
Die Sonne, die es jedes mal wieder schaffte durch die dichten Vorhänge zu scheinen, kitzelte meine Augen. so lange bis es mir nicht mehr gelang sie geschlossen zu halten. Müde und orientierungslos drückte ich meine Handflächen auf sie. Ein lautloses gähnen entwich mir. Erst nach mehreren Minuten erlangte ich vollkommenes Bewusstsein und setzte mich langsam in meinem Bett auf. Sie Sonne und der dadurch hell erleuchtete Raum verrieten mir, dass ich mal wieder viel zu lange geschlafen hatte. Das Frühstücksbuffet war mit Sicherheit bereits abgeräumt. Das passierte in den vergangenen Tagen und Wochen nicht selten. Vermutlich, weil ich oft bis spät in die Nacht, die Stunden in Davis Zimmer verbrachte. Wir hatten es uns angewöhnt, nahezu jeden Abend rauszugehen. Einen Spaziergang zu machen und einen klaren Kopf zu bekommen. Wie ein altes Ehepaar oder noch besser die Hauptcharaktere in dem Actionfilm, für den mich Davis stundenlang überreden musste, ihn mit ihm zu schauen. Sie mussten sich tagtäglich in ihr Bewusstsein rufen, wer sie waren, da sie in dem Haus, in dem man sie seit Jahren gefangen hielt, langsam den Verstand verloren. Gut, vielleicht war dieser Vergleich etwas zu dramatisch. Aber er war nicht einfach so daher geholt.
Mein Blick schwang auf die gegenüberliegende Wand und ein nahezu unscheinbares Lächeln legte sich auf meine Lippen. Noch immer war der Anblick ungewohnt. Eine lange Lichterkette, die aus hunderten winzigen Lichtern bestand, streckte sich über die gesamte, sonst immer leere, Wand. Daran hatte ich alle Bilder aufgehängt, die wir in den vergangenen Wochen gemacht hatten. Kaum zu glauben, wie wunderschön und bedeutsam jedes Einzelne von ihnen war. Langsam stand ich auf, um sie, wie so oft am Morgen, zu betrachten. Die Meisten waren auf der Lichtung entstanden. Eines zeigte das wunderschöne glitzernd-blaue Wasser, welches auf dem winzigen Foto nicht ansatzweise so schön aussah, wie in Wirklichkeit. Ich musste schmunzeln, wie ich bei dem Versuch das perfekte Bild zu machen, beinahe, mitsamt der Kamera ins Wasser gefallen wäre und sich Davis kaum noch einbekam vor Lachen. Das Bild daneben zeigte genau die Situation in meinem Kopf. Davis, der mit nassen Haaren, da ich ihn, nachdem er mich so schadenfroh ausgelacht hatte, einfach in den Fluss geschubst hatte, in die Kamera strahlte. Sein Lächeln war breit und ehrlich. Seine Augen glitzerten noch mehr als das Wasser. Mein Blick wanderte weiter an der Lichterkette entlang.
Bis zu meinem absoluten Lieblingsbild. Ich hatte noch nie so viel Realität und Hoffnung in einem Bild gesehen. Es zeigte den Versuch, ein Bild von uns beiden zu machen, nachdem ich aus Mitleid ebenfalls in den See gesprungen war. Natürlich ohne die Kamera. Auch mir vielen die nassen Haare über die Schultern. Es war unscharf und das einzige, was zu sehen war, war unser beider Lächeln. Vielleicht war das gut so. Denn ich hatte Angst, weiter hinein zu sehen. Hätte ich mein klares und gesamtes Gesicht auf diesem Bild sehen müssen, so wäre ich vermutlich mehr als erschrocken. Ich konnte es einfach nicht. Aber so liebte ich dieses Foto. Es zeigte uns und unsere Freude. Zwei Wörter die ich jahrelang nie in Verbindung zueinander gesetzt hatte.
Im nächsten Augenblick, kam mir eine ganz andere Tatsache in den Sinne, die mich kurz erschrecken lies.
Heute war der 5. Juli. Es war Davis 19. Geburtstag.
Eine leichte Panik kam in mir auf. Nicht, dass ich seinen Geburtstag vergessen hatte. Ich hatte nur bis jetzt kein Geschenk für ihn. Schnell löste ich das Foto von der Lichterkette und legte es auf mein Bett. Das war das Mindeste, was ich ihm zurückgeben konnte. Ich nahm mein Handy vom Beistelltisch und begann eine Nachricht an Cara zu tippen. Etwas, dass ich schon seit Tagen vor hatte, aber nie dazu gekommen war. Weiter konnte ich es nun aber wirklich nicht aufschieben.
Hey Cara,
Kannst du heute Nachmittag vorbei kommen? Ich brauche dringend deine Hilfe!!
Loucy
Es war lange her, dass ich ihr geschrieben hatte. Genau so lange, wie es her war, dass ich sie das letzte mal gesehen hatte. Zuletzt mit Mason. Doch heute musste ich sie allein treffen. Wie ich Cara kannte, dauerte es nicht lang, bis ich ihre Zusage bekam. Auch wenn ich wusste, dass sie sichtlich überrascht sein musste.
Ich gab mir keine Mühe, mich umzuziehen, weshalb ich nur in meinen Morgenmantel schlüpfte. Und siehe da. Das zweite Geschenk für Davis, obwohl er sich mittlerweile an dieses grässliche Kleidungsstück gewohnt hatte. Ebenso wie ich. Schnell verschwand ich im Bad, wusch mein Gesicht und band mir die Haare zu einem lockeren Knoten. Wie die letzten Tage wusste ich, dass Davis sein Zimmer nicht verlassen hatte. Er wartete meist so lange, bis ich herein kam.
Er war ein Langschläfer und eigentlich ein ziemlicher Morgenmuffel, wie er mir erzählte. Wahrscheinlich hatten wir unsere Gewohnheiten aufeinander abgestimmt. Denn ich stand seit Tagen nicht mehr so früh auf, dass ich es zum Frühstück in die Cafeteria schaffen würde.
Kurz darauf lief ich über den Flur. Auch, wenn zu dieser Urzeit die Meisten schon auf den Beinen waren, begegnete ich nur wenigen Menschen. Die meisten waren vermutlich dabei zu Frühstücken. Bei dem Gedanken daran kam mir die Idee, einen spontanen Abstecher dorthin zu machen. Nur um zu sehen, ob vielleicht doch etwas übrig geblieben sein könnte.
•••
Um kurz nach zehn stand ich mit vollen Händen und einem verhältnismäßig gut gefülltem Tablett vor Davis Tür und versuchte mühsam mit einer halbfreien Hand, die Klinke herunterzudrücken. Als ich eintraf, suchten meine Blicke automatisch nach ihm. Für gewöhnlich lag er auf seinem Bett mit dem Laptop in der Hand. Das zeigte mir, dass er mal wieder für seinen Vater arbeitete. Dieser Anblick war schrecklich. Ich hasste es, ihn jeden Tag so zu sehen. Besonders heute. Etwas zog sich in meiner Magengegend zusammen.
Mit einem versuchten Lächeln umrundete ich das Bett, um mich an dessen Fußende zu setzen. Erst dann blickte Davis auf.
,,Happy Birthday", flüsterte ich und stellte das Tablett an das Fußende. Ich lehnte mich nach vorn, um ihn zu umarmen. Ein Vorwand um beiläufig seinen Laptop zuzuklappen.
,,Vergiss die Arbeit - nur ein Mal. Nur heute", sagte ich leise und es viel mir ungewohnt schwer, mich aus der Umarmung zu lösen. Davis stieß ein zum Teil erleichtertes, als auch nachdenkliches Seufzen aus.
,,Danke", entgegnete er, setzte sich auf und stellte den Laptop auf seinen Nachttisch. Der nächste Blick galt dem Tablett auf meinem Schoß.
,,Wow, dass nenn ich eine Ausbeute", lachte er und ich bemerkte, wie die gesamten negativen und angespannten Gedanken langsam von mir abfielen. Ich rollte gespielt genervt mit den Augen und reichte ihm das Tablett.
Tatsächlich befand sich in etwa die Portion darauf, die Davis allein am Morgen frühstücken würde. Nachdem er sich zwei mal nachgeholt hatte.
Zwei Toasts, etwas Rührei, zwei Scheiben Käse und einen Kaffe für ihn. Blöd nur, dass wir heute das Frühstück auf unser Zimmer abbestellt hatten. Eigentlich hatte ich vorgehabt, mit ihm in die Cafeteria zu gehen - wie zu Beginn. Aber vielleicht war es gut so. Hier hatten wir Ruhe.
,,Beschwer dich nicht, sonst hab ich das Ganze gleich allein aufgegessen. Ich hab einen riesigen Hunger", grinste ich und biss in das Toast. Davis zögerte nicht und trank zu erst ein paar große Schlücke Kaffee, was mir zeigte, dass auch dieser nicht mehr heiß sein konnte.
,,Apropos Hunger", murmelte er mit vollem Mund gefüllt mit seinem Toast. ,,Was dagegen, wenn ich dich heute zum Essen einladen? Burger und Pommes. Natürlich mit Mayo", fragte er. Ich erkannte ein verstecktes Schmunzeln in seinem Gesicht. Überrascht sah ich auf. Zu erst wollte ich mich beschweren. Schließlich ging es nicht, dass er mich an seinem Geburtstag einlud. Doch ich kam nicht dazu es auszusprechen, da mir in dem Moment etwas ganz anderes in den Sinn kam.
,,Du erinnerst dich noch?", fragte ich plötzlich mehr als überrascht und versuchte an die Situation zurückzudenken. Davis war nach seiner Operation noch nicht aufgewacht gewesen. Ich hatte mich an sein Bett gesetzt und mir diesen einen normalen Abend gewünscht. Wie konnte er von diesem Wunsch wissen, er hatte geschlafen?
,,Ich kann es nicht erklären. Aber ich kann mich an Stimmen erinnern. Immer wieder kamen und gingen sie. Es war wie ein Traum. Aber als ich aufgewacht bin, hab ich gemerkt, dass es deine Stimme war."
Ich nickte. Beinahe traten mir Tränen in die Augen, so sehr freute ich mich. Durch die Ausflüge und Spaziergänge zu der Lichtung, hatte ich diesen tiefen Wunsch in mir fast vergessen. Ich war einfach froh, dass es Davis gut ging, alles andere war wir egal. Doch plötzlich freute ich mich, wie ein kleines Kind.
,,Davis...Ich...ich weiß gar nicht", begann ich stotternd und spürte meine vor Freude rot glühenden Wangen. Er zuckte nur mit den Schultern.
,,Wenn ich dir mit so kleinen Dingen eine Freude machen kann, dann hab ich kein Problem damit." Ich entgegnete ein erleichtertes Lachen.
,,Wohin gehen wir denn?", fragte ich und sah dabei zu, wie er den letzten Schluck Kaffee trank. Ihn schien es anscheinend nicht zu stören, dass er bereits kalt war.
,,Ins Starlight Restaurant in San Francisco. Ein sehr edler Laden. Aber glaub mir die Burger dort sind der Hammer." Meine Augen weiteten sich. Entsetzt ließ ich das Brötchen zurück aufs Tablett fallen.
,,San Francisco?", fragte ich entsetzt. Die Stadt lag nur etwa eine Stunde von uns entfernt. Dennoch war ich nie dort gewesen. ,,Viel zu voll", hatte Mum immer gesagt. Vermutlich hatte sie nur einfach Angst mit mir allein in solch eine große Stadt zu fahren.
,,Noch nie dort gewesen?" Er grinste und ich schüttelte nur den Kopf. ,,Dann hast du echt was verpasst." Ich seufzte, noch völlig verwirrt. Cara hatte mir von dem Laden erzählt. Sie war dort mit ihren Eltern an deren Hochzeitstag essen. Das schickste Restaurant, indem sie jemals gegessen hatte, sagte sie. Ich seufzte. Von wegen Burger essen. Ich hatte damit gerechnet, in ein keines Lokal hier in Roseville zu gehen. Wenn das Essen dort tatsächlich so teuer war, wie sie erzählt hatte, ging mein schlechtes Gewissen gleich mehrere Level in die Höhe.
,,Davis!", rief ich entsetzt. ,,Das kannst du nicht machen. Weißt du wie teuer-" Er ließ mich nicht ausreden.
,,Es ist mein Geburtstag", betonte er. ,,Und ich wünsche mir, dich in genau dieses Restaurant einzuladen. Und den besten Burger der Welt zu essen." Noch immer glaubte ich nicht, dass er das mit den Burgern ernst meinte. In solch einem Lokal gab es bestimmt kein Fast Food. „Also was ist, nimmst du die Einladung an?", hakte er nach und das Blau in seinen Augen blitzte hervor.
,,Ja", begann ich ohne zu zögern, doch war noch immer viel zu überwältigt. ,,Aber ich habe überhaupt nichts, was ich zu so einem Anlass anziehen könnte." Er lachte, da ihn diese Aussage vermutlich mehr als überraschte.
,,Mm, gut, vielleicht hast du recht. Ob die dich in diesem wunderschönen Morgenmantel reinlassen, wage ich zu bezweifeln. Die passende Garderobe ist es dann doch nicht." Er strich vorsichtig über den dünnen Stoff des Jäckchens. Einen Moment herrschte Stillte. Nicht dass ich wütend auf diese Aussage war, viel mehr verwundert. Doch dann begann er noch ausgelassener zu lachen, als zuvor.
,,Lou, meinetwegen kannst du auch im Nachthemd kommen. Es wird niemanden stören. Und das beste an all dem, der Krebsbonus zählt immer."
Ich legte meinen Kopf schief. ,,Als wenn man uns das Leiden so sehr ansieht. Du wolltest mich in so ein teures Lokal ausführen. Dann bist du derjenige, der die Konsequenzen auf sich nehmen muss und das teure Essen bezahlen wird", grinste ich und sah ihn auffordernd an.
Er lachte noch immer. ,,Nicht der Preis, die Wartezeiten sind der Horror. Kommen wir nicht mit einer Limousine angefahren, dann sind wir gleich nur zweitrangige Loge. Wollen wir einen Rollstuhl mit schmuggeln? Wenn wir sagen, du hast nur noch wenige Tage zu leben, dann beeilen die sich vielleicht." Er grinste mich an, als wäre ihm eine oskarreife Idee eingefallen.
,,Du spinnst, Davis." Ich schüttelte nur den Kopf. Seit wann hatte er am Morgen so eine gute Laune?
,,Oh", meinte er, als wäre ihm noch etwas eingefallen. Nachdenklich sah ich ihn an. Auf seinen Lippen lag ein unauffälliges Lächeln. Ein Lächeln, dass mir zeigte, wie glücklich er war. Und das machte mich glücklich.
,,Vorher müssen wir unbedingt ins Kino gehen."
Ich musste nichts sagen. Auch so wusste er, dass ich überwältigt war.
Es ist schön, sich über kleine Dinge freuen zu können. Auch wenn ein Kinobesuch und ein gemeinsames Abendessen für die Meisten vermutlich nicht gerade das ungewöhnlichste ist. Für mich ist es, nach Caths Beerdigung, das erste mal Freiheit. Das erste mal verlasse ich den Ort. Lange nicht habe ich mich auf etwas so sehr gefreut, wie heute. Ich weiß nicht, ob ich Angst haben sollte. Was ist, wenn mich dieses Leben enttäuscht. Seit meiner Diagnose habe ich mir nichts sehnlicheres gewünscht, als dieses Leben zu führen, was alle führen. Einen zu haben Alltag haben, Probleme, Freunde, geliebt zu werden.
Alles, was ich mir jeden einzelnen Tag wünsche.
Ich wurde schon ein mal von der traurigen und eiskalten Realität enttäuscht. Ich dachte, ich könnte Anschluss finden, wenn ich zurück zur Schule gehen würde. Aber ich lag falsch.
Vielleicht ist das meine letzte Chance. Das Leben darum zu bitten, mir diesen einen Abend zu ermöglichen. Ein einziges Essen. Für diese Stunden will ich das tun, was ich mir all die endlosen Jahre gewünscht habe. Ich will glücklich sein.
Nur für diesen einen Abend will ich leben.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro