21 - Ausgewechselt
Dieses Gefühl in meinem Magen will nicht abflachen. Seit Freitag kribbelt es, als wären da Ameisen eingezogen und hielten gerade eine Goaparty. Der Abend mit Chris war unbeschreiblich und ich komme aus meiner Schwärmerei nicht heraus. Ich muss unbedingt Viola davon erzählen, dass ich getanzt habe. Getanzt! Ich. Emma, welche über die Beweglichkeit eines Nussknackers verfügt.
Am Abend habe ich Chris noch geschrieben, nämlich als ich für den Heimweg in den Bus gestiegen bin. Seither herrscht leider Funkstille zwischen uns. Es ist nicht so, als ob es nichts mehr zu besprechen gäbe, aber ich habe mich schlicht und einfach noch nicht getraut, ihm von mir aus zu schreiben.
Man will ja nicht zu aufdringlich wirken und den potenziellen Mann seiner Träume gleich mit seiner Anhänglichkeit verscheuchen. Allerdings mache ich mir jetzt Sorgen, denn es ist mittlerweile Dienstagmorgen und ich habe seit Freitagabend kein Lebenszeichen von Chris erhalten.
Ist das vielleicht irgendsoein Machtspielchen, das man austrägt? Wer es länger aushält, dem anderen nicht zu schreiben, ohne dabei vor Ungeduld fast zu explodieren? Wenn ich ehrlich bin, hasse ich solche Spielereien. Ich schreibe, wenn ich Lust habe zu schreiben. Aber bei Chris wiederum will ich nichts falsch machen.
Dieser Kerl hat es mir wirklich angetan. Ich erkenne mich nicht wieder. Normalerweise lasse ich mein Leben nicht von der Liebe leiten, aber im Moment hat sie die Regierung über mein Gehirn übernommen. Ich kann nicht anders, als jede Millisekunde meiner Existenz über ihn nachzudenken.
Der scharfe Klingelton meines Bürotelefons lässt mich zusammenfahren. Ich habe vor lauter Liebesrausch vergessen, dass ich bei der Arbeit bin und eigentlich performen müsste.
„Willst du den Anruf nicht entgegennehmen?", fragt mich Patrick, als er sich zu mir an den Tisch gesellt.
Während ich auf meiner rosaroten Wolke schwebte, hat Patrick einmal mehr das Protokoll für eine Vertriebssitzung schreiben müssen. Ich weiss, dass er diese Art von Arbeit hasst, selbst wenn das zu seiner Rolle als Assistent dazugehört.
Seit wir auf unseren Deal eingeschlagen haben, hat sich die Stimmung zwischen uns relativ entspannt. Ich schaffe es, ihn und seine Nähe zu tolerieren, denn ich weiss, dass er mir helfen wird. Das alleine erlaubt es mir, seine Präsenz auszuhalten. Patrick ist ein Gewinnertyp und unser Deal ist eine Herausforderung für ihn, die er für den Preis, den ich ihm geboten habe, gerne angenommen hat. Er wird erst dann für seinen Dienst bezahlt, wenn ich offiziell mein Ziel von 30'000 Franken erreicht habe. Davor kann er nur von dem Date mit mir träumen. Allerdings merke ich, wie sehr ihn das anspornt. Er wirkt hoch motiviert und schiebt mir ständig heisse Leads zu, die ich abtelefonieren und abschliessen soll.
„Doch, doch", murmle ich und nehme den Hörer in die Hand. „Emma Schmidt, Vertrieb–", will ich sagen, werde allerdings von Viola unterbrochen.
„Emma, komm hoch!", ruft sie ins Telefon. Ihre Stimme klingt alarmierend ernst.
„Äh."
„Komm hoch!", wiederholt sie den zischenden Befehl.
Ich kann gar nicht fragen, was denn der Grund für ihre Aufregung ist, denn schon höre ich das Tuten, welches mir signalisiert, dass sie bereits wieder aufgelegt hat.
„Was ist denn?", fragt mich Patrick neugierig.
Ich blinzle entgeistert und lege den Hörer wieder hin.
„Viola. Irgendwas ist los. Sie will, dass ich kurz in den vierzehnten Stock komme."
Patrick zuckt mit den Schultern. Ihn scheint das nicht zu beunruhigen. Ist aber auch verständlich, denn er hat den Tonfall von Viola nicht gehört. Sie klang besorgt.
„Geh nur. Unser nächster Kundentermin ist eh erst in einer Stunde", erlaubt mir mein Vertriebskollege, als wäre er mein Chef.
„Sehr grosszügig von dir", murre ich, was ihm allerdings nur ein höhnisches Grinsen entlockt.
„Ich will ja nur, dass du deine Ziele so schnell wie möglich erreichst. Muss schliesslich dafür sorgen, dass du dich nicht ablenken lässt. Aber Viola sei dir gegönnt", sagt er, als müsse er Gnade walten lassen.
„Hey, das Telefonat von vorher hat doch gut geklappt!", meckere ich.
Bevor Patrick nämlich zum Protokollieren verdonnert worden war, hat er mir bei der Kaltakquise per Telefon geholfen. Ich durfte einem achtzehnjährigen Burschen, der erst kürzlich einen Nissan Supra gekauft hatte, eine Motorfahrzeugversicherung andrehen und habe es sogar geschafft. Ein erstes kleines Erfolgserlebnis, welches sage und schreibe 1'567.85 Franken von den 30'000 abzieht! Jetzt muss ich nur noch Versicherungen im Wert von insgesamt 28'432.15 Franken verkaufen und dann bin ich raus hier.
Das Knuffige an der ganzen Sache war allerdings Patricks Freude an meinem Erfolg. Wir haben eingeschlagen, als der Kunde zugesagt und uns den unterschriebenen Vertrag zugestellt hat. An seinen strahlenden Augen konnte ich die ehrliche Freude ablesen. Vielleicht ist Patrick gar nicht mal so schlecht. Auf jeden Fall hat sich sein Verhalten mir gegenüber diese Woche um einiges gebessert und ich bin ihm unglaublich dankbar dafür.
„Ja, ja!", gibt er nach. „Darum sage ich ja: Gönn dir die Pause und nachher sackst du den nächsten Kunden gleich auch noch ein."
Ich nicke und mache mich auf den Weg zum Fahrstuhl. Violas rätselhafter Anruf hat mich neugierig gemacht.
✵
Als ich meinen alten Arbeitsplatz erreiche, sehe ich von Weitem, dass sich meine Kolleginnen und Kollegen vor dem Büro meines Chefs im Kreis versammelt haben.
Was geht da vor sich?
Viola dreht den Kopf und als sie mich erblickt, winkt sie mich zu sich. Ich geselle mich zu der tuschelnden Gruppe. Es wird geflüstert wie im Tratschtantenclub.
„Was ist denn los?", frage ich meine Kollegin, denn ich verstehe nicht, warum hier alle so aufgeregt sind.
„Chef wurde gekickt", offenbart mir Viola und zeigt mir dabei ihre gebleachten Zähne. Sie grinst schadenfreudig.
„NEIN!", rufe ich aus. Der gestriegelte Zuchthengst wurde gegangen? Kaum zu fassen.
Die Menschentraube, die sich vor dem Zimmer meines jetzt Ex-Chefs versammelt hat, beobachtet, wie sein Büro von Putzkräften ordentlich sauber gemacht wird. Von unserem ehemaligen Boss gibt es keine Spur mehr. Der hat sich in Luft aufgelöst, um diesen würdelosen Abgang nicht vor versammelter Mannschaft machen zu müssen.
„Doch! Anscheinend lag es an der wirklich miserablen Schadensquote vom letzten halben Jahr ...", flüstert Viola.
Ich muss leer schlucken. Augenblicklich beschleicht mich das schlechte Gewissen. Er wurde wegen der Schadensquote geschmissen? Die Schadensquote, für deren Tiefgang hauptsächlich ich verantwortlich war?
Wie immer in Grossunternehmen, wird dauerhaft schlechte Performance irgendwann nicht mehr toleriert. Besonders nicht in Chefpositionen und so wurde unserem Boss wohl oder übel der Stöpsel gezogen. Seine Zeit hat ein abruptes Ende gefunden, weil seine Mitarbeitenden – und in unserem Falle besonders ich – nicht geliefert haben. So ist das eben. Die Führungsperson muss für das Versagen ihrer Leute den Kopf hinhalten.
„Der König wird vom Thron geschubst, nur um vom nächsten Diktator ersetzt zu werden. So läuft das doch. Weiss man schon, wer der neue Oberbefehlshaber wird?", frage ich und versuche, meine Unsicherheit, die sich angeschlichen hat, zu verbergen.
Dieser Chefwechsel könnte mein Verderben bedeuten, denn vermutlich wurde der nächste, hochambitionierte Speichellecker in der Schleimwarteschlange erkoren, diesen Posten zu übernehmen. Meistens werden Führungspositionen internen Mitarbeitenden gegeben, die über mindestens drei Jahre bewiesen haben, dass sie jedem so richtig tief in den Arsch kriechen können und sie für den Erfolg des Unternehmens über Leichen gehen würden.
Ich befürchte, dass ich als eine solche Leiche enden könnte. Mein alter Chef war nämlich verhältnismässig grosszügig und hat viele meiner Fauxpas einfach durchgehen lassen. Der Nächste wird mit Sicherheit nicht so nett.
„Offenbar kein Interner, habe ich gehört", murmelt Viola.
Das überrascht mich, denn sowas ist für ein Traditionsunternehmen, wie es die Assekura ist, doch sehr ungewöhnlich. Man liebt hier Schleimer. Eigentlich.
„Wow! Wir machen Fortschritte?", stosse ich ehrlich überrascht aus.
Genau in dem Moment, als ich das sage, kommt unser CEO um die Ecke, fröhlich plaudernd mit einer Frau an seiner Seite. Und was für eine Frau das ist! Sie trägt eine hellgraue Businesshose und dazu einen passenden Blazer. Ihre blonden Haare sind in einem strengen Bob geschnitten und lassen ihr Gesicht spitz und geschliffen wirken. Sie ist geschminkt, aber nur dezent, dennoch blitzen diese blauen Augen hervor, sodass einem dabei gleich kalt wird.
Ich erkenne männerfressenden Vamps, wenn sie vor mir stehen. Das ist so eine Femme fatale. Ihr äusseres Erscheinungsbild hat ihr mit Sicherheit den letzten Schubser in der Karriere gegeben. Attraktive Menschen sind aus einem für die Wissenschaft ganz unerklärlichen Grund erfolgreicher im Job. Ich aber kenne den Grund: Es sind Männer, die Frauen befördern – die schöne Frauen befördern.
„Geschätzte Kolleginnen und Kollegen", beginnt unser CEO zu sprechen und blickt in die Runde. „Wie Sie bereits mitbekommen haben, mussten wir uns leider von Herrn Meier trennen. Er wird nach Stuttgart versetzt und hat dort eine neue Herausforderung gefunden. Frau Gerber wird ab heute Ihre neue Vorgesetzte sein und dafür sorgen, dass diese Abteilung eine Performancesteigerung erleben wird, die es in sich hat."
„Fuck!", höre ich Viola flüstern. Sie spricht mir aus der Seele.
Was mir meine bisherige Erfahrung mit weiblichen Chefs gezeigt hat, ist, dass diese viel schlimmer sind, als ihre männlichen Pendants. Sie haben nicht bloss eine Leiche im Keller, sondern gleich ein Massengrab. Vor allem in solchen Gefilden wie einer Versicherung, da gewinnt nett nicht. Nein. Man muss böse sein, um auf der Karriereleiter aufsteigen zu können und als Frau muss man so richtig hinterfotzig sein. Man muss in seiner Boshaftigkeit die Männer übertrumpfen, um überhaupt gesehen zu werden. Um überhaupt für eine Führungsposition in Erwägung gezogen zu werden.
Ich will gar nicht wissen, wie es Frau Gerber geschafft hat, hierher befördert zu werden. Jemand sollte mal ihre Kellertür öffnen.
Sie baut sich vor uns auf, die Arme verschränkt und mustert uns skeptisch. Die ist echt gutaussehend, muss ich zugeben. Schlank, blond, mit langen Beinen. Eine schöne Diktatorin.
Ich vermute bei der keinen versteckten Blutgräfinnen-Komplex, was schon mal ein bisschen beruhigend ist. Denn das haben Frauen so an sich: Sie können gegenüber anderen Frauen unglaublich gemein sein. Als wäre diese sexistische, frauenfeindliche Welt nicht schon fies genug, nein. Der grösste Feind der Frau ist nicht der Mann, sondern eine andere Frau. Insbesondere in Büros, wo jeder auf sich allein gestellt ist.
Den Neid, den insbesondere Chefinnen einer schönen Frau gegenüber verspüren, lassen sie in Form von verbaler oder struktureller Gewalt raus. Zur Drecksarbeit verdonnern, öffentliche Blossstellungen oder Hinderung am beruflichen Vorankommen sind nur ein paar der Methoden, die sie zur Folterung der gutaussehenden Kolleginnen anwenden.
Zum Glück bin ich potthässlich oder halt einfach nur durchschnittlich. Da biete ich der Furie mindestens keine Angriffsfläche. Aber Viola muss sich mit ihrem Silikon in Acht nehmen. Das könnte Konfliktpotenzial haben.
„Geschätzte Kolleginnen und Kollegen", beginnt die blonde Eiskönigin und kaum hat sie diese Worte gesagt, ist sie mir schon unsympathisch. Sie hat die Stimme einer Zicke.
Dieses Topmodell soll uns also führen? Die wird uns durch die Hölle jagen, eine mit Eisennägel bespickte Peitsche über unseren Köpfen schwingen und Feuer spucken, wie eine Baronin des Schreckens.
„Es ist mir eine Ehre", sagt sie und blickt dabei schleimig zu unserem CEO, „heute bei der Assekura beginnen zu dürfen. Eins kann ich euch versprechen: Ich werde dafür sorgen, dass unser Team der KFZ-Schadenabteilung zu den besten im Markt gehören wird."
Der CEO nickt zufrieden, während ich und meine Arbeitskollegen eher leer schlucken müssen. Solche Ankündigungen bedeuten nichts Gutes für die Belegschaft. Es bedeutet mehr Arbeit für uns. Unsere bleichen, halb-begeisterten Gesichter müssen Bände gesprochen haben, denn der Blick von Frau Gerber wird sofort diabolisch. Die hat wohl etwas mehr Enthusiasmus von ihren Sklaven erwartet.
„Ich sehe schon, es wird hier viel zu tun geben. Dann beginnen wir meinen ersten Tag doch gleich mit Performancegesprächen. Sie da!", sagt sie und zeigt mit ihren dünnen Fingern auf Gerhard, unser ältester Mitarbeiter, der bald schon sein vierzigstes Firmenjubiläum bei uns feiert. „Sie sind der Erste."
Gerhard nickt gelangweilt. Er scheint hier der Einzige zu sein, der keine Furcht vor dieser Sadistin verspürt. Das muss an seinem Dienstalter liegen, denn bei fast vierzig Jahren Assekura hat er schon viele Chefs kommen und gehen gesehen. Da wird ihm diese junge Tyrannin auch nichts anhaben können.
Er zuckt nicht mit der Wimper, als sie mit ihm in ihr Büro stolziert und die Tür vor unseren Nasen zuknallt.
„Ach du heilige Scheisse, mit der wird's richtig ungemütlich", stöhnt Viola neben mir auf. „Welchen Komplex die echt auslebt?"
„Ödipus, Elektra, Napoleon, Adonis, Don Juan, Salieri. Wahrscheinlich gleich alle zusammen", sage ich allwissend. Die psychologischen Komplexe, die Menschen entwickeln können, sind mir aus meinem Studium geblieben.
Wir setzen uns in die Kaffee-Ecke, während wir darauf warten, in die Höhle der Löwin zitiert zu werden. Viola ist vor mir dran und kommt recht schnell wieder heraus. Ihr Gesichtsausdruck verrät mir, dass es nicht so schlimm gewesen sein muss, wie wir es uns ausgemalt haben.
Vielleicht ist Frau Gerber ja gar nicht mal so böse?
Ich bin als Zweitletzte an der Reihe und schliesse die Tür vorsichtig hinter mir. Vor nicht allzu langer Zeit war ich in diesem Büro, um nicht so tolle Neuigkeiten zu empfangen. Diese neue Chefin hat keinen positiven Eindruck bei mir hinterlassen und so rechne ich auch jetzt mit dem Schlimmsten. Die Nervosität steigt mir in die Glieder, denn ich befürchte, dass Frau Gerber schon über meine desaströsen Zahlen informiert worden ist.
„Frau Emma Schmidt, ist das richtig?", sagt sie ohne aufzublicken.
Sie hat ihre Augen auf ein Stück Papier vor ihr gerichtet. Ich vermute, dass dies der Leistungsreport jedes einzelnen Mitarbeiters im Schadenservice ist. Ihre blauen Augen fixieren den roten Balken auf der Grafik und ich weiss ganz genau, dass dieser Negativ-Balken meiner ist. Meine miese Schadenregulierungsquote.
Ich schlucke den Kloss runter, der sich in meiner Kehle gebildet hat. Just in dem Moment, in welchem ich mich auf den Stuhl niederlasse, hebt Frau Gerber ihren Blick und durchsticht mich mit ihren Eisaugen. Unwillkürlich zucke ich zusammen, wie wenn sie mich damit gepikst hätte.
„Freut mich, Sie persönlich kennenzulernen", meint sie und streckt mir eine Hand hin, die ich zögerlich nehme und schüttle.
Ein künstlich aufgesetztes Lächeln ziert ihr schmales Gesicht. Ihre Augen lächeln allerdings nicht. Sie ist mir nur an der Oberfläche freundlich gesinnt.
„Ebenso", murmle ich und zwinge mich zu einem höflichen Schmunzeln.
„Frau Schmidt. Kommen wir gleich zur Sache. Ich bin keine Freundin der langen Reden." Ich nicke, während sie das sagt, so als würde ich ihr zustimmen.
„Ihre Zahlen sind inakzeptabel."
Ich nicke noch immer, denn Recht hat sie ja. Das ist mir durchaus bewusst und ich habe selbst noch nicht die Lösung für dieses Problem gefunden. Meine Gedärme beginnen aufgeregt zu rumoren. Dieses Gespräch wird unangenehm, das spüre ich.
„Was haben Sie dazu zu sagen?", fragt sie weiter, bevor ich in meine übliche Rechtfertigungsargumentation verfallen kann.
Diese Frau strahlt eine Stärke und ein Selbstbewusstsein aus, die mich einschüchtern. Ich suche nach den Worten, die mir bei meinem Ex-Chef immer so leicht von den Lippen gekommen sind. Normalerweise würde ich jetzt zu meiner Verteidigung jegliche Argumente auspacken, die beweisen, warum es durchaus Sinn macht, länger als fünf Minuten und fünfundzwanzig Sekunden mit den Kunden am Telefon zu verbringen, denn dies hat signifikante Auswirkungen auf die Kundenzufriedenheit, welche über den sogenannten NPS gemessen wird. Und dieser NPS ist den Chefs normalerweise auch wichtig, aber der strenge Blick von Frau Gerber bringt den kleinen Anwalt in mir zum Schweigen. Ich kriege keinen Satz heraus.
„Ähm ... Also ...", beginne ich.
„Dachte ich es mir. Eine klassische Low-Performerin", kommt sie zum Schluss, ohne dass ich einen geraden Satz habe formulieren können.
Ich presse frustriert die Lippen zusammen.
„Mir wurde von meinem Vorgänger die Information weitergegeben, dass Sie im Vertrieb aushelfen. Ist das korrekt?", forscht sie weiter.
Ich nicke stumm. Bei der vergeht mir wirklich gleich die Lust am Reden. Das einseitige Kreuzverhör geht aber weiter: „Wie lange wird ihr Einsatz dort dauern?"
„Ich dachte, ich müsse einfach solange dort bleiben, bis ich die 30'000 zusammen habe ...", kann ich dann endlich sagen.
Eine gezupfte Augenbraue von Frau Gerber jagt in die Höhe. Sie starrt mich misstrauisch an.
„So läuft das nicht bei mir. Wir sind auf jeden einzelnen Mitarbeitenden im Team angewiesen, wenn wir meine ambitionierten Ziele Ende des Jahres erreichen wollen. Ich setze Ihnen eine Frist. Spätestens in zwei Monaten erwarte ich sie wieder zurück in ihrer alten Rolle", bestimmt sie.
Ich reisse meine Augen auf, denn jetzt bin ich geschockt. Von einem Zeitfenster hat nie jemand gesprochen! Es war mir nicht bewusst, dass mein Einsatz im Vertrieb eine Deadline hatte. Endlich scheint mein Gehirn das Sprachzentrum wieder aktiviert zu haben. Ich kann sprechen.
„Bei allem Respekt, Frau Gerber. Ich weiss nicht, ob ich das Ziel so schnell erreichen werde! Ich habe gerade mal begonnen, in die Basics des Verkaufes eingeführt zu werden. Patrick meint, das dauert ein paar Wochen, bis man richtig warm geworden ist."
„Das mag sein, aber Sie sind bei mir im Schadenservice angestellt und ich bestimme hier die Regeln. Dieser Einsatz im Vertrieb ist aussergewöhnlich, aber er ist kein Freiticket, um sich von Ihren Aufgaben im Schaden zu drücken. Sie müssen noch immer Ihre Ziele erreichen."
„Aber–", will ich protestieren, da werden wir von einem lauten Vibrieren unterbrochen.
Frau Gerber hebt den Zeigefinger, um mir damit anzudeuten, dass ich die Klappe zu halten habe und kramt ihr Mobiltelefon hervor. Sie dreht sich in ihrem Stuhl leicht zur Seite und nimmt den Anruf entgegen.
„Augenblick", sagt sie zu mir und legt das Telefon ans Ohr.
An der kleinen Zornesader an der Stirn erkenne ich, dass sie nicht gerne während der Arbeit unterbrochen wird. Wer auch immer sie gerade anruft, the queen of terror is not amused.
„Was willst du?", höre ich sie zischen.
Eine Stimme redet auf sie ein und lässt sie die Augen rollen. Ich fühle mich mit jeder Sekunde, die verstreicht, unwohler, denn ihre Wut ist im Raum spürbar.
„Nein! Ich habe dir gesagt, dass ich heute meinen ersten Tag im neuen Job habe. Es geht nicht!"
Die Person auf der anderen Seite des Hörers spricht weiter und lässt die Zornesader auf Frau Gerbers Stirn noch weiter anschwellen. Ich schlucke schwer bei dem Anblick. Unauffällig mache ich mich auf dem Stuhl kleiner, nur falls sie sich dazu entscheiden sollte, spontan das Büro zu Kleinholz zu verarbeiten.
„Es ist mir egal, wie du es anstellst! Komm selber auf eine Lösung!", schreit Frau Gerber in ihr Telefon und legt auf.
Aufgebracht befördert sie ihr Mobiltelefon auf den Tisch, dreht sich mir wieder zu und stützt die Ellbogen auf der Tischplatte ab. Sie reibt sich die Schläfen und schnaubt. Sie ist wütend.
Am liebsten würde ich jetzt die Flucht nach hinten antreten und mich verziehen, denn den Zorn von Frau Gerber will ich nicht abbekommen. Aber ich bin eine Gefangene in diesem Büro. Die ist wahrscheinlich noch lange nicht mit mir fertig.
Sie seufzt laut und richtet dann den Blick wieder auf mich. Die Strenge, die für einen kurzen Augenblick verloren gegangen war, als sie mit dem Anrufer gesprochen hatte, findet sich wieder in ihren scharfen Gesichtszügen und lassen mich erschaudern. Ich glaube sogar, dass ihre Augen es schaffen, die Temperatur in diesem Raum unter den Gefrierpunkt zu treiben.
„Tut mir leid. Das war mein Mann. Schwer von Begriff, manchmal. Wo waren wir stehengeblieben?", fragt sie mich, aber antwortet sich dann selbst wieder. „Ahja. Bei Ihrer Frist."
„Frau Gerber", will ich beginnen, obwohl ich weiss, dass es hoffnungslos ist.
„Sie haben zwei Monate Zeit, Ihre Aufgabe im Vertrieb zu erledigen. Danach will ich Sie wieder hier haben."
„Aber w–?"
„Ich diskutiere nicht, Frau Schmidt. Sie können gehen. Vielen Dank."
Sprachlos starre ich sie an. Diese Hydra hat mich kein einziges Mal ausreden lassen. Sie ist wirklich schlimmer als die Männer. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, erhebe ich mich und gehe zur Tür.
„Sie wissen, was passiert, wenn Sie Ihr Ziel nicht erreichen, nicht wahr?", fragt sie mich noch, ehe ich aus dem Büro verschwunden bin.
Ich muss mich umdrehen, um ihr nochmals ins perfekte, böse Gesicht zu blicken.
„Nein ...?", murmle ich.
In ihren Augen blitzt etwas Bösartiges auf und selbst von Weitem sehe ich dieses argwöhnische Grinsen auf ihren Lippen.
„Wir werden uns auf Dauer keine leistungsschwachen Kollegen leisten. Nur damit das klar ist."
✵✵✵
Da es leider auch in der echten Welt wieder Montag ist, gibts diese kleine Szene aus Emmas Büro für euch.
Chefwechsel liegen bei Grossunternehmen an der Tagesordnung. Diese Frau Gerber scheint aber eine kleine Despotin zu sein. Ob Emma noch Schwierigkeiten mit ihr bekommen wird?
Habt eine gute Woche!
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