1] Funkenflug
Die Wärme des März schien Ruben trügerisch, als er sich vorsichtig aus der Haustür schob und über die Straße spähte.
Ein zarter blauer Himmel übergoss die Straßenschluchten der preußische Hauptstadt mit sanftem Licht, doch die Gasse war vollkommen leer. Fast schien sogar Lautlosigkeit Berlin erobert zu haben.
Dabei war dies fast schon der bessere Teil des Scheunenviertels, wo keine Schlafgänger zu arm für die winzigste eigene Kammer waren, kein Tagelöhner an Mauern kauerten und keine ganze Familien in dunklen Stuben hockten, um sich stundenlang die Finger blutig mit der Herstellung von Zigaretten zu arbeiten.
Stattdessen ballte sich nun unsichtbare Spannung über den Zinnen und Dächern der Stadt zusammen, obwohl die Straßen wie leergefegt dalagen. Als wäre die Stadt bereits tot.
Aber Rubens Erfahrungen in Lesezirkeln und Teilnahme der Versammlung im Gaststättenkomplex In den Zelten im Berliner Tiergarten, die am 6. März an den König eine Bittschrift gerichtet hatte, die Pressefreiheit, einen Landtag und weitere bürgerliche Freiheiten forderte, ließ ihn wissen, wo die pulsierenden Menschenmengen waren . Bei Demonstrationen, die diese gesamte, verelendete Stadt in ihren Fieberwahn gerissen hatte- sei es vor dem Kronprinzenpalais oder in der Prachtstraße Unter den Linden. Aber heute war ein besonderes Ziel auserkoren worden. Nämlich das Berliner Schloss, die direkte Residenz von Friedrich Wilhelm dem Vierten.
Automatisch pulsierte Hitze durch seine Glieder und vertrieb das klamme Gefühl in ihm, als er an der Spree vorbeihastete. In ihren trägen Gewässern spiegelte sich lediglich seine eigene schmale Gestalt, die Schemen einer vorbeieilenden Frau in notdürftig geflicktem Kleid, deren Gesicht unter einer Schute verschwand und das unverkennbare Glänzen von Pickelhauben patrouillierender Soldaten und Gendarmen.
Es gab kaum einen Ort in der Stadt, wo Uniformen nicht das Straßenbild bestimmten.
Er seufzte, dabei pochte sein Herz wild in seiner Brust.
Beinahe war es ein Gefühl der Süße, ein Gefühl von Hoffnung, das ihn packte - und gleichzeitig betäubende Resignation.
Es war eine Veranstaltung, an der er kaum teilnahmen sollte, nicht teilnehmen durfte... Sein Vater, spätestens seit seinem Kampf in den Befreiungskriegen königstreu und als Hoffaktor und somit Paria der Hofgesellschaft ohnehin in ständiger Furcht, würde einen Herzanfall bekommen.
Sein Freund aus Ostelbien hingegen, Clemens Freiherr von Hohenschönen, würde ihn wohl einfach direkt umbringen. Mindestens.
Vielleicht würde er ihn auch zwingen, Goethes "Die Leiden des jungen Werther" zu lesen. Das war definitiv grausamer als ein blutiger Tod, der ihn direkt in das schlammige Wasser der Spree beförderte.
Dabei sollte diese Versammlung kein militante Aufbegehren werden, keine Forderungen nach Blut, Rache und Absetzung, keine geifernden Parolen, wie sie die Jakobiner während der französischen Revolution skandierten, auch würde man ihn nicht vom Thron jagen, wie es die Franzosen im letzten Monat mit Louis-Phillipe getan hatten, der zuerst als Bürgerkönig die Herzen der Bürger erobert hatte- sondern es wäre ein Dank an niemand geringeren als den Monarchen selbst.
Denn heute morgen, an diesem träumerischen 18. März, hatte er in einem Schreiben Pressefreiheit und einen preußischen Landtag versprochen.
Wenn sich jetzt Menschen versammelten, zeigten, dass sie ihn bei solchen Versprechungen unterstützen, dass sie ihn unter diesen Umständen als Monarch billigten, und sich niemand aufführen würde wie die Henker von Marie Antoinette und Ludwig XVI. in Frankreich - es könnte eine friedliche Revolution werden, niemand in Preußen würde mehr sterben müssen.
Ein Teil von Ruben wusste, was für ein kindischer Traum das war, aber gleichzeitig konnte er nicht unmöglich sein. Eventuell bestand heute Hoffnung auf dem Berliner Schlossplatz - nur ohne ihn.
Dann schlich sich ein Gedanke mit einer gehörigen Priese Chuzpe in seinen Kopf und nistete sich dort ein.
Am Schlossplatz war auch das Stadtpalais der Hohenschönen gelegen. Wollte er nicht schon seit langer Zeit seinen alten Freund Clemens besuchen? Gerade, da sie kaum Zeit hatten sollte er die Gelegenheit nutzen. Er, der Justizkommissar, der als Jude doppelt so hart arbeiten musste, um sich zu beweisen - und Clemens von Hohenschönen, der Offizier.
Und wenn Ruben dann rein zufällig in die Demonstration geriet, kompromittierte er seinen Vater nicht vor dem preußischen Hof. Immerhin wäre er dann einfach in etwas hineingeraten, aus heiterem Himmel auf diesen Aufmarsch gestoßen, obwohl er eigentlich seinen tadellosen Freund besuchen wollte... Doch gleichzeitig ließ diese Überlegung ein mulmiges Gefühl zurück. Fast schon fühlte er sich schäbig, die Freundschaft zu Clemens als Illusion für dieses Spiel zu nutzen... aber es war keine Lüge. Immerhin wollte er seinen Freund wirklich sehen. Nur vielleicht ein wenig später, nach der Versammlung.
Besonders, da die Märzforderungen der Mannheimer Volksversammlung verdächtig verlockend nach Religionsfreiheit klangen.
Er wollte seine Schritte gerade beschleunigen, da zersprangen seine Gedanken unter einem leutseligen: "Schabbat Schalom, Herr Salzmann!"
Blinzelnd wandte er sich um und entdeckte zwischen einem Gemäuer und Pilaster das vertraute Gesicht von Salomon Rabinowitsch. Fröhlich blitzten ihm dessen grünes Augenpaar zwischen bereits silbern schimmernden Schläfenlocken entgegen.
Der Anblick war von genau drei Erkenntnissen geprägt.
Erstens: Heute war Samstag. Die darauf folgende Konsequenz war, dass heute Sabbat war.
Zweitens hatte er in all dem Trubel des März gestern definitiv vergessen, den Kiddusch zu sprechen.
Und schlussendlich : vielleicht konnte er es heute schaffen, dem nicht nur äußerlich chassidischen Salomon ein Stück Babka oder gleich das gesamte Rezept für diese zweifelsfrei himmlische Speise zu entlocken.
Gerade wollte Ruben die Begrüßung erwidern, da fiel ihm der Schneider schon ins Wort.
"Was treibt Sie denn an so einem schönen Tag hierher? Hier ist ja definitiv was los, seit die Franzosen ihren Louis-Phillipe vom Thron gejagt haben und der Schmock Metternich aus Wien geflohen ist." Der Mann stieß ein heiseres Lachen aus. "Wäre ich noch im Zarenreich, hätte ich mich bei solchen Bedingungen nicht herausgewagt. Die Kosaken sind da sehr schnell mit ihren Waffen."
"Ich besuche einen Freund", berichtete Ruben lediglich und zuckte leicht mit den Schultern. Dann lächelte er leicht. "Sie haben aber nicht zufällig noch Babka-"
Erneut wurde er durch ein belustigtes Kopfschütteln und die durch viele Jahre bereits aufgeraute Stimme unterbrochen.
"Morgen, junger Mann, morgen", versprach er ihm zwinkernd. "Dabei ist es fast schon abstrus. An Zimt für Babka gelange ich problemlos - immerhin machen die Briten ja keinen Hehl daraus, wie sehr sie ihre Kolonien ausbeuten. Aber an Kartoffeln oder Weizen? Die Preise müssen sich seit 45' verdreifacht haben."
Langsam nickte der Justizkommissar. Seine Haushälterin hatte es nur mit einer gehörigen Portion Bauernschläue und fragwürdiger Kontakte geschafft, auch nur die nötigsten Lebensmittel zu erwerben, ohne dabei sein gesamtes Honorar zu verschleudern- dabei verdiente er sogar als Justizkommissar mehr als eine proletarisch angehauchte Familie.
"Kommen Sie überhaupt noch an Stoff für Ihr Geschäft?", erkundigte er sich zögernd. "Was vor ein paar Jahren bei den Webern in Schlesien geschah... Und jetzt in Krefeld... Die Existenzgrundlage hunderter Weber ist einfach wie ausgelöscht."
Der Blick seines Gegenübers trübte sich für den Bruchteil eines Moments, aber das Lächeln hielt sich tapfer unter dem von einem Spodik gekröntem Haupt.
"Kaum haben wir Schabbat und Sie fragen mich über meiner Arbeit aus. Mein junger Freund, das kratzt gefährlich an einem Sakrileg." Augenblicklich warf Salomon den Kopf in den Nacken und lachte schallend.
"Wir leben aber in bewegten Zeiten. Dabei ist Tradition immer ein guter und sicherer Anker. Und wenn man sich anhört, zu welchen Ausschreitungen gegen Juden es unter anderem im Großherzogtum Baden gekommen ist... Das ist doch eine Wiederholung der Hep-Hep-Unruhen, keine aufgeklärte Revolution."
Ruben musste nicht erst das leichte Wippen der bereits silbrig schimmernden Schläfenlocken durch Kopfschütteln des anderen sehen, um die bittere Enttäuschung und Rastlosigleit in seiner Stimme zu bemerken - denn ähnliche Gefühle breiteten sich wie Tinte in Wasser in seiner eigenen Brust aus.
"Trotzdem", widersprach der Jüngere mit den dunklen Haaren fast trotzig, wissend, wie stark sein Idealismus war - aber eventuell war es auch berechtigte Hoffnung. Jedoch musste er innerlich gestehen, dass nicht alles, was der Ältere andeutet, vollkommen falsch war. Sie waren in einer prekären Situation gefangen. "In den Märzforderungen wurde religiöse Gleichstellung gefordert, genauso wie in vielen weiteren Texten und Traktaten der Liberalen. Bei der Verfassung einiger war ich sogar dabei. Vielleicht erfüllt diese Zeit auch das, was mir durch die Haskala beigebracht wurde."
Salomon schürzte die Lippen, murmelte etwas von typischen Reformjudentum und Naivität der Jugend, dann zupfte wieder ein leutseliges Schmunzeln an seinen Lippen.
Beherzt klopfte er dem Justizkommissar auf die Schultern, dann zwinkerte er ihm zu. "Mazel Tov dir und deinen Idealen. Du wirst es brauchen. Aber wenn du morgen kommst... eventuell gibt es dann Babka und neuen Stoff. Ich weiß nicht, wie mein Verleger an sie gelangt, aber noch sind nicht alle Webstühle hier verloren. Außerdem unterstütze ich lieber die Leute hier, als an so einem Schmutzgeschäft wie dem in den Kolonien einzusteigen."
Intuitiv erwiderte der dunkelhaarige Justizkommissar das Lächeln. Bei ihm und Salomon knallten unweigerlich zwei Lebensrealitäten, Meinungen und kontrastierende Religionsvorstellungen aufeinander, aber der Schneider besaß Ideale. Ideale und eine Moral, die ihm manchmal nicht nur ins ökonomische Defizit brachten, sondern auch Rubens Bewunderung hervorriefen.
Die Männer verabschiedeten sich mit raschen Gesten und Worten, aber als Ruben gerade in eine Droschke am Straßenrand stieg, hörte er hinter sich einen Schwall ineindergeschlungene jiddische Worte, die dem Schneider vom Wind aus dem Mund gerissen wurden.
Noch einmal wollte er sich zu dem Mann umdrehen, aber da setzte sich schon das schwerfällige Gefährt in Bewegung und jedes Geräusch der Stadt wurde von dem Knallen der Hufe auf Kopfsteinpflaster verschluckt.
Der Mann vor der hoch in die Höhe ragenden Häuserfront schmolz mit jeder weiteren Sekunde zu einem kleinen dunklen Punkt zusammen, bis er sich kaum mehr von den kühlen Schatten der engen Gasse abhob.
Ruben seufzte leicht, richtete seinen Gehrock und klopfte den nicht vorhandenen Staub von dem tiefen Blau des Stoffs.
Und als er aus dem schmalen Fenster blickte und beobachtete, wie schiefe Gemäuer von breiten Straßen und edlen Häusern abgelöst wurden, überfiel ihn eine Mischung aus Rastlosigleit und Aufregung.
Dabei erinnerte ihn der Anblick beinahe an das Haus seines Vaters, das "Palais Salzmann".
Im nächsten Moment stoppte die Droschke schlagartig. Irgendwo scharrte ein Pferd mit den Hufen.
Ruben straffte die Schultern, gab dem Kutscher ein paar Pfennig mehr als notwendig und schien direkt in einen Sturm zu treten.
Hier, hinter einer mondänen Fassade und Zierbäumen sah er die Menschen noch nicht, aber gleichzeitig hätte niemand ihre Existenz leugnen können.
Die Luft flirrte von dem Klang aus tausenden Kehlen, Kleider raschelten und kein klarer Laut schien sich aus der peitschenden Brandung aus Klängen schälen zu wollen.
Rubens Herz pochte wild. Fast taub setzten sich seine Schritte vor den anderen.
Nur, damit er in den tintenschwarzen Schatten des kolossalen Schlosses trat, das von der Spree umflossen wie eine Insel über den Straßenschluchten und Kanälen thronte.
Zweifelsfrei war das königliche Schloss ein eindrucksvolles Meisterwerk des klassizistischen Barocks und der Höhepunkt Andreas Schlüters architektonischer Genialität, aber seine Flügel und Kuppeln verblassten im Angesicht der wogenden Menschenmassen, die sich auf dem Schlossplatz zusammengeschlossen hatten.
Wahrscheinlich waren es hier nicht Hunderte, sondern ganze tausende Menschen!
Es war vollkommen entzückend.
Dabei war es frenetischer, ja fast trunkener Jubel, der die Luft verklebte und über den Platz donnerte. Beinahe schien der Boden zu erzittern.
Der Grund dafür war nicht leicht zu übersehen. Allein abgehackte Wortfetzen in der bebenden Luft reichten aus.
"Hast du gehört, was der von Bodelschwingh vorgetragen hat? Es ist wahr, wirklich wahr! Es lebe die Freiheit!", jubelte eine junge Frau und griff nach der Hand ihres anscheinenden Liebhabers. Dieser lachte nur befreit und schüttelte leicht den Kopf. "Nein, dafür war ich zu weit weg. Aber ich habe neben ihm auf den Balkon den König höchstselbst gesehen! Und sie haben eine Ausgabe der Allgemeinen preußischen Zeitung verteilt. Wir bekommen wirklich eine deutsche Volksvertretung! Keine Kleinstaaterei mehr! Und Pressefreiheit! Ich kann es kaum -"
Seine nächsten Worte gingen in den tosenden Ovationen und zahllosen Stimmen unter, als Ruben durch Lücken und ausladende Röcke schlüpfte, um näher nach vorne und näher an die Fassade des Schlosses zu gelangen. Dabei schien sein ganzes innerstes in einer ekstatischen Wolke aus Glück zu schweben. In der ferne hörte er Glockengeläut.
Wie viel Uhr mussten es sein? Ungefähr halb drei, am 18. März des Jahres 1848? Zumindest der Stand der Sonne ließ auf einen frischen Nachmittag schließen. Das Anbrechen einer neuen Tageszeit, genauso wie das Anbrechen dieser neuen, besseren und gerechteren Welt, die hier vor dem Berliner Schloss begann. Er ertrank förmlich in der Aufgeschlossenheit des Moments, dann zerbrach die Hoffnung in ihm mit einem lauten Knacken - oder eher mit dem dumpfen Schimmer von Pickelhauben im Schatten des Schlosses.
In diesem Moment war der Idealismus wie weggewischt, denn er wusste, was vor wenigen Tagen unter den ausladenden Gemäuern des Kronprinzenpalais geschehen war. Heftige Zusammenstöße zwischen Militär und Demonstranten entstanden schlagartig und am Ende waren zwei leblose Körper zurückgeblieben.
Und es war genau das, was sich hier wiederholen könnte. Lediglich in ganz anderen Maßstäben, die die Straßen rot färben würden.
Hier, auf dem Schlossplatz, begraben unter der Gewalt der Gebäude, exponiert wie auf dem Silbertablett und Körper an Körper gedrängt, waren sie fast wie ein Schlachtvieh im Käfig.
In diesem Moment stürzten drei Möglichkeiten auf ihn ein, auf die Soldaten zu reagieren. Überstürzte Flucht, die alle Hoffnungen verbrannte und die ihm gequetscht zwischen hunderte rastloser Leiber kaum gelingen würde, offene Konfrontation mit der berüchtigten preußischen Armee, die sie zu überaus toten Märtyrern machen würde. Die dritte war das Gespräch - was über die gestreckten Bajonette der Staatsdienst kaum möglich war.
Stattdessen war es eine einzige Phrase, die laut aus seiner Kehle sprudelte: "Militär zurück!"
Vielleicht griff man neben ihm die Aufforderung auf, vielleicht zuckten auch nur gerade die selben verheerenden Gedanken durch die Menge, denn der Spruch spülte wie eine Welle bei Sturm über den Platz.
Die Stimmung war schlagartig umgeschlagen.
Verschluckt war die Brise des Frühlings, stattdessen ballte sich blanke Anspannung über ihren Köpfen und verwob sich mit bitterer und lauter Empörung in der Luft.
Doch trotzdem pochte eine einzige Frage durch Rubens Kopf:" Warum? Warum jetzt?" Reichte man ihnen erst die Hand, um ihnen schlussendlich doch ein Messer in den Rücken zu stoßen?
Er bekam keine Antwort darauf, nur ein abfälliges Schnauben.
"Verräterkönig!" Es war die heisere Stimme einer Frau, die die Luft zerschnitt. "Gebt Freiheit! Gebt Essen! Gebt Arbeit! Gebt bessere Löhne! Nieder mit den Menschen, die vor vier Jahren in Schlesien auf uns haben schießen lassen! Nieder mit dem Absolutismus der Hohenzollern!"
Automatisch wandte er sich bei diesen Worten herum.
Dort, etwas abseits, zwischen der skandierenden Menge, erblickte er eine Gruppe abgewetzter Gestalten in zerschlissener Kleidung. Zweifelsfrei Handwerker, Arbeiter und weitere der unzähligen Opfer von Urbanisierung und wirtschaftlicher Depression. Denn jetzt, wo die Preise in die Höhe schossen und alles Geld auf den simplen Kauf von Lebensmitteln und Wohnung gerichtet werden musste, blieb nicht mehr viel für Dienstleistungen und andere Waren übrig.
Vor allem hatte ihr Gewerbe schon vorher vor dem Abgrund gestanden-diese Krise war nur noch der finale Stoß. Denn wer bedurfte schon noch Handwerker und Weber, wenn Maschinen Güter in schier endloser Masse ausspuckten?
Unter den grobschlächtigen Gestalten war auch eine Frau, aus deren Schute lose einige ausgebleichte blonde Locken hervorlugten. Die Fäuste geballt und die Lippen geschürzt war sie zweifelsfrei die Sprecherin. Einige der Umstehenden Handwerker nickten grimmig auf ihre Worte.
Fast wäre er in die Zustimmung eingefallen. Fast. Aber da war etwas anderes, und es war nicht nur Karl von Prittwitz, der solche Worte nutzen würde, um sie alle auf diesem Platz erschießen zu lassen.
Zwar hatte er schon in vielen schlaflosen Nächten über seine Meinungen nachgedacht und war zu dem Schluss gekommen, dass ihm Freiheit, Friede und Menschenrechte wichtiger waren als die Frage, ob ihr Staatsoberhaupt zumindest nominell eine Krone trug oder nicht. Eine konstitutionelle oder gar parlamentarische Monarchie, das war ihm wie der friedlichste Kompromiss erschienen. Keine Dynastien wurden gestürzt, das Volk erhielt Macht, eine Verfassung und Rechte. Aber jetzt... direkt vor den Gewehrmündungen königlich-preußischer Soldaten... er wusste kaum noch, was er glauben sollte.
Die Blondhaarige spuckte bloß aus. Klatschend traf Spucke direkt auf das Kopfsteinpflaster vor seinen Füßen. Dann verschränkte sie die Arme vor der Brust. Fahl schimmerten Narben auf ihren Händen - den Händen einer Weberin, zweifelsfrei.
Augenblicklich spukten die Verse Heinrich Heines Weberlieds durch seinen Kopf.
Ein Fluch dem König, dem König der Reichen,
Den unser Elend nicht konnte erweichen,
Der den letzten Groschen von uns erpreßt
Und uns wie Hunde erschießen läßt -
Wir weben, wir weben!
Die düsteren Zeilen, die die Realität Schlesiens und dieses ganzen Reichs kompromisslos illustrierten, durchbrachen die Taubheit des Schocks in ihm, und mit einem Schlag wurde ihm bewusst, weswegen er noch einmal hier war. Vor den Mündungen von Gewehren und gefangen in einem gigantischen Auflauf von Menschen aller Klassen. Nämlich für ein Ziel, das einte.
"Der König hat uns sein Wort gegeben! Wir kommen friedlich, aber statt Freiheit gibt man uns Drohung", heischte er über die Köpfe der Menge hinweg in die schrille Kakophonie aus Stimmen und Forderungen, wollte weitersprechen, da hob sich kontrastreiches Blau von den wuchtigen Häuserfassaden ab.
Nein.
Die ganze Welt schien frostig zu werden, die Sonne wollte erlöschen und alles erstarrte, als sich ein ganzes Schwadron Dragoner aus den Schatten schälte. Die blauen Uniformen und Tschakos waren unverkennbar und leuchteten wie Fackeln in der Nacht. Genauso wie die kurzen goldenen Locken, die unter der Kopfbedeckung ihres jungen Kommandeurs quollen.
Niemand anderes als Clemens von Hohenschönen konnte es sein, der da auf dem Pferd saß, hoch erhoben Aufforderungen zur Zerstreuung der Menge rufend und bei Ausbleiben jeglicher Reaktion den Säbel zog.
Es fühlte sich an, als würde er die Spitze der Waffe langsam in Rubens Brust bohren und-
Die Welt zersplitterte unter einem gewaltigen Krachen.
Für einen Moment riss das Brausen der Empörung ab, Stille glitt frostig über sie
wie ein Leichentuch, dann knallte der zweite Schuss durch die knisternde Luft.
Keinen Wimpernschlag später versank alles in blanker Hysterie.
Ruben wirbelte herum, wollte sich durch die keifende und drängende Masse einen Weg drängen, da tönten Schreie, Hufe, Sturmglocken sowie das dumpfe Schlagen von Körper auf Pflaster, als Soldaten den Platz räumten. Die Welt verflocht sich mit einem pompösen Auftakt zu einer Symphonie des Grauens. Alles war ein Strudel aus Gewehren, Gliedern, Tritten und Schlägen.
Das Blut rauschte in Rubens Ohren, sein Herz schien zu zerspringen und er tauchte geschickt unter dem Arm einer kreischenden Person hinweg, dann rammte sich ein zielloses Gliedmaß in seine Seite.
Keuchend presste er eine Hand auf die wunden Stelle, stockte zitternd und unterschrieb durch den Stillstand seine Hoffnungslosigkeit. Der Strom der Menschen traf ihn, Leiber drängten rücksichtslos in ihrer Verzweiflung, Arme schubsten ihn zur Seite, er strauchelte, stolperte über seine eigenen Füße und stürzte. Im nächsten Moment schoss ihm glühender Schmerz durch die Armen. Seine Handflächen platzten auf, als er sich panisch mit ihnen vor dem Boden abfing, irgendwo blitzte ein Bajonett auf. In diesem Chaos war er vollkommen hilflos.
Strauchelnd wollte er sich in die Höhe kämpfen, da schloss sich eine eiserne Hand um seine Schulter. Finger bohrten sich durch Stoff und Fleisch und ein erschrockener Laut kämpfte sich aus seiner Kehle.
Irgendwer riss ihn in die Höhe und seine Füße schwebten wenige Fingerbreit über dem Boden.
Fieberhaft wand er sich gegen den Griff des Soldaten und postulierte bereits ohne Hoffnung und mehr aus Verzweiflung heraus: "Lassen Sie mich gefälligst los!"
"Widerliche revolutionäre Zecke!", schnauzte der Soldat bloß und innerlich schloss Ruben ab. Im Hintergrund gellten noch Schreie durch die nach Rauch schmeckende Luft, Hufe donnerten auf Pflaster und er sandte ein letztes, stummes Gebet in die Höhen zum Adonai.
Doch dann drang eine andere Stimme durch die Kuppel der Aufregung. Eine Stimme, die irgendetwas in seinen Gedanken klingeln ließ.
"Loslassen, Korporal", forderte sie gepresst, ein wütendes Brodeln unterdrückend. "Der ist harmlos."
Im nächsten Augenblick trafen seine Füße wieder auf den Boden und er packte sich intuitiv an die schmerzende Schultern. Blinzelnd versuchte er sein Sichtfeld zu klären, bis sich eine auf einem Pferd sitzende Gestalt in Offiziersuniform deutlich vor seinen Augen erhob. Die blauen Augen funkelten bedrohlich und über die Stirn des markanten Gesichts stürzte eine verwirrte Locke wie aus gesponnenem Gold. Clemens sah so aus, als hätte er seinen Säbel am liebsten an Ruben am zur Verwendung gebracht.
"Harmlos?", echote der Justizkommissar bloß perplex.
Aber der Junker entgegnete nur: "Was um Himmels Willen hast du hier zu suchen?"
Jedoch erwiderte Angesprochener bloß schrill: "Das kann ich genauso gut fragen. Wir waren friedlich, warum wird geschossen?", nicht sicher, ob er empört oder dankbar sein sollte.
Der preußische Offizier wollte gerade etwas erwidern, da wirbelte sein Kopf herum und er bellte einen knappen Befehl zu seinen Leuten in die tosende Menge. Dann entwich dem Blonden ein verärgertes Schnauben.
Clemens umklammerte die Zügel seines Schimmels krampfhaft. "Geh", zischte er hastig. "Verschwinde und barrikadiere dich Zuhause!
Das musste er nicht zweimal sagen. Ruben wollte noch zu einem "Danke" ansetzen, aber sein Gegenüber stieß ihn nur auffordernd mit einem Fuß an.
Fluchtartig drängte er sich an seinem hünenhaften Angreifer vorbei und presste sich durch die letzten, fliehenden Menschen und die schwere nach Schweiß und Asche riechende Luft.
Er begann zu hechten und bereits nach wenigen Metern schien ein sengendes Feuer in seiner Lunge entfacht, aber seine Füße trugen ihn weiter. Hinein in die Straßenzüge und weg von dem lodernden Chaos.
Bis Zuhause ins Scheunenviertel waren es knapp drei Kilometer. Aber wenn er zu seinen Eltern und Geschwister in ihr Palais in "Unter den Linden" floh, musste er weder die Spree überqueren, noch zwei Kilometer extra laufen. In kaum mehr als zehn Minuten wäre er in Sicherheit.
Scheppern klirrte durch die Luft und Ruben blieb schlagartig stehen, als Passanten ächzend eine Droschke umwarfen.
Erst jetzt nahm er seine vollkommen aufgelöste Umgebung war, gemeinsam mit dem dumpfen Schmerz in seinen blutigen Händen.
Dutzende Menschen machten sich in dieser Straße eifrig ans Werk. Steine wurden aus den Mauern der Häuser gelöst, Türen aus den Angeln gerissen und mit Schubkarren, Fuhrwerken und einer Droschke zu einer unförmigen Barrikade aufgetürmt. Es war eine kunterbunte Mischung aus blutjungen Studenten, abgebrühten Arbeitern, vereinzelten Frauen und grimmigen Handwerkern, die die Stadt zu einer Festung ausbauten- und gerade dabei waren, direkt den Weg in die Sicherheit von Familie und Palais zu vermauern.
Ungehalten entwich ihm ein Fluch.
Der andere Weg, den er kannte, würde über die Schlossbrücke führen, direkt zu dem Kronprinzenpalais und wie es jetzt dort aussah, hatte er gerade schon erleben dürfen.
Also trat er zu der bereits zwei gute Meter in die Höhe ragende Barrikade heran und rief hoch zu einem jungen Studenten: "Darf ich durch?"
Dieser blickte unsicher herunter, bevor sein Blick an Rubens blutigen Hände und schmutzigen Mantel hängenblieb. Unweigerlich streckte der junge Barrikadenkämpfer eine Hand aus, umgriff Rubens Handknöchel und zog ihn wortlos zu sich hoch. Nur, damit aus ihm herausplatzte: "Waren Sie gerade da? Am Schlossplatz?" Ruben brachte bloß ein verstörtes Nicken zustande.
Die Augen seines Gegenübers weiteten sich, irgendwo zwischen Faszination und Euphorie. "Einer meiner Kommilitonen aus der medizinischen Fakultät war da", berichtete er schnell. "Dieser widerliche Verräterkönig. Kommen Sie gut nach Hause! Es lebe ein geeintes und freies Deutschland!" Nach diesen feierlichen Worten assistierte er Ruben beim Abstieg, der sich ausgiebig bei ihm bedankte, bevor ihn die schmerzenden Füße weiter durch die Gassen trugen - und überall herrschte das selbe Bild von sich auftürmenden Barrikaden und von Zorn und Furcht erfüllten Menschen. Man hatte sie verraten - sie alle. Und ganz Berlin schien den bitteren Konsens getroffen zu haben, ihre Ideale mit ins Grab zu nehmen.
Sie wurden verfolgt von dem tönenden Schellen der Sturmglocken und dem entfernten Heulen von donnernden Schüssen und Hufen.
Dann, endlich, schälten sich die vertrauten Umrisse des barocken Palais in sein flimmerndes Sichtfeld. Ein ganzes Gebirge schien von seinen Schultern zu gleiten.
Schwach klopfte er gegen die Tür.
Erst geschah gar nichts. Dann öffnete sich das Portal einen Spaltbreit.
Hinter dem Holz erklang gedämpft der schockierte Schrei einer Dienstbotin, dann wurden die Flügel aufgerissen und Ruben fiel kraftlos ins Innere.
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