40 - Durch die Pforte der Verdammnis
„Rate mal, wer sich dazu entschieden hat, eine Hausratsversicherung bei uns abzuschliessen?", fragt mich Patrick breit grinsend.
Ich blicke von meinen Unterlagen auf.
„Keine Ahnung, aber du wirst es mir eh gleich sagen", antworte ich.
„Der Von Siebenthal!"
Patrick strahlt vor Freude, sodass ich davon fast einen Sonnenbrand bekommen könnte. Ich stehe auf und blinzle ihn ungläubig an. Die Offerten, die ich soeben sichten wollte, schiebe ich zur Seite.
„Ist nicht wahr?", stosse ich aus.
Maximilian Justus von Siebenthal ist ein unverschämt wohlhabender Kunde, dem ich vor einer Woche eine Versicherung offeriert habe. Beim Kundenbesuch in seiner Villa wurden wir von zwei Bediensteten flankiert und in ein pompöses Wohnzimmer geleitet, wo man uns schliesslich Champagner einschenkte. Maximilian von Siebenthal ist ein reicher Schweizer, wie es im Buche steht. Ein alleinstehender, halb gutaussehender Geschäftsmann und Graf einer längst verblassten Adelslinie.
Ein Traum vieler Goldgräberinnen.
Mich stimmte sein riesiges Haus, das ohne Menschen viel zu enorm und ausgestorben wirkte, eher traurig. Nichtsdestotrotz habe ich bei dem Termin einmal mehr so richtig Gas gegeben und alle Register gezogen, um ihn von unseren Leistungen zu überzeugen.
„Doch! Der hat dir aus der Hand gefressen. Er hat alles genau so abgeschlossen, wie du es ihm vorgeschlagen hast! Inklusive Kunstsammlung!", sagt Patrick, wirft mir den unterschriebenen Versicherungsvertrag vor die Nase und lässt sich auf seinen Stuhl nieder.
Ich blicke noch immer überrascht auf die Papiere. Tatsächlich. Die elegante, geschwungene Unterschrift des Adligen ziert den Vertrag, den ich ihm unterbreitet hatte.
„Ein Wunder, dass der nicht gleich mit einem Wachssiegel unterschrieben hat", scherze ich und befördere die Police auf meinen Papierhaufen.
Der Stapel meiner abgeschlossenen Verträge wird immer grösser, was bedeutet, dass mein Ziel bald zum Greifen nahe ist. Nicht mehr lange und ich kann mich wieder vom Vertrieb verabschieden.
Gerade als ich meinen Taschenrechner hervorholen möchte, um auszurechnen, wie hoch der restliche Betrag ist, den ich noch einbringen muss, werden wir von Julia Gerbers neuer Assistentin unterbrochen.
Ein schüchternes, blondes Mädchen mit sanften Locken steht vor uns. Sie sieht aus wie ein kleiner Engel und ich meine mich daran zu erinnern, dass ihr Name Gabriela war. Oder war es Helena?
„Entschuldigung. Frau Schmidt?", sagt sie mit glockenheller Stimme.
„Hm, ja?" Ich lege den Kopf schief.
Die Assistentin wirkt unglaublich schüchtern. Kaum zu glauben, dass diese Seraphin den personifizierten Teufel bei der Arbeit unterstützen soll.
„Frau Gerber möchte Sie sprechen. Jetzt sofort."
Patrick und ich tauschen überraschte Blicke aus. Ich liege mit meinem Verkaufsziel gut in der Zeit. Julia hat keinen Grund, mich noch mehr unter Druck zu setzen. Dementsprechend ist es mir schleierhaft, was sie von mir wollen könnte.
„Warum denn?", frage ich, denn so schnell lasse ich mich nicht auf diese Aufforderung ein. Die liebe Assistentin soll sich bitteschön erklären.
„Sie meinte, es sei eine private Angelegenheit. Es klang wirklich sehr dringlich", antwortet mir Gabriela-Helena.
Ich stutze. Eine private Angelegenheit? Vielleicht sollte ich das hier ernster nehmen, als zuerst angenommen. Ich räuspere mich und verlagere das Gewicht von einem Fuss auf den anderen.
„Ist irgendwas passiert?"
Gabriela-Helena zuckt mit den Schultern, was mir den Eindruck gibt, dass es wohl doch nicht so ernst sein kann. Wenn es eine Hiobsbotschaft gewesen wäre, stünde sie nicht zaghaft lächelnd vor mir. Wahrscheinlich will mich Julia bloss wieder piesacken.
„Ich weiss es nicht. Bitte folgen Sie mir einfach", meint sie und dreht sich auf dem Absatz um.
Eiligen Schrittes läuft sie den Gang entlang zurück zu den Liften, bleibt stehen und wartet, bis ich ihr folge. Assistenten sind auch wirklich immer gestresst. Mein Blick wandert zu Patrick, der mich fragend von seinem Sitz anstarrt.
„Was will die Gerber denn?", möchte er wissen, aber er merkt selbst, dass ich ja genauso wenig weiss wie er.
„Keine Ahnung. Bin gleich wieder da", sage ich zu ihm und laufe hinter der Assistentin her.
„Hoffentlich dauert das aber nicht zu lange! Du weisst: Ticktack, Emma!", ruft mir Patrick nach und tippt dabei auf seine silberne Rolex, die er an seinem Handgelenk trägt.
Ein weiterer Insider zwischen uns beiden, mit welchem er mich ständig unter Zeitdruck zu setzen versucht. Patrick meint, mit der richtigen Menge Druck arbeite man effizienter.
Ich schmunzle und drehe mich zu ihm um, während ich rückwärts gehe.
„Ja, ja, ich weiss schon. Die Zeit drängt. Wenn ich nachher wieder zurück bin, erstellen wir zwei einen Schlachtplan, wie wir den genauso grotesk reichen Nachbarn vom Siebenthal davon überzeugen, eine Gebäudeversicherung bei uns abzuschliessen! Diese Barockvilla schreit einfach danach!"
Patrick lacht auf und wendet sich seinem Computer zu.
„Das will ich sehen", lacht er.
Ich grinse in mich hinein, während ich Gabriela-Helena zu den Aufzügen folge. Der gute Patrick wird ein weiteres Mal sein blaues Wunder erleben. Der Kerl unterschätzt mich ständig. Beim Verkauf habe ich mich bisher nicht so linkisch angestellt, wie bei allen anderen Aspekten meines Lebens und ein Bauchgefühl sagt mir, dass meine Glückssträhne noch eine Weile andauern wird.
✵
Der Aufzug ruckelt als Gabriela-Helena und ich im vierzehnten Stock ankommen.
Sie läuft entschlossen zu Julias Büro und lässt sich auf ihren Arbeitsplatz nieder, der absichtlich direkt neben dem Zimmer des Teufels eingerichtet wurde. Wenn ich sie mir genau anschaue, dann ist diese Assistentin ein sehr unschuldig aussehender Wächter der Höllenpforte. Blonde Locken und ein engelsgleiches Antlitz – nicht unbedingt das, was man sich unter einem Hüter der Unterwelt vorstellt.
„Frau Gerber erwartet Sie schon", flötet sie und deutet mit der Hand ins Zimmer.
Nickend gehe ich auf die offene Tür zu, werde aber immer langsamer, so als wolle mich mein Unterbewusstsein davon abhalten, dort einzutreten. Vorsichtig schliesse ich die Tür hinter mir, als ich durch das Tor der Verdammnis schreite.
Julia Gerber steht am Fenster und blickt auf die winzigen Menschen herab, die sich vierzehn Stockwerke unter uns auf der Strasse tummeln. Als die Tür ins Schloss fällt, dreht sie den Kopf nur leicht zur Seite.
„Setzen Sie sich", sagt sie auf ihre gewohnt herrische Art.
Stur bleibe ich stehen.
Ich fröstle und reibe mir mit den Handflächen die Oberarme. Die Raumtemperatur hier drin ist noch arktischer als bei meinem ersten Besuch. Wie ein Dementor hat Julia Gerber dem Raum seine Seele geraubt und alles in kalte Finsternis getaucht.
Meine Chefin sagt nichts und starrt weiterhin auf das Getümmel zu ihren Füssen. Ich räuspere mich, denn eigentlich habe ich ja keine Nerven, meine Zeit zu schänden. Mein Ziel ist in greifbarer Nähe und ich will es vermeiden, dass sie mir für dessen Erreichung im Wege steht – wo sie ja diejenige war, die mir eine Deadline gesetzt hatte.
„Was wollen Sie?", gebe ich ähnlich distanziert zurück. Arschig tun kann auch ich.
Sie seufzt tief und dreht sich zu mir um, sodass die wenigen Lichtstrahlen im Zimmer auf ihre Gesichtszüge fallen und dunkle Schatten werfen. Die Hände hat sie vor sich verschränkt. Ihre Miene wirkt bekümmert, verzerrt, ja fast traurig.
Ihr niedergeschlagener Anblick wirft mich total aus der Bahn. Anstatt den Hass anzuschüren, den ich auf sie habe, ebbt alles ab und verschwindet im hinterhältigen Sumpf meiner Empathie. Julias Schmerz trifft mich. Hart und unerwartet.
Sie tut mir leid und ich könnte mich für diese Gefühle gerade selbst erwürgen.
„Emma", wimmert sie und wischt sich mit dem Handrücken eine Träne von der Wange.
Warum nennt sie mich bei meinem Vornamen? Und warum zum Teufel weint sie?
Schnell schaue ich weg und tue so, als hätte ich das nicht gesehen. Ihre Augen sind gerötet und leicht geschwollen. Es ist so offensichtlich, dass sie sich kurz zuvor noch die Augen aus dem Kopf geweint hat.
„Ist etwas passiert?", frage ich gleich, denn allmählich kriecht die Angst in mir hoch.
Was könnte die Baronin des Schreckens denn dermassen aus der Fassung bringen, dass sie mit den Tränen ringt? Ein tragischer Unfall? Ein Unglück? Oh Gott ...
„Emma, bitte setz dich."
Ich schlucke leer, gehorche und lasse mich nieder.
Julia setzt sich auf den Bürosessel auf der anderen Seite des Tisches und schnäuzt sich die Nase. Ich warte geduldig, die Hände ineinander verkeilt und in meinen Schoss gepresst. Diese Ungewissheit treibt mich in den Wahnsinn. Ich will endlich wissen, warum sie mich herzitiert hat.
„Ist etwas Schlimmes–?", möchte ich beginnen, da werde ich allerdings von meiner Chefin unterbrochen, die sich endlich gefasst hat.
„Chris meinte, er hätte dich darüber informiert, dass wir einen wichtigen Termin wahrnehmen mussten."
Sie streicht sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht und spitzt die Lippen. Ihre hellen Augen richten sich auf mich und schon wieder kommen bei mir alle Gedanken ins Stocken. Julias Trauer ist verschwunden und einem neutralen Gesichtsausdruck gewichen. Dieser Wechsel kam so urplötzlich, dass ich gar nicht richtig verstehe, was das in mir auslöst.
„Ähm ... Er hat nicht von einem Termin gesprochen. Nur, dass es etwas zu klären gibt", antworte ich.
Sie schnaubt durch die Nase und schüttelt den Kopf. Ihr rot bemalter Mund wird noch spitzer.
„Und seither habt ihr nicht mehr miteinander gesprochen?"
Jetzt bin ich diejenige, die den Kopf schüttelt. Gesprochen haben wir seither nicht wirklich, nur getextet. Chris schien schwer beschäftigt und ich wollte ihn mit meiner Anhänglichkeit nicht stören.
„Typisch. Er hat es also nicht geschafft, seiner Affäre zu verraten, dass wir uns dazu entschieden haben, den Scheidungsprozess abzubrechen."
Julia sagt das so beiläufig. Eigentlich hätte ich mich wehren müssen, denn ich bin für Chris sicher keine Affäre, aber ihre Worte treffen mich so hart wie ein Schlag mit dem Baseballschläger.
Scheidungsprozess? Das klingt so, als wäre da noch was im Gange. Chris hat mir nichts von einem Prozess gesagt, geschweige denn von einem Abbruch.
„Wie ... wie meinen Sie das? Ich verstehe nicht."
Die Verwirrung muss mir ins Gesicht geschrieben sein, denn Julias perfekt gezupfte Braue schiebt sich überrascht in die Höhe. Sie richtet sich in ihrem Sessel auf und sitzt nun kerzengerade vor mir.
„Chris und ich sind nicht geschieden. Hat er dir das nie gesagt?"
In ihren Augen schimmert die Neugierde. Sie blickt mich abwartend an, während mir mein Schädel schwirrt und ich versuche, eine Antwort zu formulieren. In meinem Kopf ist es plötzlich so laut geworden. Mein Verstand läuft auf Hochtouren und droht zu überhitzen.
Das stimmt doch nicht, sagt mir mein Unterbewusstsein. Ich spüre meinen Puls an den Schläfen und unterdrücke den Instinkt, mir das Nasenbein und die Stirn zu massieren.
„Er meinte, ihr seid geschieden." Endlich schaffen es die Worte über meine Lippen.
„Dann hat er gelogen", antwortet sie prompt.
Julias hellblaue Augen treffen mich und wollen mich mit ihren Eiszapfen erstechen. Ich schüttle den Kopf, um mich aus dieser Unsicherheit zu reissen. Nein! Ich vertraue meiner Menschenkenntnis viel mehr, als Julias Aussagen. Chris lügt doch nicht.
„Das glaube ich nicht", erwidere ich. Das klang schon selbstsicherer.
Selbst wenn ich weiss, dass Chris mir etwas verheimlicht haben muss, er hat mich nicht angelogen. Das würde er nicht tun. Nicht Chris.
„So ist es aber", beharrt sie und kramt plötzlich etwas aus ihrer übergrossen Handtasche hervor. „Für unseren Termin am Freitag musste ich das hier mitbringen."
Ein graues Heft kommt zum Vorschein, welches sie mir mit dem Zeigefinger über den Tisch schiebt.
„Darin steht es. Wir sind noch verheiratet."
Ich blinzle sie verdutzt an. Mit ihrem Kinn deutet sie mir an, einen Blick auf die offene Seite im Heft zu werfen.
„Schau selbst."
Widerwillig beuge ich mich vor und lese, was auf dem Dokument steht:
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EHEURKUNDE
TRAUUNG
DATUM: 08.08.2015
ORT: GALLUSKAPELLE STAMMHEIM, ZÜRICH
EHEFRAU: JULIA GERBER, EHEMALS ZINGG
EHEMANN: CHRIS GERBER
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Mein Atem stockt. Das ist Chris' Eheurkunde. Da steht nirgendwo ungültig oder irgendwas von Scheidung. Müsste da nicht sowas stehen? Ich blättere zur nächsten Seite, auf welcher das Datum, die Uhrzeit und der Geburtsort von Emil festgehalten wurde.
Ich blättere eine Seite weiter. Sie ist leer. Ich blättere zurück und starre wieder auf die Buchstaben.
Das kann doch nicht wahr sein!
In diesem Büchlein steht nichts von einer Scheidung. Das müsste es aber, wenn sie geschieden wären. Da würde was stehen. Das weiss ich vom Familienbüchlein meiner Mutter. Scheidungen werden hier eingetragen. Auf Seite fünf.
„Das ist unmöglich", stosse ich aus.
„Wie du zweifellos selbst sehen kannst, ist es das nicht."
Ich blicke von der Heiratsurkunde zu Julia und dann wieder auf die schwarze Schrift. Meine Augen suchen nach dem Fehler.
Vielleicht ist das eine Fälschung?
Aber da sehe ich schon das eingedrückte Siegel und das Wasserzeichen der Gemeinde, welche die Eheurkunde ausgestellt hat. Das Dokument ist echt und die Ehe gültig.
Chris ist nicht geschieden. Julia sagt die Wahrheit.
Mir wird übel, als sich dieser Fakt in mein Bewusstsein brennt. Das war es also, was er mir verschwiegen hat.
Meine Instinkte befehlen mir, aufzustehen, den Raum zu verlassen und meinen Freund aufzusuchen. Ich will mit Chris sprechen, denn offensichtlich hat er mir hier einiges zu erklären!
Allerdings kann ich nicht von hier weg, denn Julia scheint noch nicht fertig zu sein. Krampfhaft versuche ich, mir meine Bestürzung nicht anmerken zu lassen. Normalerweise bin ich gut darin, meine Emotionen zu verbergen. Nur heute scheint mir das nicht zu gelingen. Meine Lider flattern so schnell wie der Flügelschlag eines Kolibris, als ich den Augen meiner Chefin begegne, die mich bemitleidend mustern.
„Mir war nicht bewusst, dass er dir nichts erzählt hat. Ich bin sicher, dass es ein grosser Schock für dich sein muss. Das tut mir leid ...", meint sie.
Es wirkt echt und aufrichtig, was sie sagt. Ich schaffe es nicht, etwas zu erwidern, denn ich bin einfach nur sprachlos. Um meine Gedanken richtig sortieren zu können, muss ich hier raus. Muss für mich alleine sein.
„Weisst du ...", spricht Julia weiter, „wir standen wirklich kurz davor, unsere Ehe zu beenden. So kurz davor. Wir wollten an diesem Termin die Scheidungspapiere unterschreiben und unseren Streit bezüglich des Sorgerechts für Emil endlich beilegen."
Ich senke den Kopf und blicke auf meine Finger, die ganz verkrampft auf meinem Schoss liegen. Das war es also, was er "klären" musste. Es wurmt mich, dass ich es von Julia und nicht von Chris erfahren muss.
„Verstehe", flüstere ich.
„Allerdings haben sich die Dinge am Freitag geändert. Es war eine überraschende Wendung, muss ich zugeben. Ich bin selbst noch ein bisschen durch den Wind. Ich hätte nie gedacht, dass es soweit zwischen uns nochmal kommen könnte, aber ich muss ehrlich gestehen, Chris' Argumente waren äusserst überzeugend", sagt sie und beisst sich dabei auf die Unterlippe.
Schockiert hebe ich den Blick, denn ich verstehe nicht, worauf sie hinaus möchte.
„Argumente wofür denn?", entkommt es mir viel zu schnell.
„Weshalb ich zu ihm zurückkommen soll. Weshalb wir es als Familie nochmals probieren sollen", antwortet sie.
Ich packe die Armlehnen meines Stuhles so fest, dass meine Knöchel weiss hervortreten.
„Das ist absurd", stosse ich aus, denn das denke ich tatsächlich. Chris hat keine Anzeichen gemacht, dass er je solche Wünsche hegte. Oder irre ich mich etwa?
Julia lehnt sich nach vorne, die Ellbogen abgestützt, sodass wir uns geradewegs über den Tisch anstarren.
„Wenn du mir nicht glaubst, dann werden dich vielleicht Chris' eigene Worte überzeugen. Er hat heute Morgen nämlich versucht, mich zu erreichen und eine Sprachnachricht hinterlassen. Nach dem turbulenten Wochenende, das wir zusammen verbracht haben."
Julia wedelt sich Luft zu, als ob ihr selbst von dem, was sie mir hier erzählt, warm geworden wäre. Mein Herz steht für einen Moment still.
Sie haben das Wochenende zusammen verbracht?
Chris hat nichts von einem ganzen Weekend erzählt! Samstag und Sonntag haben wir kaum miteinander geschrieben, weil ich dachte, Emil sei bei ihm. War er tatsächlich am Wochenende mit Julia zusammen? Davon wusste ich nichts.
Ich schüttle den Kopf, um den zweifelnden Gedanken und der Angst keinen Platz zum Einnisten zu geben. Um sie von mir abzuwimmeln, wie die lästigen Fruchtfliegen auf einem Apfel. Jedoch vermehren sie sich in Windeseile.
Nein! Das darf ich nicht zulassen. Ich vertraue ihm. Sowas würde er nicht tun.
„Hören Sie, Frau Gerber", sage ich mit bebender Stimme. „Ich weiss ja wirklich nicht, was zwischen Ihnen und Chris am Wochenende vorgefallen ist, aber um ehrlich zu sein, es geht mich nichts an und mir wäre es wohler, wenn ich seine Vergangenheit ruhen lassen kann. Was auch immer Sie hiermit bezwecken wollen. Es funktioniert nicht."
So. Mein Machtwort ist gesprochen und ich hoffe inständig, dass sie mich endlich gehen lässt. Chris soll mir das alles erklären, nicht Julia.
Meine Chefin zuckt bloss mit den Schultern.
„Ich will hiermit nichts bezwecken, Emma. Nur, dass du die ganze Wahrheit erfährst. Wenn du mir nicht glauben willst, dann hör bitte einfach diese Sprachnachricht ab. Ich denke nämlich, dass es dich interessieren wird. Es wird dir die Augen öffnen."
Ich seufze laut. Ich will wirklich nur noch mit Chris sprechen. Mit jeder Minute, die verstreicht, fühle ich mich unwohler.
„Meinetwegen", antworte ich dann. Vielleicht komme ich so ja schneller aus diesem Raum.
Julia nickt. Mit ihren rot lackierten Fingernägel klickt sie auf ihrem Handy herum und legt es dann in die Mitte des Tisches. Die Roboterstimme des Anrufbeantworters sagt in einer Monotonie:
„SIE HABEN EINE ABGEHÖRTE NACHRICHT."
Dann piepst es und ich kriege augenblicklich Gänsehaut. Es ist tatsächlich Chris' Stimme, die auf Julia Gerbers Anrufbeantworter gesprochen hat. Aber es ist nicht diese Tatsache, die mich erkalten lässt, sondern die Art und Weise, wie seine Stimme klingt.
Brüchig. Flehend.
„Julia. Bist du da? ... Julia? Bitte nimm den Hörer ab, verdammt nochmal! Ich bitte dich. Ich weiss, du willst nicht mit mir reden, aber bitte – ich flehe dich an ..."
Mein Magen zieht sich zusammen. Warum klingt Chris so traurig?
„Das, was letzte Nacht zwischen uns geschehen ist, war kein Fehler! Es war richtig. Ich weiss es und du weisst es. Julia!"
Mein Herz setzt einen Schlag aus. Welche Nacht war kein Fehler? Was zum Teufel redet er da?
Ich balle meine Hände zu Fäusten, so sehr, dass sich meine Fingernägel in mein eigenes Fleisch bohren. Mit allergrösster Mühe reisse ich mich zusammen, um vor Julia nicht mit der Wimper zu zucken. Sie blickt mich durchdringend an, aber ich zeige ihr keine Reaktion.
Für ein paar Sekunden sind nur rauschende Hintergrundgeräusche zu hören. Dann spricht Chris weiter, aber seine Stimme klingt belegt.
„Bitte. Für Emil. Für uns, lass es uns nochmal versuchen. Wir können uns doch nach all den Jahren nicht einfach so aufgeben! Ich kann das nicht! Ich will nicht aufgeben. Julia, ich will für uns kämpfen. Für die schöne Familie, die wir waren. Das können wir wieder sein. Bitte lass es zu."
Chris' Stimme bricht plötzlich. Ich blinzle angestrengt, denn diese Worte haben mir wehgetan. So richtig. Sie sind auf mich heruntergeprasselt wie ein brennender Pfeilregen, haben mich mit aller Wucht getroffen und zu Boden gebracht.
Chris will zu seiner Familie zurück?
Die Audionachricht geht weiter und Julias eindringlicher Blick ruht auf mir. Sie muss die Tränen in meinen Augenwinkeln gesehen haben, die sich angeschlichen haben. Meine Mauern drohen zusammenzufallen, aber ich halte sie mit aller Kraft, die meine Seele aufbringen kann, fest.
„Bitte. Die letzten Wochen haben es mir gezeigt. Ich liebe dich, Julia. Ich liebe dich noch immer. Ich kann nicht ohne dich und Emil leben ... bitte. Ich vermisse euch so!"
Mein Herz zersplittert in tausend Stücke.
Chris schluchzt in den Hörer, im verzweifelten Versuch, seine Ehe zu retten. Damit gibt er mir und dem Leben, das wir gemeinsam hätten führen können, den Todesstoss.
Ich spüre nichts mehr. Weder den Stuhl, auf dem ich sitze, noch meine Handflächen, die bluten. Ich starre an Julia vorbei ins Leere. An die kahle Wand hinter ihr.
Es ist schon merkwürdig, wie man einen Herzbruch spüren kann. Dieses Ziehen in der Brust ist real, auch wenn man medizinisch gesehen keinen Riss sehen würde. Es fühlt sich definitiv so an als würde etwas kaputtgehen. Als ob die Fasern einfach aufgeben und bersten. Tief in einem drinnen stirbt etwas. Wirklich. Wenn es nicht das Herz ist, dann ist es mit Sicherheit ein Stück der Seele.
Auch wenn mein Herz noch schlägt, es tut es nicht mehr aus Lebenslust, sondern aus reiner Sachlichkeit. Man muss ja am Leben bleiben. Es gibt leider keinen Knopf, den man betätigen kann, um es abzustellen. Es schlägt unaufhörlich weiter und verteilt den Schmerz in alle Zellen meines Körpers.
„Glauben Sie mir jetzt?", fragt Frau Gerber und bringt mich zurück in die Realität. In ihr Büro, in welchem ich gefühlstaub sitze.
Sie siezt mich wieder, was nur bedeuten kann, dass sich die persönliche Angelegenheit für sie somit geklärt hat. Wir sind wieder professionell unterwegs.
Ich nicke langsam. Schaffe es noch nicht, diese Realität zu ertragen. Julia muss bemerkt haben, wie blass ich geworden bin, denn sie streckt eine Hand über den Tisch aus, als wollte sie mir helfen, lässt sie allerdings dort liegen.
„Es tut mir aufrichtig leid für Sie. Ich dachte, Sie sollten darüber in Kenntnis gesetzt werden, weil Sie schliesslich eine Beziehung mit ihm hatten. Nun ist es allerdings beschlossene Sache: Mein Mann und ich werden es mit unserer Ehe nochmals versuchen. Deswegen möchte ich Sie in Zukunft nicht mehr in meinem Haus sehen. Ich denke, das verstehen Sie jetzt mit Sicherheit."
Schon wieder nicke ich.
„Ausserdem möchte ich Sie darum bitten, den Kontakt mit Chris abzubrechen. Sie werden sich nicht mehr bei ihm melden, haben Sie verstanden? Er möchte nichts mehr mit Ihnen zu tun haben."
Ich antworte nicht und starre noch immer auf die weisse Farbe der Wand. Meine Synapsen feuern nicht mehr ab. Sie wollen meinem Verstand gar nichts mehr mitteilen. Ich spüre nur, wie sich ein milchiger Schleier um meinen Geist legt und mich einhüllt, mir jegliche Sinne raubt.
Chris' Worte dröhnen in meinem Schädel und lassen mein Herz bluten. Ich liebe dich, Julia.
Wie konnte ich das nicht sehen? Wie um alles in der Welt konnte mir das entgehen?
Ich liebe dich, Julia.
„Ja, verstanden", krächze ich schwach.
Meine Chefin nickt mir zu und befreit mich somit aus ihrem Kerker. In ihrem Gesicht trägt sie noch immer diesen bedauerlichen Ausdruck, als täte es ihr tatsächlich leid, was hier soeben vorgefallen ist.
Langsam erhebe ich mich von dem Stuhl und verlasse den Raum. Ich habe nichts mehr anzufügen, denn es wurde alles gesagt.
Chris hat alles gesagt.
✵✵✵
Hallo ihr Süssen
*verteilt Kleber für eure Herzen*
Schönen Freitagabend euch allen!
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