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4] Feuerland

Geschickt rutschte Ruben das Treppengeländer herunter, während er die Falten seiner Robe zurechtzupfte. Noch immer waren seine Hände von einem Zittern ergriffen, rutschten wiederholt vom glatten Stoff ab und ein Kloß verstopfte seine Kehle.

Beim Adonai, er hatte fürchterliche Angst. Furcht vor dem, was in der Außenwelt des wohliges Palais auf ihn wartete, aber gleichzeitig wusste er, dass die Zahl der Personen, die der Frau sonst helfen konnten, verschwindend gering war. Und Menschen wie sie konnte er nicht einfach in ihrer Verzweiflung ertrinken lassen.

Beschwingt von dieser Erkenntnis stapfte er über die schillernden Fliesen zur Einganstür, doch als er die Hand nach dem Griff ausstreckte, vernahm er das Rascheln von Stoff.

"Du hast dich also entschieden, ihr zu helfen." Es war mehr Feststellung als Frage der gläsernen Stimme und intuitiv wirbelte Ruben herum, nur um die vertrauten Züge seiner Mutter zu sehen. Umrahmt von zu einem dunklen Knoten zusammengeschlungenen Haar blickte sie ihn aus der geöffneten Tür zum "Roten Salon" an. Dabei blitzten ihre Augen wie die einer Katze - oder als wären sie geschliffener Turmalin.

Leicht zuckte Ruben mit Schultern.
"Du hast sie schließlich zu mir geschickt", war seine einzige Antwort. Automatisch presste er seine Ausgabe des "Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten" näher an sich, das er erst eben eingesteckt hatte. Als würde sie ihn gleich doch noch davon abhalten, das Haus auch nur zu verlassen.

Ein sanftes Lächeln, das nur Mütter besaßen, zupfte an ihren Mundwinkeln.
"Ich konnte Sie nicht einfach ohne weiteres abweisen. Sie war vollkommen aufgelöst", erklärte Esther Salzmann bloß. "Gleichzeitig konnte ich ihr nicht zusagen, immerhin bist du kein kleines Kind mehr, das keine eigenständigen Entscheidungen treffen kann."

Unsicher erwiderte er ihr Lächeln. "Das stimmt soweit schon", wandte er ein, aber Esther winkte ab.

"Mir gefällt das nicht, dich jetzt noch nach draußen zu lassen, gerade nachdem, was heute Mittag geschehen ist", gab sie zerknirscht zu, "Aber ich bin froh, dass du mutig genug bist ihr zu helfen."

Automatisch blickte er betreten auf den Verband um seine Hände. "Ich werde schon aufpassen", wiederholte er das Versprechen, das er so auch Clemens gegeben hatte. Immerhin würden preußische Soldaten doch nie auf einen klar erkennbaren Justizkommissar schießen, oder? Es würde schon nicht geschehen, daran klammerte er sich.

Das Lächeln auf dem Gesicht seiner Mutter wankte. Sorge war in ihr Gesicht geschrieben."Ich lasse Frau Sommer etwas Tee bringen, so kann ich sie kaum auf die Straße lassen. Ein paar Pflichten deines Vaters müssen auch noch erledigt werden, die fülle ich wohl auch aus, jetzt, wo er im Berliner Schloss feststeckt, wenigstens seine vernünftige Stimme kann der König jetzt gebrauchen..." Abfällig schüttelt sie den Kopf, dann trat sie vor und drückte ihn einen flüchtigen Kuss auf die Wange und er erwiderte ihre Umarmung. "Wir warten hier auf dich."

Ruben konnte sich bloß ein Nicken abringen, denn der wachsende Kloß in seinem Hals erstickte seine Stimme.
Schon seit er klein war hatte seine Mutter immer wieder kurzfristig die Leitung des Bankhauses Salzmann übernommen, hatte mit den Schuldnern korrespondiert, Ordnung gehalten und Kontakt zu den Rothschilds gewahrt. Ruben war fest davon überzeugt, dass ihre Familie ohne sie niemals so weit gekommen wäre.
Und trotzdem wurde er von ihrem Seufzen begleitet, als er aus der Tür trat. Dabei hätte er sich am liebsten wie ein kleiner Junge hinter ihren Rockschößen versteckt.

Augenblicklich schmeckte er den Rauch in der Luft und lauschte der geisterhaften Stille, die sich wie ein Leichtentuch über den Straßenzüge gelegt hatte. Ein Schauder glitt über seinen Rücken, dann zerriss ein Knallen in der Ferne die Stille, irgendwo polterten die Stiefel von Infanteristen über das Pflaster und Hufe donnerten wie Schüsse. Irgendwo dabei musste jetzt auch wieder Clemens sein.

Noch einmal atmete er tief durch, dann straffte er die Schultern und eilte los.

Schon auf den ersten Metern durch Nebel aus Schießpulver und einsamen Gassen sah er Blutflecken an den hübschen Fassaden und restlos gesprengte Barrikaden. Droschken, Ziegel, ja ganze Gemüsestände lagen über die Straßen verteilt wie die Spielzeuge eines Riesen. Und zwischen ihnen schimmerten stumpf die Überreste von Kartätsche.
Allein dieser Gedanke löste Übelkeit in Ruben aus.
Egal ob es der Kronprinz Wilhelm oder Oberbefehlshaber Karl von Prittwitz gewesen war, der so etwas erlaubt hatte, er hatte keinerlei Skrupel gegen die eigene Bevölkerung.
Durch all dies drang das schrille Schallen der Sturmglocken und in Richtung der Königstraße beim schicksalsträchtigen Schlossplatz und Alexanderplatz schien die christliche Vorstellung der Hölle zu toben- und dies ließ sich allein durch die eindrücklich Geräuschkulisse erahnen. Brechen, Splittern, Schreie und Kreischen, untermauert von Schüssen und dem Heulen von Artillerie erfüllten die Luft, lauter, je näher er der Königstraße kam.

Alles in ihm zog sich zusammen und er beschleunigte seine Schritte.
Wenn er nicht aufpasste, dann hatte er schneller eine Kugel im Kopf als er das Schma Jisrael aufsagen konnte.

Gerade wollte er in die nächste Straße einbiegen, da hörte er es.

Leises Trommeln von Füßen auf... Dachziegeln? Verwundert hob er den Blick, dann wäre ihm beinahe ein erstickter Laut entwichen .

Jugendliche, ja fast noch Schüler, balancierten in schwindelerregender Höhe auf den Schindeln, lösten Ziegeln aus den Dächern und verwandelten sie zu präzisen Wurfgeschossen, während sie damit eine Barrikade bewachten.

Dies war nicht mit der hastigen Barrikade nahe dem Schlossplatz zu vergleichen, da sich vor ihm ein regelrechter Wall über mehrere Stockwerke in die Höhe schraubte.

Bretter, Fässer, Droschken, Karren und sogar Pflasterstein hatten sich zu einer unförmigen Mauer getürmt, hinter der Menschen rege zu arbeiten schienen.

"Kiek mal da!", zerschnitt eine Knabenstimme die Luft und Ruben sah, wie jemand von den Dächern aus auf ihn deutete. Jemand hob einen Ziegel zum Wurf.

Innerlich verfluchte er diesen Moment dreifach und Blut rauschte tosend in seinen Ohren.
Dann schlug er alle Ängste in den Wind, trat etwas vor und hob zittrig die Arme-zumindest hob er einen, da er mit der anderen die preußische Kodifikation weiter an sich presste.
Eins war nämlich klar- durch das wegfallen von Droschken wegen der Barrikaden hatte er bereits genug Zeit verloren und wenn er jetzt nicht diese Barrikade schnell wie möglich überquerte, war es vielleicht schon zu spät für Herr Sommer.

"Ich bin Justizkommissar und muss hier durch, um einen politisch Verfolgten zu schützen", rief er hastig, um sich klar als Freund auszuweisen - und Clemens Schicksal zu entfliehen, der ja bereits Bekanntschaft mit fliegenden Steinen hatte schließen dürfen.

Erst dann bemerkte er den kleinen Wimpel, der tapfer auf dem höchsten Punkt der Barrikade flatterte.

Schwarz, Rot und Gold waren seine Farben.
Bereits das Lützowsche Freikorps hatte sie im Kampf gegen Napoleon getragen, doch spätestens das Hambacher Fest hatte sie zum Symbol der Hoffnung auf ein freies und geeintes Deutschland gemacht. Ein Land mit Verfassung, Gleichheit und Gemeinschaft.
Aus der Schwärze der Knechtschaft durch blutige Schlachten in das goldene Licht der Freiheit, sinnierte er innerlich, fast schon träumend, würde nicht die Barrikade vor Ruben alle seine Sinne an sie fesseln.

Etwas hinter der Barrikade knackte, er hörte Stimmengewirr, dann trat eine Gestalt in den Schatten des Koloss aus Brettern und Karren.

Erst langsam erkannte Ruben den Schemen einer Frau, die ein Gewehr trug.

Augenblicklich wich alle Farbe aus seinem Gesicht.
Sie haben ein Zeughaus geplündert oder Waffenläden , jagte es schaudernd durch seinen Kopf.
"Nu, du Blubberkopp", spuckte sie mit Berliner Freundlichkeit aus, "Watt heeßt denn politisch verfolscht bei dir? Wer biste überhaupt jenau "

"Ruben Salzmann", setzte der Justizkommissar an, während er erneut gegen den drückenden Kloß in seinem Hals kämpfte. "Mein Mandant wurde als Barrikadenkämpfer verhaftet. Noch heute. Man hat ihn ins Einzellengefängnis in Moabit gebracht."

Wortlos hob die Frau die dunklen Brauen, dann fluchte sie unflätig über den König und schüttelte aufgebracht den Kopf, dass die Strähnen nur so wippten, die sich bereits aus ihrem Haarknoten gelöst hatten.

Rasch zeigte sie auf die Barrikade, nur um zu knurren: "Kommen Se', wenn Sie nach Moabit wollen!"

Keine Sekunde später schnalzte sie mit der Zunge und strebte unverwandt auf eine der gestapelt Kisten zu, zog sich daran hob und stemmte sich gegen einen verrotteten Kremser.
Knarzend öffnete sich ein winziger Schlund ins Innere der Barrikade.

Ruben blieb nicht einmal Zeit, perplex zu blinzeln. Stattdessen folgte er ihr nur mechanisch, packte nach dem rauen Holz und klemmte sein Gesetzbuch unter einen Arm, während Schmerztränen heiß in seine Augen schossen. Doch trotz dem glühenden Schmerz in seinen wild pochenden und geschundenen Händen zerrte er sich mit zusammengebissenen Zähnen hoch und drückte sich durch den schmalen Pfad hindurch.
Sofort schlug ihm ein muffiger Gestank nach Kohl und Schweiß entgegen, dann das Klirren von Gläsern und ausgelassenes Lachen.

Als Ruben schließlich in einem engen Saal ankam, musste er verwundert feststellen, dass die Bewaffnung der Aufständischen kläglicher war als angenommen. Holzäxte, Mistgabeln und Latten waren neben weniger als einer handvoll Gewehre die einzige nennenswerte Waffe. Der einzige Schutz waren die Jugendlichen auf den Dächern und die steilen Barrikaden.

Irgendwo spielte jemand Mundharmonika. Die schiefen Töne schwebten durch den Hohlraum, draußen warf ein knisterndes Feuer warmes Licht in die eingefallenen Gesichter, während eine alte Dame Handwerkern in zerschlissener Kleidung und bewaffnet mit Hämmern, Planken und einer uralten Muskete einen Topf mit Suppe sowie einen duftenden Laib Brot reichte.

"Hier", die Frau mit dem Gewehr und dem seidenschwarzen Haar stupste in an. "Ne Schrippe. Se sehn' ja schon so weeß aus wie en' frisches Bettlaken." Mit diesem Worten drückte sie dem verwunderten jungen Mann ein hartes Brötchen in die Hand, nur um ihm kameradschaftlich auf die Schulter zu schlagen. Erst jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Sie war die Weberin vom Schlossplatz!
"Nu gehn' Se zu ihrem-", begann die Weberin zu poltern, da schrillten Warnrufe über den Platz. Die wohlige Stimmung zerplatzte, Menschen sprangen auf, Musketen wurden entsichert, Füße trafen wieder auf Dachziegel.

Dann schälte sich das Wiehern von Kavalleristen, das Stapfen der Infanterie und das Rumpeln von schweren Geschützen aus der chaotischen Geräuschkulisse.

"Verschwinden Sie", zischte die Frau, schob ihr Gewehr in eine Lücke zwischen zwei Fässern und zielte auf die Straße vor sich.
Im nächsten Augenblick schmetterten die ersten Ziegel auf Straßen.

Ein letztes Mal blickte Ruben auf die tapferen Männer und Frauen zurück, dann wanderten seine Gedanken zu dem hilflosen, eingesperrten Herr Sommer und mit einem Stoßgebet an den HaSchem auf den Lippen sprintete er los. Immer schneller trafen seine Füße auf Pflaster, schwungvoll setzte er sich über Sandsäcke hinweg, bis er regelrecht über die Straße zu fliegen schien. Und trotzdem war jeder Meter zäh, jede Sekunde zu kurz.
Nicht schnell genug, pochte eine Stimme in seinem Kopf, untermalt von grausigen Klang von Schüssen und Schreien.

Zweifelsfrei mussten die Soldaten in diesem Moment die umstehenden Häuser stürmen, um dem Regen aus Steinen zu entweichen und die Schützen auf den Dächern auszuschalten. Anders war das Scheppern von Porzellan, Glas und das heulende Geschrei nicht zu deuten.

Aber irgendwann verstummte auch das.
Der Nebel aus Schießpulver lichtete sich und der Vollmond übergoss die Leere der Stadt mit einem silbrigen Schimmer.
Keuchend und hustend stolperte Ruben, hielt an und stützte die Arme auf den Schenkeln ab.

Wie hatte sich ein freundlicher und sonniger Mittag in so ein Gemetzel verwandeln können? Wenn er ehrlich war, kannte er die bittere Antwort.
Die konservative Kamarilla um den König und die Angst vor Veränderung.

Aber als er erneut seinen Blick hob, sah er zwei Männer, die in der Dunkelheit der Nacht ein leuchtend weißes Banner durch die Straßen trugen.
In großen Lettern prangte auf diesem Ein Missverständnis! Der König will das Beste.

Wäre die Situation nicht so grässlich, Ruben hätte gelacht. In diesem Moment aber waren seine Augen eher dazu geneigt, sich mit Tränen zu füllen.

Er wusste, dass sein Vater viel vom König hielt, Ruben war auch nicht der Meinung, dass Friedrich Wilhelm IV. zwangsläufig ein schlechter Mensch war, nur war ein vornehmer, schöngeistiger und weltfremder Charakter, wie er ihn besaß, anscheinend eine katastrophale Mischung für einen Regenten in ihrer Zeit, die nach Aufbruch förmlich  schrie. Außerdem konnte es nicht gerecht, dass eine Person, die so fest vom Gottesgnadentum überzeugt war, so viel Macht besaß. Der ganze Staat lag immerhin in seiner Hand, jede Entscheidung von seinem Willen abhängig. Und das die Zeiten von Friedrich dem Großen, der sich als erster Diener des Staates sah, vorbei waren, war klar. Wenigstens eine konstitutionelle Monarchie wie in Großbritannien wäre angemessen für einen Staat in ihrer Zeit, der geistig so weit war, dessen Politik aber manchmal noch im finstersten Mittelalter hing.

Aber vielleicht konnte er selbst daran etwas ändern. Und sei es auch nur, indem er einen politisch Verfolgten verteidigte.

Beflügelt von dieser Feststellung und mit brennenden Muskeln setzte er seinen Weg durch die klare Nachtluft fort.

In den letzten Jahren war ein Gebiet nahe Moabit nur noch unter dem Namen Feuerland bekannt, denn es hatte sich zu einem Brennpunkt der Industrialisierung gewandelt.
Dutzende Schlote ragten wie krumme Finger in den geschwärzten  Himmel, Häuser standen dicht an dicht, die hellen Wände dunkel gefärbt durch Ruß, der schwer wie Teer in der Luft hing.
Doch als Ruben sich durch die engen Gassen schlängelt, schmeckte er den beißenden Geschmack von Rauch auf der Zunge.

Die Königlich Preußische Eisengießerei brannte lichterloh.

Orangene Flammen leckten wie glühende Zungen am Himmel, tasteten sich über die Schwärze und warfen einen flackernden Schein über das Viertel.

Je weiter Ruben ging, desto wärmer prickelte die Strahlung der Flammen auf seinen Wangen.

Irgendwann lichtete sich jedoch der Regen aus Ascheflocken und schäbigen Fabrikgelände, um Ruben in die Lehrter Straße zu stoßen.

Das Zellengefängnis war stolz von ihrem König als Mustergefängnis betitelt worden, als den Beginn einer Gefängnisreform hin zu mehr Kontrolle und Humanität gegenüber den engen, von zahllosen Leibern gefüllten Löchern, die eher Verliesen glichen. Andere hingegen kritisierten die Einzelhaft als Isolation. Selbst einer Rubens Lieblingsschriftsteller, Charles Dickens, hatte sie vor wenigen Jahren erst zur Weißen Folter erklärt.

Die Anlage, die sich nun vor ihm erstreckte, glich  beinahe auf den Stein genau dem Pentonville- Gefängnis in Großbritannien.

Hinter dicken Mauern beherrschten fünf wie ein Stern angeordnete Flügel den Ort. In einigen der dutzenden Fenster  spiegelte sich noch der glühende Schein der Flammen.

Unruhig  zog er sich die Robe zurecht, während er auf das Haupttor zuschritt. Augenblicklich wurde er von einem untersetzten, grimmig dreinblickenden Wärter gestoppt.

"Wer sind Sie und was wollen Sie hier?", grollte er missmutig und blickte ihm aus tiefliegenden Augen entgegen. Sie besaßen den trüben Farbton von Nebel.

"Ruben Salzmann. Justizkommissar", antwortete er routiniert, "Einer meiner Mandanten soll hier festgehalten werden. Sein Name ist Sommer."

Irgendwo übertönte der Glockenschlag zur Mitternacht das schrille Heulen der Sturmglocken.

Der Wärter grunzte. "Irgendwoher kenn' ich Sie doch", murmelte er bloß, dann leuchtete Erkenntnis über sein faltiges Gesicht. "Sie waren da, bei dem Polenprozess, stimmt's?"

Ruben nickte, doch da verzogen sich schon die Züge des Wärters abfällig und seine Nasenflügel blähten sich angewidert. "Sie sind doch der Jud",  wetterte er. "Wusste gar nicht, dass man jetzt schon als Advokat einen Reibach machen kann. Aber ihr findet ja immer einen Weg zum Mauscheln!"

Entrüstet schnappte Ruben nach Luft, doch während der Wärter sich umwandte und durch das Tor stapfte, schluckte er den brodelnden Zorn hinunter. Wenn er sich jetzt stritt, vielleicht vom Tor abgewiesen wurde... Herr Sommer würde dafür zahlen müssen und wen außer ihn selbst interessierte es in der gesamten Justiz, ob jemand aufgrund seines mosaischen Glaubens mehr als nur despektierlich behandelt wurde? Die Erkenntnis drückte schwer auf seiner Brust.

Stattdessen ballte er seine freie Hand unter dem langen Seidenärmel zu einer zitternden Faust.

Als der Wärter ihn ins Innere der einer Festung gleichenden Anstalt lotste, war klar zu erkennen, dass dieser Ort noch vor seiner Fertigstellung stand, denn während sie den Innenhof überquerten, ragten ein paar der fünf Flügel noch wie Gerippe aus Stein aus dem Boden und Wind pfiff durch die offenen Gemäuer.

"Wieso wollen Sie überhaupt diesen Radikalinski vertreten?", unterbrach sein Begleiter und öffnete knarzend eine Tür ins Innere eines bereits vollendeten und vollständig  verputzten Teil.

"Weil jeder vor dem preußischen Gesetz ein Recht darauf hat und gleich ist", entgegnete er bloß, wieder blind im Idealismus versinkend.

Ruben erntete bloß ein Schnauben, dann traten sie in einen Korridor aus nackten Wänden und das Knirschen ihrer Füße auf  Kies wurde von geisterhaften Hallen abgelöst.

Augenblicklich fröstelte es Ruben.

Zwar war er schon letztes Jahr während dem Polenprozess hier gewesen, doch hatte er da nur das Kirchengebäude betreten, das während dieser Zeit als Gerichtssaal gedient hatte.

Nun war er in diesem leblosen Gang, wo sich eine schwere Stahltür neben die andere reihte.

Doch dann stoppten sie vor einer der nahezu identischen Türen und der Wärter rammte unverwandt einen Schlüssel in die Tür.
Dann zuckte ein Klicken durch die abgestandene Luft.

"Der  Sommer hätte eigentlich im anderen Trakt untergebracht werden sollen", berichtete sein Gegenüber beiläufig, während er die knarzende Tür  aufzog. "Aber der war noch nicht fertig. Naja, wenigstens sollen noch heute zwei Polacken kommen, die beim Weiterbau helfen."
Aber Ruben hörte ihm schon nicht mehr zu, stattdessen stoppte sein Herz einen Schlag lang, als er den am Boden kauernden Sommer im hintersten Winkel seiner Zelle erblickte.
Die Luft war schwer durch  den metallischen Blutgestank.
"Herr Sommer", entwich es ihm und er stürzte regelrecht in die Zelle. 

Die Herkunft des Blutes war leicht auszumachen, den der Ärmel seines Hemdes hatte sich rubinrot gefärbt. Reflexartig riss er sich die Halsbinde vom Vatermörderkragen und erinnerte sich an die Worte, die seine Schwester Ruth einmal in der Fachlektüre ihres Verlobten, dem Medizinprofessor an der Charité Dr. med. Franz Immerglück, gelesen hatte.

Da Ruben aber kaum mit dem schwarzen Seidentuch eine Wunde verbinden konnte, band er den Arm  einfach oberhalb der Wunde ab, um den Blutverlust zu minimieren.

Sicherlich konnte der Gefängnisarzt während der Wirren der Kämpfe nicht kommen... Aber das war jetzt egal, er brauchte Wasser, um Sommer vor dem Dehydrieren zu bewahren und musste reden. Ruth hatte gemeint, das würde helfen den Patient bei Bewusstsein zu halten. G-tt, er war doch Advokat, kein Arzt!

"Ihre Gattin hat mich geschickt", erklärte er also, während er das dunkle Band wie ein Tourniquet um sein Arm zog.  "Eigentlich sollte ich als Justizkommissar hier eingesetzt sein, aber ich glaube kaum, dass Ihr Zustand momentan eine Besprechung Ihrer gerichtlichen Verteidigung zulässt..." Zweifelnd zuckte er mit den Schultern, aber seine Aussage wurde von dem Verletzten nur mit etwas quittiert, das fast wie zustimmendes Gemurmel klang.

Rubens Blick tastete durch den kleinen Raum, bis sie einen Krug mit Wasser fanden. Schnell schlossen sich seine Finger um diesen, damit er den Inhalt Sommer einflößen konnte, da gingen ihm die Gesprächsthemen aus, also begann er, zusammenhangslos zu erzählen, da er den armen Mann nicht mit Zitatenten von Heinrich Heine, Moses Mendelssohn, Emily Brontë und Charles Dickens quälen wollte.

"Wissen Sie", begann er aufgesetzt munter, "Meine jüngere Schwester Ruth heiratet diesen Sommer ihren Verlobten, einen Arzt und Honorarprofessor an der Charité für Chirurgie und Anatomie. Medizinische Fakultät. Aber das erst seit kurzem, denn Juden wurde es ja erst  durch das preußische Judengesetz von  1847 erlaubt, ordentliche Professuren wie Medizin, Mathematik oder Sprachwissenschaften zu erhalten. Außerdem habe ich noch meinen besten Freund, der wahrscheinlich nicht vollständig unbeteiligt an Ihrer jetzigen Situation ist..." Verlegen biss sich Ruben auf die Unterlippe, bevor er beteuerte: "Aber dieser hat es sicherlich nicht so gemeint... obwohl, wahrscheinlich schon. Sehr wahrscheinlich sogar. Doch er ist wirklich ein guter Mensch, zumindest tief im Inneren. Davon bin ich überzeugt. Immerhin hat er es mir überhaupt erst möglich gemacht-"

"Sie sind doch der Salzmann, nicht wahr?", polterte plötzlich  eine raue Stimme gemeinsam mit einem fremden Mann in den Raum. Perplex fuhr Ruebens Blick hoch, nur um eine Person mit aufgedunsenem Gesicht, fleckiger Weste und zerschlissener Hose im trüben Zwielicht der Zelle zu erkennen. Sein Gehrock hingegen war kaum mehr als solcher erkennbar, sondern ein Meer aus Flicken und bunten Stoffetzen. An einem seiner Ärmel war groß eine polizeiliche Konzessionsnummer aufestickt.

"Ja," bestätigte Ruben verwirrt, während er noch immer die Wunde unterhalb des improvisierten Tourniquets abdrückte. Als Ruben während seines Studiums in Göttingen mehrere Tage in einem Karzer hatte zubringen müssen, hatten sich die skurrilsten Szenen vor seinen Augen abgespielt - aber niemals so etwas.

Sein Gegenüber nickte, dann entgegnete er salopp: "Eckensteher  Franz Ohse mein Name. Ihr Vater hat mich zu Ihnen geschickt. Wissen Se, wie schwer so jemand wie Sie zu finden ist? Eigentlich sind Se mir ja jetzt eene Butterstulle schuldig, aber icke bin ma jetzt nicht so, immerhin ist Ihr Herr Papa bei den Eckenstehern sehr großzügig im Honorar."

"Schon gut. Das ist ja wirklich nett von ihm", beschwichtigte Ruben den , der das Gefühl hatte, dass der Dienstmann das primäre Thema hier eigentlich verfehlte, "Aber wieso denn jetzt, Herr Ohse? Was möchte er von mir?"

Augenblicklich erinnerte er sich in dieser elendigen Situation daran, was Johann Wolfgang von Goethe einmal in einem Brief an Johann Peter Eckermann über Berlin geschrieben hatte.

Es lebt aber, wie ich an allem merke, dort ein so verwegner Menschenschlag beisammen, daß man mit der Delikatesse nicht weit reicht, sondern daß man Haare auf den Zähnen haben und mitunter etwas grob sein muß, um sich über Wasser zu halten

Als wolle er das Zitat bestätigen, scharrte der Dienstmann etwas im Staub der Zelle, zuckte mit den Schultern und erwidere unbeeindruckt: "Der hat verlangt, dass Sie zu ihm ins Berliner Schloss kommen. Zur Majestät selbst."

Beinahe wären Ruben alle Züge entglitten und für einen Moment konnte er Ohse nur entgeistert anstarren, bis er ein wackeliges Nicken zustande brachte.

Schwankend stand er auf, angelte zwei Silbergroschen aus der Brieftasche und reichte sie dem Dienstmann. Während der ihn verdutzt anblickte, erklärte Ruben rasch: "Würden Sie bitte nach dem an der Charité lehrenden Herr Professor Franz Immerglück fragen? Er wohnt neben dem Zoologischen Garten. Teltower Straße 11. Sagen Sie ihm, dass er hierher kommen soll, falls es ihm relativ ungefährlich möglich ist, um Herr Sommer medizinisch zu versorgen."

Wenn Franz dies tatsächlich täte, wäre Ruben ihm und seinem goldenen Herz mehr schuldig als blankes Geld... Doch in diesem Moment wäre er selbst gerne hier geblieben, in dieser dunklen engen Zelle, aber stattdessen stand er nun wie betäubt der Aussicht gegenüber, direkt in das Maul der Bestie zu schreiten. Aber wieso? Was konnte man von ihm wollen? Von einem Justizkommissar, den man nun in die erlauchte Gesellschaft des Hofes warf? Dies war das Zuhause von Clemens, zumindest neben Garnison und Exerzierplatz. Hier und im Gerichtssaal hingegen war sein Platz, wo er helfen könnte, vielleicht sogar etwas bewirken, nicht inmitten der klebrigen Fäden  einer Kamarilla, die ihm niemals auch nur ernsthaft zuhören würde.

Er war in der Hoffnung  gekommen zu helfen und würde nun erst an dem Ort stranden, an dem all das Unheil losgebrochen war.

Und doch, flüsterte eine Stimme in ihm, wäre das die einzige Gelegenheit für ihn, den liberalen Berlinern vor dem König Gehör zu verschaffen.

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