einunddreißig
- Das ist so viel mehr, als ich mir je hätte erträumen können -
Um zehn vor fünf stand ich im Eingangsbereich und meldete mich bei Elly ab. Ich verstand dieses Prinzip wirklich nicht. Es galt höchstens dem seltenen Fall, dass die Stationsärzte bei der abendlichen Visite ein leeres Zimmer auffanden und nicht wussten, wo der Patient geblieben war. Vermutlich hatte man diese Regel aus einem ähnlichen Fall, wie mit Cath eingeführt. Doch jeder wusste, dass Dr.Cartney die Einzige war, die sich wirklich Sorgen machte, wenn Patienten nicht auf ihrem Zimmer waren. Und wenn sie es war, die mich höchstpersönlich mitnahm, sollte es wohl keine Schwierigkeiten geben. Am Wochenende passierte hier so oder so nicht besonders viel. Jegliche Arten von Therapien fanden unter der Woche statt. Die zwei Tage waren lediglich dafür da, um sich vom Nichts tun zu erholen. Die Meisten, denen es mehr oder weniger gut ging, verbrachten diese Tage bei ihren Familien. Blöd nur, wenn die Familie sonst wo war.
Ich schenkte Elly ein goldenes Lächeln, als sie mir einen schönen Nachmittag wünschte und lief zum Parkplatz. Der Himmel hatte die Wolkenecke auseinander gezogen, sodass die Sonne die frische Luft gleich um einiges erwärmte.
Ich erkannte Dr.Cartneys weißes Auto schon auf Meter Entfernung. Am Steuer sah ich ihren braunen Lockenkopf. Auf dem Beifahrersitz die langen blonden Haare von Maddison. Gleich als ich die Autotür öffnete, wurde ich von ihrem Redeschwall erschlagen.
,,Loucy, ich habe gerade mit Dr.Cartney über meine Vorlesung gesprochen. Dir habe ich doch auf von meinem tollen Professor erzählt, oder? Mr.Maxwell." Ich nickte nur, ergänzte jedoch ein ,,Ja", da sie nicht in den Rückspiegel sah. Schnell schloss Ich die Tür und im selben Moment startete Dr.Cartney den Wagen. Ich war erleichtert, dass das Radio angestellt war, denn so verschwammen Maddisons Worte schon nach wenigen Minuten mit den sanften Klängen der Musik. Ich lehnte mich im Sitz zurück, betrachtete jeden Winkel des Autos, welches ich seit so vielen Jahren Tag für Tag auf dem Parkplatz hatte stehen sehen.
•••
Nach weniger als einer halben Stunde hielt Dr.Cartney vor einem hohen, gemauerten Gebäude. Rechts an der Straße stand ein leuchtendes weißes Schild mit der glänzenden Aufschrift ,,California State University". Die Mauern waren riesig und erinnerten mich fast schon an ein kleines Schloss. Es musste schön sein aufs College zu gehen. Manchmal musste ich zu geben, dass ich mir wünschte, diese Chance eines Tages zu bekommen. Aber dafür war es mittlerweile zu spät.
Maddison verabschiedete sich, in dem sie sich tausend mal bei Dr.Cartney bedankte und aus dem Auto stieg. Ich beobachtete wie sie mit schnellen Schritten den Weg zum Eingang entlanglief, während das Auto wendete.
,,Sie ist wirklich nett", meinte Dr.Cartney schmunzelnd. ,,Ja", lachte ich. ,,Das ist sie wirklich." Wir fuhren zurück auf den Highway. Je näher wir Silver Lake kamen, desto größer wurde die Aufregung und das Kribbeln in meinem Bauch. Nicht nur, da ich den Ort meiner Kindheit sehen würde, sondern auch endlich das Viertel zu sehen, was mich nie wirklich interessiert hatte. Die andere Seite des Flusses.
Die Stimme im Navi wies Dr.Cartney darauf hin, die Ausfahrt nach rechts zu nehmen und nach einigen Metern entdeckte ich das Straßenschild mit dem silbernen Aufdruck meiner Stadt. Ich konnte ein Lächeln nicht verbergen.
Silver Lake. Ich war endlich zu Hause.
,,Und, freust du dich?", fragte Dr.Cartney und musste meinen gespannten Gesichtsausdruck durch den Rückspiegel gesehen haben. ,,Und wie", entgegnete ich leise flüsternd, betrachtete die hohen Bäume und die immer leerer werdenden Straßen. Es war so viel schöner hier als in Roseville. So still und friedlich. Erst jetzt bemerkte ich, wie sehr ich diesen Ort wirklich vermisst hatte.
,,Es ist wirklich komisch, dich hierher zu bringen", meinte Dr.Cartney und bog statt nach rechts, nach links an der Kreuzung ab. Davis Viertel war etwa zehn Minuten von meinem entfernt und lag außerhalb des Dorfes, dort wo sich die alten Villen befanden.
,,Ich habe mir oft gewünscht, dass du während den Therapie Pausen nach Hause gehst und ein bisschen Abstand gewinnst."
Ich nickte, auch, wenn sie es nicht sehen konnte. ,,Ich weiß nicht, aber ich hatte bislang nie das Verlangen danach." Vielleicht weil mich mein zu Hause an mein altes Leben erinnerte. An Paul. Vielleicht brauchte ich diesen Abstand. Aber dennoch war es schön hier zu sein. ,,Meinst du, du würdest nach Hause gehen, wenn wir in ein paar Monaten komplett positive Blutwerte diagnostizieren würden. Ich weiß, du willst nicht viel davon wissen, aber die Chemotherapie scheint gut funktioniert zu haben." Ich holte tief Luft und wusste nicht so recht, was ich antworten sollte. Eigentlich nicht ein mal, was ich darüber denken sollte.
,,Ich denke schon", meinte ich schließlich. Ich musste ihr nicht erzählen, dass ich wenig daran glaubte. Denn diese Aussage wurde mir schon so oft vorgehalten. Immer, wenn die Blutwerte gut aussahen, bildeten sich neue von diesen ätzenden weißen Blutkörperchen und das ganze durfte von vorne beginnen. ,,Ich denke, ihr habt alle ein mal Urlaub von mir verdient. Schließlich tanze ich euch schon so lange auf der Nase herum." Dr.Cartney musste schmunzeln, als sie vermutlich ebenso, wie ich an das kleine zehn Jährige Mädchen zurück dachte. Wir fuhren eine lange Straße direkt am Fluss entlang. Eine Stelle, an der ich noch nie zuvor gewesen war. Dieses Viertel hatte mich nie interessiert. Die Reichen gingen auf ihre eigene Schule, kauften in ihren eigenen Läden und lebten in ihrer eigenen Welt. Schon komisch, dass ich nicht einen Menschen aus dieser Umgebung kannte. Ich dachte daran, wie es für Cara und Mason gewesen sein musste, auf eine High School zu gehen, die auf der anderen Seite des Flusses war. Denn ich war mir sicher, dass die beiden, ebenso wie ich bis zu dem Zeitpunkt nie dieses Viertel betreten hatten.
•••
Nach einiger Zeit entdeckte ich die ersten hohen Gemäuer. Prachtvolle Gebäude streckten sich in den Himmel. Gigantische und gut gepflegte Vorgärten blitzen nur so vor Perfektion. Die Villen und Häuser waren alt, die meisten jedoch bis auf das kleinste Detail renoviert. Das war Davis Leben. Hätte man mich früher hier her gebracht, hätte ich mich vor Eifersucht und Staunen kaum noch auf den Beinen halten können. Jetzt wusste ich, dass hinter diesen perfekten Fassaden auch nur kaputte Familien mit unglücklichen Menschen lebten, die sich versuchten ihr Glück und ihre Perfektion zu erkaufen. Und egal, wie wunderschön es aussah, ich wusste, das Davis alles dafür geben würde hier weg zu kommen.
Auf dem Navi erkannte ich bereits die Zielflagge. Irgendwo in diesen Häusern mussten Davis Freunde leben. Ebenso kaputte Familien. Dr.Cartney bog in eine Seitenstraße ein. Gespannt sah ich aus dem Fenster. Sie hielt vor einem großen weißen Gebäude. Vor uns erstreckte sich eine lange Treppe, die zu einer großen Eingangstür führte. Auf dem Hof erkannte ich Davis Auto und noch zwei weitere, edel aussehende Gefährte. Das Gemäuer des Hauses war alt, dennoch musste es so aufwendig restauriert und saniert worden sein, dass es kaum noch wie eine alte Villa aussah. Der Rasen und die Pflanzen wirkte perfekt aufeinander abgestimmt, fast schon künstlich. Eingesetzte Bodenstrahler beleuchten selbst am Nachmittag den Weg zu der hohen Treppe.
Ich wollte gerade die Autotür öffnen, da drehte sich Dr.Cartney zu mir um.
,,Ich glaube daran", sagte sie. Ihre Stimme klang wahrhaftig optimistisch. ,,Dass du wieder gesund wirst." Ich entgegnete ein Lächeln, wollte diese wohlklingenden Worte nicht gleich wieder zerstören. Ich verabschiedete mich von ihr und trat ins Freie. Meine Augen auf das umwerfende Gebäude gerichtet. Ich hörte, wie sie den Motor startete, drehte mich jedoch nicht mehr um. Ich lief den Weg und die Treppen hinauf. Neben der Tür war ein poliertes Klingelschild befestigt.
Familie Halter
War auf das silberne Plättchen eingraviert. Ich drückte auf die Klingel. Kurz überlegte ich, ob ich Davis hätte schreiben sollen. Doch er hätte mich womöglich davon abgehalten. Auch, wenn ich wusste, dass seine Eltern zu dieser Zeit vermutlich beide nicht zu Hause waren. Ich wartete ein paar Sekunden, bis plötzlich zwei eisblaue Augen in der winzigen gläsernen Aussparung aufblitzen. Überrascht blickte ich die Person dahinter an. Sie starrte zurück, bis sie schließlich vorsichtig die Tür öffnete.
,,Wer bist du?", fragte eine engelsgleiche Stimme und streckte ihren Kopf durch die Tür. Das musste Ruby sein. Ihre riesigen Augen und die dichten blonden Locken passten zu einhundert Prozent zu dem niedlichen Mädchen, welches Davis so oft beschrieben hatte. ,,Molly sagt, ich soll keinen Fremden die Tür aufmachen." Ihre Stimme war so weich, dass ich am liebsten dahin geschmolzen wäre. Traurig war jedoch, dass nicht ihre Mutter, sondern das Kindermädchen, von dem Davis ebenfalls erzählt hatte, ihr so etwas beibringen musste. Damals hatten er und sein Bruder niemanden gehabt. Meist arbeitete seine Mutter zu Hause und zum Spielen hatten sie sich gegenseitig. Doch der große Altersunterschied zwischen ihnen und Ruby und die Tatsache, dass nun auch Mrs.Halter ganztägig arbeitete, hatte Molly zu ihnen geführt. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es war ein Kindermädchen zu haben. Meine Mum hatte ständig etwas mit mir unternommen. Diese wundervollen Erinnerung würde Ruby mit jemand anderem teilen. Jemand, der dafür auch noch bezahlt wurde. Ihre Augen starrten mich an und warteten gierig auf eine Antwort. Ich begann zu lächeln.
,,Ich bin Loucy", meinte ich nur und kaum eine Sekunde später blitzen ihre riesigen Augen so hell auf, wie der goldene Schimmer in ihren Haaren. Sie öffnete die Tür, dass ich herein treten konnte. ,,Wirklich? Ich bin Ruby", rief sie und ihre Stimme klang auf einmal viel fröhlicher, aufgeweckter.
,,Freut mich dich kennen zu lernen.", Ich streckte ihr die Hand entgegen und als ihre kleine Hand meine schüttelte wurde mir sofort warm ums Herz. Sie war einfach noch viel niedlicher, als Davis sie beschrieben hatte. ,,Ich freu mich auch. Und wie. Davis hat sooo viel von dir erzählt und ich hab ihn jeden Tag gefragt, wann du uns endlich besuchen kommst." Ich war fasziniert und zugleich gerührt, wie sehr sie sich auf mich freute, ohne mich überhaupt zu kennen.
,,Er hat mir auch ganz viel von dir erzählt", meinte ich noch immer lächelnd. Wie konnte ich das auch nicht. Bei so einem positiven Wesen vor mir. Mein Blick schwankte im Flur herum, auch wenn ich die Eleganz dieser Einrichtung nur beiläufig wahrnehmen konnte. Die Wände waren hoch. Einige waren mit wunderschönen Mustern tapeziert.
,,Oh wirklich", rief sie begeistert und zog mich hinter sich her. Der Flur, war viel mehr ein großer Eingangsbereich. Eine breite Treppe führt nach oben in eine gigantische Galerie. Von hier unten aus hatte man einen Blick auf alle anderen Räume. Ich konnte ein Wohnzimmer erahnen, eine Küche und ein Esszimmer. Jeder Raum war offen gestaltet und edel geschwungene Türrahmen grenzten in den Eingangsbereich. Doch Ruby führte mich zu keinem dieser Räume. Sie lief auf die Treppe zu und redete dabei wie ein Wasserfall, erzählte mir davon wie glücklich sie war, dass Davis wieder zu Hause war. Sie erzählte mir von ihrem Geburtstag im Oktober und, dass ich unbedingt kommen und ihre ganzen Freundinnen kennenlernen müsse. Sie packte so viel Inhalt in die kurzen Sekunden, die wir brauchten um die Treppe hinaufzulaufen und in die Galerie zu treten. Doch das störte mich nicht. Davis hatte recht, sie war genau wie ich früher. Fröhlich und offen.
Ich erkannte einen großen Kronleuchter, der den Eingangsbereich beleuchtete. Die Galerie reichte bis über das offene Wohnzimmer, in das ich nur kurz einen Blick warf. Von hier aus führten mehrere Türen zu einigen Zimmern. Ruby lief die Galerie nach links entlang und zeigte auf die offen stehende Tür.
,,Das ist mein Zimmer", verkündete sie stolz. Ich konnte nicht viel erkennen. Außer einer blassrosa Tapete. Ganz hinten an der Wand stand ein riesiges Bett und davor Unmengen von Spielzeug auf einem weißen Teppich verstreut. ,,Und das ist Davis Zimmer." Sie deutete auf die Tür am Ende des Ganges und war schneller dort angelangt, als ich mich umdrehen konnte. Ohne anzuklopfen riss sie die Tür auf.
,,Daaavis", rief sie voller Begeisterung und betrat das Zimmer. Ich folgte ihr. ,,Du glaubst nicht wer da ist", sagte sie. Meine Augen vielen auf die große Fensterfront. Direkt darunter stand ein Schreibtisch. Mehrere Regale mit Ordnern und Büchern befanden sich daneben. Auf dem Schreibtischstuhl saß Davis. Vertieft dabei, etwas auf seinem Laptop abzutippen. ,,Wer denn?", fragte Davis und klang erleichtert, eine Ablenkung zu bekommen. Er drehte sich um und blickte erst seine kleine Schwester und dann mich an. Sein Blick erhellte sich von einer auf die andere Sekunde. Die müden Augen sahen mich überrascht an. Seine Haare waren zerzaust, seine Kleidung wie immer lässig. Der einzige Unterschied, die tiefen Augenringe.
,,Lou", begrüßte er mich erfreut und stand auf. ,,Danke dir, Ruby", sagte er an seine Schwester gewandt. ,,Kein Problem", sprach sie im selben Tempo weiter, wie sie aufgehört hatte. Sie drehte sich zurück zur Tür. ,,Bleibt sie zum Essen?", fragte sie noch, ehe sie den Raum verlassen konnte. ,,Oh", machte Davis, warf mir einen fragenden Blick zu. Er schien immer noch nicht realisiert zu haben, dass ich nun wirklich in seinem Zimmer stand. ,,Ich weiß nicht", fuhr er fort und schenkte Ruby ein entschuldigendes Lächeln. ,,Macht nichts", grinste sie und zog die Tür hinter sich zu.
Kurz sah ich ihr hinterher und blickte anschließend zurück in Davis Gesicht. ,,Sie ist echt...", begann ich. Davis beendete meinen Satz mit: ,,aufgedreht." Ich schüttelte den Kopf. ,,Wundervoll." ,,Ja", meinte er lachend. ,,Das ist sie." Er kam auf mich zu und zog mich langsam in seinen Arm. Wie sehr ich das vermisst hatte. Ohne ihn war es in der Klinik wirklich kaum auszuhalten. Er küsste meine Wange ließ mich einige Sekunden nicht los.
,,Wie geht es dir?", fragte er und bot mir einen Platz auf seinem Bett an. Es stand an der anderen Seite des Zimmers. Ebenfalls unter einem riesigen Fenster. Die Matratze war weich, so viel bequemer, als alle Krankenhausbetten zusammen. Am liebsten hätte ich mich in den Kissenberg gestürzt und wäre nie wieder aufgestanden.
,,Vermutlich besser, als dir", meinte ich und nickte zu dem Stapel Papier auf seinem überfüllten Schreibtisch. Er schüttelte nur mit dem Kopf. ,,Ich kann dieses ganze Zeug nicht mehr sehen." Er seufzte tief und setzte sich zu mir. Ich lehnte mich an seine Schulter. Wie sehr ich diese Nähe brauchte. ,,Meinst du ich sollte froh sein, nicht zur Schule gehen zu müssen?", fragte ich und sah dabei zu, wie Davis leichte Kreise mit dem Daumen über meinen Arm zog. ,,Nein, aber du solltest dich glücklich schätzen, nicht so einen irren Vater zu haben." Ich lachte leise und musste, ohne es verhindern zu können, wieder an unsere Begegnung denken.
,,Wie bist du eigentlich her gekommen?" ,,Mit Dr.Cartney", entgegnete ich. ,,Sie musste hier in die Gegend." Ich schloss meine Augen, genoss die Zeit so sehr, wie ich es lange nicht getan hatte. Weit weg von der Klinik. In einer völlig anderen Welt, in die ich durch einen großen Zufall geraten war. Es wurde leise. Davis zog mich in seinen Arm, schien die angenehme Ruhe zu genießen.
,,Kannst du mich nicht einfach mitnehmen?", fragte er und klang wehmütig. ,,Zu gerne", flüsterte ich und wurde von einem plötzlichen Kuss unterbrochen. Ich war kurz überrascht. Noch immer war das alles so fremd für mich. Dann ließ ich mich in seinen Arm fallen. Wünschte mir nichts sehnlicheres, als einfach bei ihm zu bleiben. Ich hatte meine Augen noch immer geschlossen und spürte, wie er mich vorsichtig in eines seiner riesigen Kissen drückte. Auf meinem alten Bett hatte ich auch so viele Kissen liegen gehabt. Die meisten hatte ich mit Mum selbst genäht. Sie war so gut darin und hatte mir das Nähen schon beigebracht, als ich nicht einmal in die Schule ging. Das weiche Bett unter mir schrie förmlich danach mich endgültig auf die Matratze fallen zu lassen. Doch das ging jetzt nicht. Das Risiko, dass ich dann nicht mehr aufstehen konnte, war viel zu hoch.
,,Davis", lachte ich leise in den Kuss hinein. Er kniff die Augen zusammen, als wollte er mir damit klar machen, dass ich diesen perfekten Moment nicht zerstören sollte. ,,Musst du nicht lernen?" Er zog seinen Kopf zurück und rollte mit den Augen. ,,Danke Lou", beschwerte er sich und richtet sich wieder auf. ,,Hey, ich hatte nicht vor dich vom lernen abzuhalten. Schon gar nicht, wenn dein Vater erfährt, dass ich dich gestört habe." Er begann zu lachen und gab mir einen letzten Kuss. ,,Ich wäre dir dankbar, wenn du genau das machen könntest. Mich aus alldem rauszuholen."
,,Glaub mir, ich würde alles dafür tun, dich wieder mitzunehmen. Es ist furchtbar langweilig. Ich habe niemanden, Davis. Ich weiß langsam nicht mehr, was ich mit der Zeit anfangen soll. Du hier am Schreibtisch, genau so wie Cara und Mason. Meine Mum in Virginia und Rick vermutlich wieder am anderen Ende der Welt." Davis legte seinen Kopf schief. ,,Du hast mir nie wirklich von ihm erzählt", meinte er. Ich zuckte mit den Schultern. ,,Da gibt es nicht viel zu erzählen. Nach meinem ersten Geburtstag ist er ausgezogen und nach Texas gegangen. Später für einige Zeit nach Afrika. Dort pendelt er immer noch hin und her, glaube ich zumindest." Davis sah mich an, als würde er eine ganz neue Seite von mir kennenlernen. ,,Du bist nicht so gut auf ihn zu sprechen."
,,Nein." Ich schüttelte ironisch grinsend den Kopf. ,,Ich meine Paul konnte nichts dafür, dass sich meine Mum von ihm getrennt hat. Das war ihre Schuld, ganz eindeutig. Aber Rick war einfach nur feige. Seine Familie allein zu lassen und sich all die Jahre nur ein paar Mal blicken zu lassen." ,,Habt ihr euch denn nie ausgesprochen?" Am liebst wollte ich das Thema wechseln. Ich hatte keine Lust darüber nachzudenken, was für ein Pech ich mit meinen ,,Vätern" hatte. Gut, Davis ging es schließlich nicht gerade besser damit.
,,Er war vor ein paar Wochen hier und hat mich Besucht. Da hat er allen Ernstes versucht sich zu entschuldigen. Hat gesagt, das er gemerkt hat, dass die Vaterrolle nichts für ihn ist. Hätte ihm ja auch früher einfallen können." Davis lehnte seinen Kopf an meinen. ,,Wir haben schon verdammt Pech, nicht?", grinste er. ,,Ja", flüsterte ich und im nächtsen Moment klopfte es ander Tür. Überrascht sah ich erst zu Davis und dann zu der Person, die in das Zimmer trat.
,,Oh", entfuhr es ihr, als sie mich entdeckte. ,,Ich...ich wusste gar nicht, dass du hier bist." Mrs.Halter versuchte es mit einem Lächeln. Sie trug wie die letzten Male einen Rock, nur dieses mal war er deutlich länger. Dazu einen schwarzen Blazer. Ihre Haare waren zusammengesteckt, dennoch lösten sich bereits einige Strähnen aus ihrer Frisur. Vermutlich hatte sie einen langen Arbeitstag hinter sich.
,,Ich wollte nur sehen, ob bei Davis alles in Ordnung ist", murmelte ich und sah sie bemüht freundlich an. Sie schob sich ihr Haar hinters Ohr. Vermutlich wusste sie nicht, was sie sagen sollte. ,,Stimmt, du gehst ja nicht zur Schule." Gut, dieser Versuch war gescheitert.
,,Mum!", entgegnete Davis scharf und seine Mutter sah mich fast schon entschuldigend an. ,,Oh nein, so war das nicht gemeint...Ich...Willst du mit uns zu Abend essen?", fragte sie und schien schnell das Thema wechseln zu wollen. Ich wollte gerade etwas unbeholfenes entgegnen, da stand Davis auf. ,,Nein, ich wollte sie gerade nach Hause bringen", meinte er monoton und nickte mir zu. Ich stand ebenfalls auf und versuchte ihren Blicken auszuweichen. Irgendwie fühlte ich mich noch immer nicht ganz wohl in ihrer Anwesenheit. Auch wenn sie, im Gegensatz zu ihrem Mann, nie etwas schlechtes über mich gesagt hatte.
,,Das geht nicht, Molly hat gekocht. Dein Vater wird es bestimmt nicht toll finden, wenn du dein Essen kalt essen musst. Außerdem wird er wütend, wenn wir nicht alle gemeinsam..." Davis unterbrach sie und zog mich an ihr vorbei aus dem Zimmer. ,,Sag ihm, ich bin auf meinem Zimmer und lerne." Wir liefen zur Treppe und nahmen die Stufen noch schneller, als ich zuvor mit Ruby.
,,Davis Halter, ich werde nicht für dich lügen", rief sie uns hinterher. Irgendwas in ihrer Stimme klang verletzlich. Er schien beschlossen zu haben, darauf nicht weiter zu reagieren. Er schlüpfte in seine Schuhe,schnappte sich seinen Schlüssel vom Schlüsselbrett und verließ mit mir das Haus. Draußen angekommen holte er tief Luft und sah mich mitleidig an. ,,Tut mir leid", sagte er und ich schüttelte schnell den Kopf. ,,Alles gut. Deine Mutter hat es doch nur gut gemeint." Davis konnte sich ein ironisches Lachen nicht verkneifen. Er schloss das Auto auf.
,,Sie meint gar nichts. Sie hatte noch nie eine eigene Meinung." Er hielt mir die Tür auf und ließ mich einsteigen. Als er auch auf seinem Sitz platz genommen hatte, sah ich ihn energisch an. ,,Wirklich Davis es ist alles in Ordnung." Ich verstand nicht, warum er sich über so eine Kleinigkeit aufregen musste. ,,Nein." Er startete den Motor und fuhr Rückwärts aus der Einfahrt hinaus. ,,Ich hasse es, wenn sie vor jedem so tun muss, als sei sie etwas besseres. Letzte Woche hatte Ruby eine Freundin eingeladen. Keine Arzttochter oder so. Ein ganz normales nettes Mädchen, die Ruby eingeladen hatte, weil sie sie mag. Und was macht mein Vater. Dauernde Anspielung darauf, dass sie kein Geld hat oder noch nie das Land verlassen hat. Er ist so ein Vollidiot." Ich konnte und wollte ihn nicht in Schutz nehmen. Dafür hatte ich zu schlechte Erinnerungen an ihn und war froh, ihn heute nicht getroffen zu haben. Ich hörte stumm der Musik im Radio zu und verabschiedete mich schweren Herzens von dem Ortseingangsschild, welches jetzt bei Nacht mit kleinen Bodenleuchten bestrahlt wurde.
Erst, als wir auf den Highway fuhren, holte Davis tief Luft und sah zu mir. ,,Ich kann nicht glauben, dass wir so verflucht sind", flüsterte er. Ich hörte seine Stimme zittern. In ihm brodelten die Gedanken und die Ängste. ,,Es kann doch nicht sein, dass unser gesamtes Leben unter einem falschen Stern steht. Unsere Eltern, der Krebs, so ein beschissenes Schicksal. Wer hat das bitte verdient?" Einen Moment schwieg ich, sah nur dabei zu, wie er konzentriert wieder auf die Straße sah und die Autos an uns vorbei rauschten.
,,Ich weiß ja nicht, was du denkst. Aber ich könnte in diesem Moment kaum glücklicher sein. Ich meine, hey, wir sind zusammen. Ganz ehrlich, das ist so viel mehr, als ich mir je hätte erträumen können." Ich machte eine Pause und sah in den Sternenklaren Nachthimmel. Unter den Weiten der Unendlichkeit. ,,Und ich weiß nicht wieso, aber ich bin mir sicher, dass alles besser wird." Ich konnte nicht aufhören, zu lächeln. Mein Blick galt der Ferne, mein Herz schlug vor plötzlicher Zufriedenheit höher. Ich spürte, wie Davis warme Hand nach meiner griff. Ich blickte zur Seite, verlor mich in seinen weichen Augen. Nach kurzem entgegnete er ein erleichtertes Seufzen.
,,Du hast recht. Oh, Lou, du liegst wie immer so verdammt richtig " Ich musste lachen und drücke seine Hand fester. Ich konnte es selbst nicht immer wahrhaben. Aber so schlimm, wie ich mein Leben immer genannt hatte, war es nicht. Im Gegenteil. Eigentlich war es perfekt so wie es war.
•••
Nach einer Weile rollte Davis Wagen langsam auf den Klinikparkplatz. Ich wollte nicht aussteigen. Dieser Moment sollte nicht vorbei gehen. Ich konnte nicht in die kühle Abendluft treten und einfach zurück in mein Bett gehen - ohne Davis. Genau so wenig, wollte ich es nicht ertragen müssen, ihn wieder Tage lang nicht zu sehen. Ihm schien es eben so zu gehen. Dennoch war er der erste, der ausstieg, um den Wagen herum lief und mir schwungvoll die Tür öffnete. Wiederwillig griff ich nach seiner Hand und stand auf. Ich hätte mir eine Jacke anziehen müssen, denn jetzt, wo die Sonne untergegangen war, schien der sonst angenehme Wind eine eisige Kälte in seinem Schleier zu verstecken.
In der Hoffnung, mir den Weg in Richtung Klinik einfacher zu machen, schenkte ich ihm nur ein zurückhaltendes Lächeln. ,,Wir sehen uns bald wieder versprochen?", fragte ich hoffnungsvoll. Er nickte, seine Augen sahen mich so ausdrucksvoll an, dass er seine Gedanken nicht aussprechen musste. ,,Ich weiß", sagte ich so leise, dass ich nicht sicher war, ob der Wind die Worte gleich, nachdem sie meinen Mund verlassen hatten, mitgetragen hatte.
„Gute Nacht."
,,Gute Nacht, Davis." Meine Stimme kratzte. Alles in mir, hielt mich auf, wegzugehen. Zurück in das weiße Gefängnis. Nur mit großer Überzeugungskraft, schaffte ich es, mich mit einem Lächeln von ihm abzuwenden. Nicht ohne noch mal in sein wunderschönes Gesicht gesehen zu haben. Dann richtete ich meinen Blick auf den Steinboden. Ich lief durch das offene Eingangstor. Vor mir lag die große lange Treppe. Schritt für Schritt wurde das Verlangen in mir größer, umzukehren. Im Einklang mit dem Fuß auf der dritten Stufe, spürte ich mein Handy in meiner Hosentasche vibrieren. Stirnrunzelnd zog ich es heraus.
Ich liebe dich, Loucy Avans. Mehr als alles andere auf der Welt. Ich hoffe, du wirst dieses Gefühl nie vergessen.
Für eine Sekunde, stoppte ich zu atmen, verharrte wie festgefroren auf der Treppe. Meine Finger tippten hastig auf dem Display herum.
Ich liebe
Hatte ich geschrieben, doch schüttelte darauf nahezu bewegungslos meinen Kopf und löschte die geschriebenen Buchstaben wieder. Dann verwandelte sich mein verkrampfter Ausdruck in ein wahrhaftig überwältigtes Lächeln. Ich drehte mich um, blickte auf das, im Laternenlicht glänzende Auto. Davor Davis, der grinsend zu mir aufsah, mit dem Rücken lässig an sein Auto gelehnt.
,,Werde ich nicht." Einen unendlichen Moment lang stand ich einfach da und sah ihn an. Unbeschreiblich war es, dieses Gefühl, dieses tiefe Empfinden voller Liebe und Geborgenheit, auf diesen Abstand zu betrachten. Zum greifen nah. Dann trat mein Fuß zurück auf den Steinboden, ich ließ sein Lächeln nicht aus den Augen. Langsam, aber mit immer schneller werdenden Schritten lief ich auf ihn zu. Mein Herzschlag dröhnte bis in jeden Muskel meines gesamten Körpers. Millimeter vor ihm blieb ich stehen, spürte seinen warmen Atmen auf meiner Haut. Vorsichtig legte ich meine Hand an seine Wange. Meine kühlen Finger kribbelten auf seiner warmen Haut. Sein Lächeln wurde breiter, seine Augen immer zufriedener
,,Ich liebe dich auch", flüsterte ich, kurz bevor ich seine Lippen auf meinen spürte. Dieses überwältigende Gefühl in meiner Brust. Jedes Hindernis meines gesamten Lebens, der unerträgliche Schmerz - alles hatte sich gelohnt. Für dieses unbeschreibliche Glück, was ich in diesem Moment empfand.
Wahnsinn. Das erste mal seit Monaten bin ich mehr als sprachlos.
Überwältigt und müde. Aber unendlich glücklich.
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