5] Tintenleid
In der Nacht kamen die Zweifel.
Hier, wo sie in ihrem Bett lag und beobachtete, wie das fahle Mondlicht Staubkörner in schwebende Diamanten verwandelte, wirkte alles so schrecklich zerbrechlich. So fern und surreal.
Was, wenn man sie erwischte? Wenn etwas schiefginge, jemand sogar verletzt wurde?Wenn man sie einsperrte?
Wäre sie alleine und bloß die ledige Gouvernante Antonina Jablonska, sie würde alle Sorgen in den Wind schlagen und sich verwegen in jede Aktion des Widerstands werfen.
Aber jetzt konnte sie nicht riskieren ihren Vater allein und dem Schicksal zu überlassen. Karol Jablonski hatte nicht verdient, für ihre Kühnheit zu leiden und doch würde er es zwangsläufig tun.
Sie beide waren die letzten Personen in ihrer Familie. Sie gehörten zusammen, klammerten sich verzweifelt aneinander und doch entglitt ihr Vater ihr bereits durch die Krankheit...
Wie lange noch?
Diese Frage geisterte schon seit Monaten durch ihren Kopf.
Antonina wollte die Antwort nicht kennen. Aber vor allem wollte sie diese nicht erleben.
Die junge Frau musste schlucken.
Ihre Mutter war bereits früh gestorben, da war sie gerade einmal drei gewesen. Kindbettfieber hatte sie in den Tod gerissen, hatte die Hebamme erklärt. Wenigstens ihr Bruder Witold hatte überlebt und doch... Jetzt war er weit weg in Schlesien und war ein eifriges Zahnrädchen im Prozess, die Schwerindustrie dort zu errichten.
Er war fort, sie sah ihn kaum, fast nie und doch... er war da. Sie wusste, dass er irgendwo in diesem Land existierte, dass er lebte.
Von ihrer Mutter blieb nichtsmehr, bis auf ein einsames, verwittertes Grab.
Allein ein Stahlstich von ihr stand auf dem Sekretär ihres Vaters. Früher konnte sie beobachten, wie Karol liebevoll über das kalte Metall gestrichen hatte, dabei diese verträumte Miene aufb dem Gesicht, die zeigte, dass er in der Schönheit lange vergangener Jahre schwelgte. Er hatte einen Ort, an den er fliehen konnte, einen blassen Schimmer der Vergangenheit.
Aber in ihren eigenen Erinnerungen... reine Leere.
Kein Lachen, nicht die Farbe ihrer Augen oder den Klang ihrer Stimme.
Nur pures Nichts, erfüllt von Stille und Einsamkeit.
Ihr Vater schwärmte oft von dem Duft ihres Parfums. Es hatte wohl frisch gerochen, nach Zitrone und strahlendem Sommer.
Erst in diesem Moment merkte sie die feuchten Spuren auf ihrer Wange, die heiß in ihren Augenwinkeln brannten.
Hastig wischte sie sich die Tränen aus den Augen, richtete sich auf und blinzelte gegen das schwache Licht.
Fest presste sie ihre Lippen aufeinander, bevor ihr ein verräterisches Schluchzen entwichen wäre.
In der Luft hingen zu viele alte Geister, als das sie sich diese Nacht noch in den Schlaf retten könnte.
Auch würden sie nicht die Werke eines
Adam Bernard Mickiewicz in ihren hypnotosches Bann schlagen. Jetzt brauchte sie Realität. Knallharte Gegenwart, keine Tinte auf Papier und nicht die bittersüße Frage, die in solchen Nächten immer die Luft verklebte:"Was wäre, wenn alles anders gekommen wäre? Wenn die Welt noch heil wäre?"
Entschlossen schwang sie die Beine aus dem Bett und öffnete ihren Kleiderschrank.
Sie schnappte sich Unterkleid, Korsett, Strümpfe, Krinoline, Strumpfbänder und ein schlichtes dunkles Kleid, bevor sie auf den Stuhl vor ihrer Poudreuse sank.
Automatisch richtete sich ihr Blick auf die halbfertige Matrize, die sie vor wenigen Stunden begonnen hatte.
Stolz blickte ihr der polnische Adler entgegen, voller Trotz und Überlebenswille. Auf der stumpf schimmernden Patrize strahlte er wie reines Gold. Daneben der Schriftzug "An meine polnischen Brüder und Schwestern!"
Bei dem Anblick breitete sich ein kleines Lächeln auf ihren Zügen aus.
Ein Adler war auch Herzog Lech, dem legendären polnischen Urvater, erschienen, nun lag der von ihr gefertigte vor ihr.
Auch sie sollte Hoffnung daraus schöpfen.
Antonina durfte ihren Vater nicht in Gefahr bringen, unter keinen Umständen, aber das hieß nicht, dass sie zur Tatenlosigkeit verdammt war.
Die junge Gouvernante müsste nur all ihr Geschick und Willen aufbringen, um diese Zeit zu überstehen. Und wenn ihr das gelungen war, vielleicht war dann Polen wieder frei und eine Sorge weniger drückte auf ihre Schultern.
Also griff sie nach ihrem Werkzeug und begann, all ihren Frust der Besatzung in den Stahl zu rammen.
Schon oft hatte eine zweifelnd Stimme in ihr gefragt, ob ihr armer kranker Vater sie ausbremste und ihr die Zukunft raubte.
Aber dieser Lüge hatte sie selbst nie wirklich Glauben geschenkt.
Es war nicht ihr Vater, der ihre Zukunft in eine enge Gasse verwandelte, sondern die Gesellschaft.
Denn als Gouvernante hatte Antonina bereits die eigenständigste Position erreicht, die eine Frau ihrer gesellschaftlichen Schicht erreichen konnte, außer einer Mamsell vielleicht. Eventuell könnte sie noch Lehrerin an der nächsten Höheren Töchterschule werden, da es in fast allen deutschen Teilstaaten Pflicht für Gouvernanten war, ein Lehrerinnenseminar besucht zu haben, vor den sich ein zweijähriger Aufenthalt an einer Präparandenanstalt reihte.
Zwar besaß sie also alle nötigen Qualifikationen für eine solche Stelle, da von Lehrer ihrer Stufe kein Studium benötigt wurde, von dem Frauen prinzipiell ausgeschlossen waren und doch musste sie eingestehen, dass das Gehalt der von Kopckes jedes lächerliche Honorar Lehrerin in ihrer Umgebung übertraf, sei es auch nur wenig.
In ihrer jetzigen Situation brauchte sie jeden Taler.
Die sonst einzige für sie reale Alternative wäre das Leben als brave Hausfrau, mit einer wilden Schar Kinder und einem wohlhabenden Ehemann, der ihr Leben diktierte und sie Gefahr lief, zu einem lebendigen Schmuckstück zu verkommen.
Und so sehr sie es sich vorstellte in diese Position zu sein, darin sogar glücklich zu werden, so sehr sah sie in Gedanken immer eine andere Frau dort, aber niemals sie selbst, egal wie sehr sie es versuchte.
Irgendwann schob sich ein rot glühender Ball über den finsteren Horizont und überzog die Dächer mit einem blutroten Schimmer.
Fensterläden knarrten und Posen erwachte träge aus seinem Schlaf.
Antonina seufzte, zupfte an ihren Pagodenärmel und griff nach ihrer Matrize.
Bevor sie in das mondäne Adelspalais ihrer Arbeitgeber auch nur einen Fuß setzte, hätte sie noch etwas zu erledigen.
Doch bevor sie aufbrach eilte sie noch betont leise die Treppe herunter, brühte einen Kessel Tee auf und füllte einen Teller mit einem Stück Roggenbrot, Hüttenkäse, Schinken und ein gekochtes Ei.
Während sie selbst schnell eine Tasse schlürfte, trug sie das Frühstück eine Scheibe Brot mit Käse kauend die Treppe hinauf.
Vorsichtig drückte sie die Tür zum Schlafzimmer ihres Vaters mit einem Ellenbogen auf und trat in das Zwielicht des Raums.
Ihre Freundin Karolina hatte einmal gesagt:"Stärke ist nicht durch Titel erkennbar, sondern durch die Art wie wir unsere Mitmenschen behandeln."
Sie hatte sich entschieden, das zu ihrem Mantra zu machen
Die Vorhänge waren noch dicht zugezogen und etwas unter der Bettdecke hob und senkte sich regelmäßig.
Allein ein blasser Kopf mit dunklen Locken ragte aus dem Leinenstoff, die Wangen waren eingefallen und die Haut aschig.
Antonina schluckte, als sie das Essen sachte auf dem Nachtschrank abstellte.
Es gab Zeiten, da verschlimmert sich der Zustand ihres Vaters rapide.
Sein Appetit verschwand fast vollständig und er versank für Tage im Bett. Manchmal schlafend, manchmal bloß kraftlos und erschöpft in die Leere starrend.
Es war keinesfalls Faulheit, daß hatte Antonina sofort bemerkt, denn obwohl ihr Vater keine Wunden trug, litt er ständig.
Heute war wohl einer dieser Tage.
Betrübt strich sie ihm eine rabenschwarze Locke aus der Stirn, dann verließ sie den Raum wie sie ihn auch betreten hatte-nämlich wie ein Phantom.
Vor noch wenigen Monaten musste ihr Haus unheimlich schön gewesen sein.
Kunstvollen Seidentapeten und wertige
Möbel schmückten die Räume, doch viel davon hatten sie verkauft, um über die Runden zu kommen.
Wo vorher noch ein prächtiger Vertiko gestanden hatte, klaffte nun eine nackte Tapete, während dunkle Flecken den Ort beschrieben, wo früher einmal eine Ottomane gewesen war.
Also war Antonina recht froh, als sie aus dem Haus eilte und ihre Wangen von der kühlen Morgendluft geküsst wurden.
Die Druckerei, die Stanislaw ihr beschrieben hatte, lag nur eine Straßenkreuzung entfernt von ihrem täglichen Arbeitsweg.
Je näher sie ihr kam, desto mehr schien die Matrize sich durch den Stoff ihres Retiküls zu brennen. Denn dort hatte sie diese in der Hoffnung versteckt,dass sie zwischen dem Taschentuch, Riechsalz und schmalen Büchern nicht auffallen würde. Wenn dies jedoch geschähe... ein Exil in Frankreich wie es beispielsweise die drei Barden der polnischen Romantik Adam Mickiewicz , Juliusz Słowacki und Zygmunt Krasiński nach dem heillos gescheiterten Novemberaufstand gegen die Russen fristeten, wäre die gnädigste Möglichkeit.
Noch einmal nahm sie einen tiefen Atemzug, dann trat sie in die Druckerei ein, die von Karren und dösenden Kutschfahrern flankiert war.
Der beißende Geruch von Druckerfarbe schlug ihr entgegen und schien in Luft, Haaren und Kleidung zu dringen.
Ohrenbetäubendes Rattern jagten die eifrigen Maschinen durch den Raum und ein Geselle löste gerade einen Setzkasten aus einer Druckpresse, um die Lettern darin zu tauschen, da eilte eine Dame mit wehenden Röcken und verschwitzter Stirn auf die junge Gouvernante zu.
Unter dem Stoff ihres rostroten Kleides zeichnete sich klar ihre fortgeschrittene Schwangerschaft ab.
"Junge Dame", schnaufte sie müde und gestresst,"Was kann ich für Sie tun?"
"Stanislaw Narbuttowicz schickt mich", berichtete sie nüchtern. "Ich habe etwas, das für Ihren Inhaber Herr Lubowski von Bedeutung sein sollte."
"Kasimir Lubowski ist nicht unser Chef, sondern irgendein Unternehmer aus Preußen", meldete die Frau nur, der einige hellblonde Strähnen verklebt in die Stirn fielen und aus ihrem schmutzigen Haube entwicht waren. "Lubowski besitzt nur einen Teil der Druckerei. Einige Anteile."
Antonina erwiderte bloß ein Nicken, während ihre Hand beinahe unbewusst in ihr Retikül wanderte, bis sie die glatte Oberfläche der Matrize ertasteten-und die feinen Rillen, die sie in diese geritzt und zu einem Bild zusammengefügt hatte.
Die Frau biss sich für einen kurzen Moment auf die Unterlippe, dann meinte sie:" Kommen Sie, Fräulein, ich kann Sie zu Herr Lubowski führen."
Bei der Aussage wäre sie beinahe zusammengezuckt.
Trocken musste sie schlucken, während sich ihr Herzschlag panisch beschleunigte.
Hatte Stanislaw nicht gesagt, er würde diese Nacht aufbrechen? Kasimir war sein Komplize, wieso war er also noch hier?
War ihrem Freund etwas zugestoßen?
Aber die Polin rang sich bloß ein tapferes Nicken ab, dann heftete sie sich an die Rocksäume der Arbeiterin, die aich geschickt durch Druckpressen, Gestank und Winkelhaken schlängelte.
Was für Johannes Gutenberg wohl ein feuchter Traum sein musste, erfüllte Antonina nur mit dem Wunsch darüber, dem Miasma aus Tinte und Schweiß so schnell wie möglich zu entfliehen. Am besten gemeinsam mit dem Wissen, dass es Stanislaw gut ging.
Irgendwann stoppte sie Blonde, hämmerte gegen eine Tür am Ende des Raums, die sich bald Quietschen öffnete.
Antonina straffte die Schultern und trat ein- die andere folgte ihr nicht.
"Guten Morgen?", meinte sie zögerlich in den stickigen Raum.
Ein Mann, der wahrscheinlich Kasimir war, hatte sich leicht über einen Tisch gelehnt, auf dem sich Stahlstiche, unfertige Matrizen und Patrizen stapelten.
Für einen Moment hätte sie ihn für einen Schriftschneider halten können, nicht für einen Angehörigen der Szlachta.
Sein blondes Haar fiel ihm wie wirres Gold in die Stirn, die Ärmel seines Hemdes waren hochgekrempelt und die Weste leicht verschlissen.
Der Gehrock war vollkommen weggefallen.
Als sie eintrat, hob er den Kopf und richtete sich lächelnd auf.
"Sie müssten Fräulein Jablonska sein, nicht wahr?"
"Genau", antwortete sie und reichte ihm prompt die Matrize. "Wo ist Stanislaw? Er meinte zu mir, Ihr wolltet gemeinsam nach Berlin? Ist etwas geschehen?"
"Keine Sorge", versicherte der Blonde und hob abwehrend seine Hände. Dunkle Tintenflecken prangten auf der sonnegebräunten Haut.
"Alles läuft nach Plan. Stanislaw ist gestern Nacht aufgebrochen, er müsste sogar fast schon in Berlin sein. Ich breche in zwei Stunden auf-damit wir zwei weniger auffallen, wollten wir zeitversetzt gehen. Wenn zwei Adlige gemeinsam die Stadt verlassen und zwei polnische Arbeiter aus Posen gleichzeitig in Berlin eintreffen... Wir wollen nichts dem Zufall überlassen."
Beinahe wäre Antonina ein erleichtertes Seufzen entflohen.
Stattdessen nickte sie nur dankbar und meinte:"Gut. Weiß euer... Informator davon bescheid?"
"Ja", erwiderte er schmunzelnd. "Wissen Sie, Stanislaw erzählt immer viel von Ihnen. Umso erfreulicher, dass Sie zu dieser Zeit hier sind und wir uns endlich einmal kennenlernen dürfen."
"Eine Frau, die morgens auf Ihrem Weg eine Druckerei besucht ist eben unauffälliger als eine Person in finsterer Nacht oder in den frühen Morgenstunden. Außerdem muss ich nachmittags arbeiten",antwortete sie, bevor sie belustigt ihre Augenbrauen hob. "Was erzählt er denn über mich?"
Das Grinsen auf Kasimirs Gesicht wurde breiter. "Nun, dass Sie nichts anderes kennen als Bücher und Kultur, aber auch die warmherzigste Person sind, die er getroffen hat."
Ihre Augenbrauen wanderten noch ein Stück höher. Verspottet man sie hier gerade? "Also das ist schon sehr spezifisch", murmelte sie und schüttelte daraufhin leicht den Kopf, dann nickte sie schwach zu der Matrize.
"Wie wollen wir das verbreiten, ohne das die Preußen es mitkriegen?"
Der Blonde schien das Stück erst jetzt zu bemerken, dann kräuselte er die Stirn und hob sie andächtig an.
Antonina hatte die Worte fieberhaft verinnerlicht, die die kunstvoll gestalteten Patrizen bildeten und die Kasimir in diesem Moment wohl lesen musste.
An meine polnischen Brüder und Schwestern!
Zu lange ist unser Land bereits durch grausame Mächte geteilt, zu lange sind unsere Familien getrennt, Geschwister entzweit und Liebende zerbrochen, um unter fremden Bannern und fremder Herrschaft zu stehen!
Kein Pole hat mehr Macht in Polen, keiner ist Beamter, sondern es sind Preußen, Russen und Österreicher.
Denkt an Herzog Lech, denkt an Tadeusz Kościuszko, denkt an all die, die im Novemberaufstand von den Russen nach Sibirien verschleppt oder ins Exil getrieben wurden.
Denkt an sie,nährt die Flammen ihres Widerstands und lasst uns Licht in die Schwärze der Unterdrückung bringen! Lasst uns ein freies und geeintes Polen erschaffen!
Anerkennend zog Kasimir die Luft ein.
"Das ist gut", nickte er ihr zu, bevor er antwortete: "Ich werde es heute Abend reproduzieren lassen, wenn nur noch die Angestellten da sind, denen ich vollkommen vertraue. Danach werde ich sie verteilen lassen. Vielleicht erst, wenn wir zurückkommen. Falls wir zurückkommen. "
"Du meinst, es könnte scheitern?", hakte sie nach, während sich in ihrem Inneren ein grimmiges Hab ich dir doch gesagt, Stanislaw, breitmachte. Trotzdem schob sie noch schnell ein "Danke" hinterher. In solchen Zeiten tat selbst so ein kleines Lob unfassbar gut.
Kasimir schluckte, dann biss er dicht auf die Unterlippe."Es... wird nicht leicht."
"Stanislaw meinte, es würde ein Kinderspiel", entgegnete sie, zweifelnder als gewollt und der Blonde starrte zähneknirschend auf seine Füße.
"Stanislaw ist radikal", erklärte er knapp. "Der erste der eine Muskete erhebt und der letzte, der an dem Erfolg und der Richtigkeit seines Handeln zweifelt. Zumindest bei letzterem kann ich ihm zustimmen, aber bei letzterem..." Der Satz verklang unausgesprochen zwischen ihnen.
Antonina beschloss, Kasimir einer weiterer Musterung zu unterstellen.
Seine Nase war schief, anscheinend mehrmals gebrochen, genauso wie seine Weste den ein oder anderen Schaden hatte einstecken müssen, denn der dunkle Stoff war gesprenkelt von zahlreichen Flecken in allen erdenklichen Farben.
Hingegen war der Ton seiner Augen stechend blau, glitzernd wie ein Bergsee und frostig wie ein Gletscher, dessen Art so viele von Antoninas Büchern füllten.
Seine Züge hatten zweifelsfrei etwas aristokratisches, dabei schien er einem Herb-einer Wappengemeinschaft- zu entstammen, dessen Familien reichlich verarmt waren. Wer weiß, ob Druckerei und ein hässlicher, unwirtschaftlich Flecken Land nicht sogar das einzige in seinem Besitz war, was wirklich von materiellen Wert war?
"Wissen Sie-", setzte Antonina an, da flog dir Tür zur engen Schreibstube auf und donnerte gegen die Wand. Etwas schepperte und die schwangere Frau stolperte keuchend ins Zimmer.
"Soll ich eine Hebamme rufen?", entwich es Antonina reflexartig und sie stützte die Frau, bis sie sie auf einen Stuhl in der Ecke führte.
Ihre Blicke huschten rastlos durch den Raum, die Brust hob sich unregelmäßig und blanke Panik hatte sich in ihren Blick gebrannt.
Aber statt zu antworten streckte sie einem kreidebleichen Kasimir nur zittrig einen zerknüllten Zettel zu und stieß ein blankes "Von der Taube. Berlin" aus.
Wie in Trance öffnete der Aristokrat den Knäuel, dann starrte er fassungslos auf die beiden Frauen.
"Das ist von unserem Kontaktmann", brachte er hervor, seine Stimme war kaum mehr als ein raues Flüstern. "Soldaten haben Stanislaw angeschossen. Er wurde in die Charité gebracht, aber man weiß nicht, ob er... ob er..."
Die Welt schien vor Antoninas Augen in tausende Scherben zu zerspringen. Alles blinkte weiß, ihre Gedanken zerfaserten, ihr Herz schien zu stolpern... Konsterniert taumelte sie einen Schritt zurück und durch ihre Gedanken dröhnte das Lachen zweier Kinder. Kinder, die gemeinsam Papierboote in die Warthe gelassen hatten, Kinder, die gemeinsam alte Speicher erobert und Gemüsegärten geplündert hatten...
"Wieso?", entkam es ihr rau. "Was ist geschehen?"
Ahnungslos hob er die Schultern.
"Ich weiß es nicht."
Vielleicht hätten sich ihre dunklen Augen in einem anderen Moment mit Tränen gefüllt, vielleicht hätte sie Schluchzen sollen, schreien, aber stattdessen breitete sich in ihrem Inneren Totenstille aus. Und gähnende Leere, die alles verschlang. Selbst das Rattern der Druckpressen schien für diesen Moment auszusetzen.
Kraftlos sank sie auf einer Kiste zusammen, dann krallten sich ihre Finger in das Holz.
Wut schlug über ihr zusammen wie tosende Wellen in einem Sturm über einem hilflosen Boot -und genau wie zerschmetterte Planken zog es sie zum Grund der See. Zu allumfassender Dunkelheit.
Es war gleißender Zorn auf die Preußen, auf Stanislaw und die verdammte Welt.
Zorn über diese gähnende Hilflosigkeit, die sie zu ertänken drohte.
Hier saß sie nämlich, schockiert und konsterniert, während Stanislaw allein in Berlin lag, vielleicht dem Tod näher als dem Leben.
Und dann.... er wäre für seine Überzeugungen gestorben, für Polen.
Sie selbst hingegen... Sie schrieb Flugblätter und Aufforderungen, nur um es sich später wieder Zuhause bequem zu machen, allein begleitet von Sorgen um ihren Vater.
Konnte man einen Schriftsteller ernst nehmen, der seinen eigenen Worten nicht glaubte? Der sie nur benutzte wie leere Hülsen und den eigenen Aufforderungen nicht folgte?
Sie war nicht zur Tatenlosigkeit verdammt. Ganz gewiss nicht.
Sie würde dafür stehen, was sie geschrieben hatte, wofür Stanislaw sein Leben in Ungewissheit warf...
Aber wenn ihrem Vater etwas zustieß.... Nein, das würde es nicht. Sie würde all ihr Geschick und Können aufbringen, damit man sie nicht erwischte, aber in diesem historischen Moment konnte und durfte sie nicht schweigen.
Sie würde ihren Vater schützen und gleichzeitig ihr geliebtes Polen. Außerdem, wer würde eine junge Gouvernante für eine Revolutionärin halten? Eine kleine Frau wie sie?
Sie schnaubte.
Und mit einem Mal fühlte sich eine helle Zukunft zum Greifen nah.
Mit einem Mal war es nicht nur Hoffnung, sondern eine absehbare Realität.
Überall in den deutschen Teilstaaten bildeten sich Polenvereine, beim Hambacher Fest hatte neben dem Schwarz, Rot und goldenen Banner der liberalen deutschen Nationalbewegung auch die polnische Nationalflagge geflattert.
Wenn selbst dir Bürger ihrer Feinde auf ihrer Seite standen...
"Ich werde helfen, die Flugblätter zu verteilen", postulierte sie und richtete sich auf, stolz wie eine Hedwig von Anjou und genauso entschlossen. "Und dann werden wir helfen, Proteste zu organisieren. Ganz Europa erwacht gerade aus seinem Märchenschlaf, die alten Mächte sitzen in der Falle. Das ist unsere Stunden. Und wir sind es Stanislaw schuldig."
Kasimir blinzelte ihr für einen Moment verwirrt aus glasigen Augen entgegen, dann sackten seine Schultern begleitet von einem tiefen Seufzen herab.
"Ja", murmelte er leise, dann nachdrücklicher "Ja, das müssen wir als seine Freunde tun."
Doch dann biss er sich auf die Unterlippe.
"Aber sind Sie sich sicher, dass so etwas für eine junge Dame wie Sie nicht zu... riskant ist? Vielleicht sollte ich es lieber allein tun."
Antoninas verengte Augen blitzten wie rasiermesserscharfe Klingen .
"Ich werde das vertreten, was ich im Flugblatt gefordert habe. Ich bin keine Heuchlerin."
"Aber-", setzte er an, aber seine Worte wurden von einer raschend Handgeste ihrerseits zerschnitten.
"Ich habe nicht um Erlaubnis gefragt."
Der verarmte Aristokrat brachte bloß ein Nicken zustande.
Doch mochte Antonina in diesem Moment wirken wie ein triumphierender Napoleon, der sich gerade selbst zum Kaiser gekrönt oder mit unverkennbarem Geschick Russen und Österreicher in der Schlacht bei Austerlitz besiegt hatte, kaum ein Jahr davorstehend, dieselbe Vernichtung den Preußen bei Jena und Auerstedt zu bringen, so hatte sie das Gefühl, als hätte man ihr ein Dolch in die Brust gerammt.
Sie war gerade drauf und dran einen Freund zu verlieren, ihr Vater schwebte auf eine unbekannte Zukunft zu....
Es wäre das schlimmste, wenn Stanislaw niemals das Ziel seiner Bemühungen würde sehen können, wenn er nie wieder einen flapsigen Spruch riss und drauf und dran zu sein schien, das eigene Spiegelbild zu küssen.
Antonina schluckte und wischte sich zum wiederholten Mal an diesem Tag eine verräterische Träne aus den Augenwinkel, als sie apathisch den Raum verließ und die rege Druckerei durchquerte. Sie musste sich beeilen, wenn sie rechtzeitig bei den von Kopckes sein wollte.
Auf einen weiteren Tag im Löwenkäfig, dachte sie und trat ins Freie.
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