1 - Schleusenprobleme
Der Aufzug kommt endlich im vierzehnten Stock an und ich atme erleichtert auf, als ich vor seinem gierigen Blick flüchten kann.
„Überlege es dir, du wirst es nicht bereuen!", ruft er mir noch hinterher, obwohl er mich nicht mehr sehen kann, denn ich bin schon um die Ecke verschwunden.
Das Klacken meiner Pumps hallt gegen die Wände und echot durch den langen Gang. Der enge Stoff meiner beigen Hose raschelt. Ich trage dazu eine weisse Bluse und darüber einen dunkelblauen Blazer: Arbeitskleidung – nicht mein übliches Outfit, denn normalerweise findet man mich in Hoodie und Schlabberhose wieder. Meistens zuhause. Dort, wo ich jetzt am liebsten geblieben wäre.
Laut seufzend lasse ich mich auf den Stuhl an meinem unordentlichen Arbeitsplatz plumpsen und begrüsse meine Kollegen mit einem Winken. Sie haben alle schon ihre Headsets montiert.
Grossraumbüro, ein absoluter Gräuel.
Ich bin spät dran, weil mir dieser Idiot wieder über den Weg gelaufen ist und mich aufgehalten hat. Patrick, der selbstverliebte, notgeile Business Assistent aus dem Vertrieb im sechsten Stock. Dabei habe ich mir nach dem Mitarbeiterfest vor einer Woche, an welchem er mir an den Hintern gefasst und auf meinen empörten Gesichtsausdruck nur mit einem gleichgültigen Schulterzucken geantwortet hat, geschworen, einen kilometerweiten Bogen um dieses Schwein zu machen.
Vor den Aufzügen entdeckte er mich leider, bevor ich mich in meiner frühmorgendlichen Blindheit überhaupt vor ihm verstecken konnte. Wie ein heuchlerischer Gentleman hielt er mir dann noch die Tür zum Aufzug auf, nur damit ich mich eng an ihm vorbeipressen musste und unsere Körper sich berührten.
In den unendlichen elf Sekunden, die der Fahrstuhl brauchte, um in meinem Stockwerk anzukommen, hat er mir meine Ohren vollgelabert, wie sehr ihm der Abend doch gefallen habe und er gerne mit mir mal Mittagessen gehen wolle. Alles Augenrollen, laut Seufzen und Tasche-enger-an-den-Körper-Ziehen brachte nichts, um dieses Ekel abzuwimmeln. Er hat den Wink mit dem Zaunpfahl einmal mehr galant ignoriert.
Ich schnaube genervt, als ich meinen Computer hochfahre und meine lederne Handtasche unter den Tisch schmeisse. Den Papierstapel, der sich auf meiner Tastatur türmt, übersehe ich gekonnt und greife zu meiner Pinguin-Kaffeetasse.
Erst mal Kaffee.
„Uff", stosse ich aus und bahne mir den obligatorischen Weg zur Kaffeeecke.
Die Nespressomaschine brummt laut, während ich mit verschränkten Armen davor stehe und ungeduldig mit den Fingern auf meinen Oberarm tippe. Ein lautes Ächzen ist von dem Gerät zu vernehmen. Jemand müsste die mal wieder entkalken, aber ich warte bloss, bis mir die bittere Brühe die Tasse füllt. Das soll gefälligst jemand anderes machen.
Ich schlurfe wieder zurück zu meinem Platz und werfe einen Blick auf die Uhr.
08:03 Uhr
Scheisse!
Meine Schicht hat schon vor drei Minuten begonnen, stelle ich erschrocken fest. Das orange Lämpchen an meinem Telefon, welches anzeigt, dass sich bereits unzählige Anrufe in der Warteschlange befinden, die unbedingt beantwortet werden müssen, lässt meine Gedärme zu Matsch werden. Es ist gerade mal 08:03 Uhr und die Menschen dieser Welt wollen ihre Versicherung kontaktieren. Als sei das der erste Gedanke, den sie nach dem Aufstehen haben.
Um mich herum höre ich, wie meine Arbeitskollegen schon höflich in ihre Headsets sprechen, um unseren Kunden den besten Service zu bieten, den sie verdient haben. Sie zahlen schliesslich jährlich einen hohen Preis dafür. Das soll nicht umsonst sein, ist hier unser Kredo. Auch wenn wir den Schadenfall in den meisten Fällen eh nicht zahlen werden, sollen sie sich zumindest gut bedient fühlen.
Ich werfe mir das Headset über den Kopf, schiebe das Papier von der Tastatur und drücke den Knopf, der mich ins Telefon schaltet. Es knackt und die Verbindung zum ersten Kunden in der Warteschlange wird hergestellt.
„Assekura Versicherungen – Schadensaufnahme. Guten Tag, hier spricht Emma Schmidt. Wie kann ich Ihnen helfen?", sage ich wie ein Roboter ins Mikrofon.
„Ja, hallo. Endlich!", knurrt mich eine eindeutig männliche Stimme an.
Du musstest gerade mal gottverdammte drei Minuten warten. Das denke ich bloss, sage aber stattdessen übertrieben freundlich: „Sie haben einen Schaden anzumelden?"
Die Person am anderen Ende der Leitung scheint leicht irritiert darüber zu sein, dass ich nicht auf die launische Begrüssung reagiere. Der Kunde ist ja schliesslich König. Mein Blick bleibt auf dem Timer hängen, der bei jedem Anruf auf meinem Bildschirm aufleuchtet. Ich warte geduldig auf die Antwort.
- - 00 Minuten 18 Sekunden - -
„Ja, eine Beule an meinem Auto."
„Alles klar. Können Sie mir kurz Ihren Namen und Ihre Adresse nennen, damit ich Sie identifizieren kann?", gehe ich durch unseren Fragenkatalog.
„Robert Heinzmann, Handelsweg 45, 8001 Zürich", gehorcht mir der Kunde.
Ich haue mit meinen Fingern auf die Tastatur und nehme alle Informationen zum Schaden auf: Kontaktdaten, Ort, Datum, Schadenbeschreibung, Reparaturkosten. Immer wieder huscht mein Auge auf den Timer, der mir auf dem Bildschirm bedrohlich entgegenblinkt.
- - 03 Minuten 31 Sekunden - -
Ich überprüfe seine Deckungen und stelle mit Erschrecken fest, dass er unterversichert ist.
Scheisse.
„Vielen Dank. Ich habe alle Daten aufgenommen. Ich sehe jetzt aber in Ihrem Vertrag, dass Sie den Parkschaden nicht gedeckt haben. Das bedeutet, dass Sie für die Kosten der Reparatur selbst aufkommen müssen", sage ich und wappne mich schon gegen die bissige Reaktion.
„WAS?", schreit es mir entgegen, sodass ich fast einen Tinnitus kriege.
- - 04 Minuten 58 Sekunden - -
Mit der Ruhe, die mir in den Schulungen für den Schadenservice beigebracht und eingetrichtert wurde, versuche ich dem aufgebrachten Herrn zu erklären, dass die Assekura Versicherung leider die Fahrzeuge, die älter als acht Jahre sind, nicht mehr gegen Parkschäden versichert. Aus Profitabilitätsgründen. Aber das sage ich ihm nicht. Der gute Mann will es natürlich nicht verstehen und verwickelt mich in eine Grundsatzdiskussion, die geschlagene elf Minuten dauert.
„Arschloch!", brülle ich in das Tut-Tut-Tut des beendeten Telefonats.
Mittlerweile ist mein Kaffee kalt, denn durch die hitzige Diskussion mit meinem ersten Kunden hatte ich noch gar keine Gelegenheit, einen Schluck zu trinken. Ich knurre frustriert auf, als ich meinen Blick über die roten Zahlen des Bildschirmtimers schweifen lasse.
- - 15 Minuten 12 Sekunden - -
Fuck!
Das erste Telefonat und ich habe die Quote um das Dreifache überschritten. Da wird sich mein Chef wieder besonders freuen. Ein lautes Ächzen entkommt meinen Lippen, das Viola, die mir gegenüber sitzt, aufblicken lässt.
Sie lullt ihren Anrufer mit einem leichten Schmunzeln auf den Lippen förmlich ein – das spüre selbst ich, obwohl ich ihrem Gespräch nicht folge. Aber bei so viel rotem Wachs, wie die auf ihren Lippen trägt, fühlt das sicherlich auch der Kunde am Telefon. Ihr Augenzwinkern verrät mir, dass sie schon wieder auf Flirtkurs bei der Arbeit ist.
Sie schafft es im streng vorgegebenen Maximum von fünf Minuten und fünfundzwanzig Sekunden pro Telefonat, einem Kunden nicht nur alle nötigen Informationen abzuzwacken, die wir brauchen, um den Schaden anzumelden, sondern auch noch, ein Date für den Abend klarzumachen.
Diese Frau ist eine verdammte Maschine, ich hingegen eine erbärmliche Lusche.
Das orange Lämpchen an meinem Telefon leuchtet empört und ich drücke wieder auf die Freigabetaste, damit ich den nächsten Anruf entgegen nehmen kann.
„Assekura Versicherungen – Schadensaufnahme. Guten Tag, hier spricht Emma Schmidt. Wie kann ich Ihnen helfen?"
Da es in der vorangegangenen Nacht gehagelt hat – blödes Sommergewitter – prasseln die Meldungen bei meiner Abteilung für KFZ-Schäden regelrecht durch die Kopfhörer, sodass uns die Ohren schlackern. An solchen Tagen laufen bei uns die Telefone heiss und das doofe orange Lämpchen leuchtet unaufhörlich.
Komischerweise sind an den Tagen nach heftigen Unwettern immer auch ein paar nette Kollegen "krankgeschrieben", weil sie einfach keinen Bock auf dieses Inferno haben. Ist ja auch verständlich, denn kein Mensch hält es aus, so lange am Telefon zu kleben, ohne verrückt zu werden. Die Arbeit bleibt jedoch auf den Verlierern hängen, die den Wetterbericht am Vorabend nicht überprüft haben und, ohne Böses zu ahnen, ins Büro gekommen sind.
So Verlierer wie ich.
Ich habe ausserdem gar keine Wahl, denn mein Chef hat mir gestern die Leviten gelesen. Ich performe extrem unterdurchschnittlich und müsse mir "in den hübschen Arsch zwicken" und mich mal "etwas mehr anstrengen", denn "lächeln und hübsch sein alleine reichen nicht für diesen Job". Seine Worte, nicht meine. Mein Chef ist ein sexistisches Arschloch, wie so viele Businessmänner in roten Krawatten.
Eigentlich will ich nicht hier sein. Ich habe vor einem Jahr mein Psychologie- und Volkswirtschaftsstudium an der Universität Zürich beendet und danach nichts Vernünftiges gefunden. Während eines halben Jahres war ich verzweifelt auf der Jobsuche, bis mich die Assekura Versicherung von meinem Elend erlöst und eingestellt hat, um für sie die Drecksarbeit – den Kundenservice – zu erledigen.
An manchen Tagen haben wir so viel zu tun, dass wir gar nicht dazu kommen, auf die Toilette zu gehen. Meinen Kolleginnen habe ich schon mit Begeisterung erzählt, dass ich die Blase eines Blauwals haben muss, bei den Unmengen Kaffee und Wasser, die ich in meinen Tank schütte.
✵
Endlich ist Mittagspause und ich darf mir ganze 3600 Sekunden Zeit nehmen, um mein Brötchen herunterzuschlingen. Ich setze mich an einen freien Tisch in der Mensa und beisse herzhaft in das Sandwich. Viola, meine geschätzte Arbeitskollegin, hat auch gerade Pause und trippelt breit grinsend auf mich zu. Ich ahne schon, was mich erwartet.
„Emma! Du wirst es nicht glauben, aber ich habe gleich zwei Dates klargemacht!", kichert sie.
Ihre platinblonden, langen Haare wirft sie elegant in den Nacken und formt ein Duckface mit ihren roten Lippen, während sie mich mustert.
„Was?", murmle ich mit vollem Mund.
Das Putensandwich, das ich mir in der Eile in der Kantine gekauft habe, ist viel zu trocken und verwandelt meinen Racheninnenraum in die Gobiwüste. Ich greife nach meiner Wasserflasche und spüle mir alles die Kehle hinunter. Viola blickt mich mit ihren hellblauen Augen skeptisch an.
„Du müsstest wirklich mal zu meiner Stylistin", sagt sie.
Ich hebe überrascht die Augenbrauen. Ja vielen Dank auch.
„Warum meinst du? Sind dir meine Haare wieder zu unordentlich?", frage ich.
„Ich finde, bei dir liegt einfach so viel Potenzial brach. Du nutzt das nicht. Könntest dich so richtig herausputzen, wenn du nur wolltest."
Ich verdrehe die Augen, so dass ich wahrscheinlich aussehe wie das Mädchen aus The Excorsist. Meine Arbeitskollegin fingert in meinen schulterlangen, braunen Strähnen herum, die mir glatt wie ein Aal vom Kopf hängen.
Ich halte nicht viel von frühmorgendlichen Schmink- und Frisierritualen. Meine dunkelbraunen Haare sind immer offen und ich trage sie mit Mittelscheitel. Brav und langweilig. Mein Gesicht hat vor einem halben Jahr das letzte Mal einen Mascara gesehen. Meine feinmotorischen Fähigkeiten lassen halt zu wünschen übrig. Wenn ich mir einen Lidstrich ziehen will, dann rutscht mir nur die Hand aus und ich ende mit einer schwarzen Monobraue. Das will keiner sehen.
„Viola, wir arbeiten hier am Telefon. Da sieht man uns nicht. Wozu soll ich mir Schminke ins Gesicht malen, wenn mir eh niemand in die Visage blicken muss."
„Damit deine Arbeitskollegen deinen Anblick ertragen können, vielleicht?", witzelt Viola.
„Ich dachte, ihr liebt mich wegen meiner inneren Werten und nicht wegen meines Äusseren."
„Was ist, wenn du heute den Mann deiner Träume kennenlernst? Was soll der denn von dem", sagt sie und fuchtelt mit ihren pink lackierten Fingern vor meinem Gesicht herum, „denken?"
Ich ziehe mein Gesicht lang.
„Die Männer können mich mal. Alle!", knurre ich und beisse frustriert in mein Sandwich.
Viola erkennt meinen Ärger und setzt sich neben mich hin, was mich in eine Duftwolke des neusten Chanel Parfüms hüllt. Ihre stark geschminkten Augen blicken mich besorgt an. Für eine 40-jährige Frau hat sie sich ganz gut gehalten. Ich vermute, das liegt an den ganzen Konservierungsmitteln, die sie sich in Form von Cremes ins Gesicht schmiert.
„Hat er wieder –?", beginnt sie ihre Frage, die ich jedoch gleich mit einem Kopfschütteln quittiere.
„Nein, bei der Arbeit wagt er es nicht, mich anzufassen. Ich könnte ja zu HR rennen und petzen."
„Ich verstehe nicht, was der an dir findet."
Ich verschlucke mich fast am staubtrockenen Brot und beginne heftig zu husten. Viola, der personifizierte Charmebolzen.
„Danke! Das katapultiert mein Selbstbewusstsein ins Unendliche", keuche ich, nachdem ich mit einem erlösenden Schluck Wasser knapp dem Erstickungstod entgehe.
Viola schüttelt ihr seidenes Platinhaar und strafft die Schultern. Sie blinzelt auf den mickrigen Feldsalat, den sie sich zum Mittagessen geholt hat.
Das reicht gerade mal aus, um eine Schneckenfamilie zu ernähren.
„Nein, so meinte ich das gar nicht. Ich meinte es mehr so, als dass er dich als Person ja gar nicht kennt. Was findet er also so spannend an dir?", wirft sie ein und scheint einen Moment zu überlegen.
„Meinen Körper, natürlich!", rufe ich selbstbewusst und deute mit meiner Hand, die das Brötchen hält, auf meinen Körper. Dabei fällt ein Stück Pute in meinen Schoss und ich fische es mit den Fingern weg.
Viola lässt ihre Augen über meine Oberweite schweifen, die ganz in Ordnung zu sein scheint und mustert meinen Bauch, der meiner Meinung noch flach genug ist. Bei dem Chipskonsum spätabends könnte ich locker eine Wampe durch die Gegend schieben. Ihr Blick bleibt jedoch an meinen etwas zu dicken Oberschenkeln hängen. Eine Augenbraue schnellt in die Höhe, als sie mir wieder ins Gesicht blickt.
„Dieser Patrick schmeisst sich an jede ran. Ich habe von Ursina erfahren, dass seine Freundin mit ihm Schluss gemacht hat, vor zwei Wochen. Der hat sich anscheinend endlich Tinder heruntergeladen, aber hatte bisher noch keinen Match. Jetzt sucht er verzweifelt nach einer Puppe, die ihn ranlässt", lenkt sie von meinem Versuch ab, ihr ein falsches Kompliment über meinen Körper zu entlocken.
„Ich lasse den auf jeden Fall nie an mich ran!", sage ich mit vollem Mund.
Viola lacht laut auf.
„Pha! Das hast du aber schon, als du zugelassen hast, dass er dir an den Arsch fasst."
„Hey! Ich war betrunken und habe es zu spät gemerkt!"
„Wie kann man es nicht merken, dass man begrabscht wird?", fragt sie mich ungläubig.
„Wenn man einen so riesigen Hintern hat wie ich! Das ganze Fett hat meinen Po taub gemacht", zische ich.
Viola stochert in ihrem Salat herum und blickt mich von der Seite an.
„Solltest halt mehr Salat essen", meint sie und schiebt sich eine Gabel voll Grünzeug zwischen die roten Lippen. Ich strecke ihr die Zunge raus.
So sind wir zwei eben. Wir zicken uns an, aber wir mögen uns irgendwie trotzdem. Verstehe ich manchmal auch nicht, aber irgendwie scheint die Chemie zwischen uns beiden zu stimmen. Ich liebe ihre direkte, nicht-schweizerische Art, einem die Meinung unverblümt ins Gesicht zu spucken und sie mag meine Gelassenheit.
Ich bin unkompliziert – mit Menschen, mit Problemen, mit dem Leben.
„Übrigens, nicht vergessen", sagt Viola, nachdem wir uns noch einen Kaffee geholt haben, bevor unsere Schicht wieder anfängt. „Um 16:00 Uhr gibt es heute wieder eine Feueralarmübung. Nicht, dass du dann wieder am Telefon hängst und den Kunden abwimmeln musst."
„Ja, ja, ich weiss!", winke ich ab.
Viola kennt meine roten Zahlen, denn mein Chef hat mich bereits vor dem gesamten Team blossgestellt. Er wollte mit mir ein Exempel statuieren und allen zeigen, wie man es nicht machen sollte. Dabei weiss ich gar nicht, was der hat.
Ich biete unseren Kunden den besten Service. Ein bisschen quasseln mit der Versicherungstante und die Sorgen von der Seele reden. Warum auch nicht? All die alten, einsamen Menschen da draussen danken mir dafür. Aber für meinen Chef bleibe ich die Versagerin, die seine Zahlen in den Keller treibt.
✵
15:54 Uhr
Der Nachmittag vergeht wie im Flug und ich starre auf das orange Lämpchen, das mich fast in Trance blinkt. Eigentlich müsste ich jetzt meine Sachen packen, um mich für die Übung bereitzumachen. Aber ich habe meine vorgegebene Zahl an Kundentelefonen noch lange nicht erreicht. Ich grüble, während mir das orange Licht die Netzhaut verbrennt.
Die Parole meines Chefs hallt in meinem Kopf, wie er mir vor Augen führt, dass einige meiner Kollegen fast doppelt so viele Anrufe in derselben Zeit durchkriegen wie ich. Beim Gedanken an die rote Krawatte brodelt die Wut in meinem Bauch. Dem werde ich es noch zeigen! Ich greife zum Hörer und säusle den üblichen Spruch. Die können mich doch alle mal, der Kunde geht bei mir vor!
Die Kundin am anderen Ende der Leitung stellt sich als ältere Dame heraus, die mit ihrem blauen Opel Corsa eine Katze überfahren hat und mir jetzt die Ohren vollweint. Die Alte hat selber einen Kater und es zerbricht ihr das Herz, dass sie jemandes Haustier getötet hat.
15:57 Uhr
Ich versuche mit sanfter Stimme der aufgebrachten Kundin gut zuzusprechen, gleichzeitig jedoch alle wichtigen Informationen aus ihr herauszulocken, die ich für die Erfassung des Schadens in unserem System brauche.
„Was wird jetzt bloss mein Mann sagen?", jault die Dame in den Hörer.
„Der wird sicher Verständnis haben. Um nochmals auf meine Frage zurückzukommen: Wo steht das Fahrzeug jetzt genau? Am selben Ort, an welchem sich der Unfall ereignet hat?", fragte ich und lasse meine Finger knacksen.
15:58 Uhr
„Ach, wissen Sie, mein lieber Hans weiss gar nicht, dass ich das Auto heute genommen habe! Ich wollte doch noch Eier kaufen gehen für den Kuchen, den ich für seinen 70. Geburtstag backen wollte! Wie erkläre ich ihm das jetzt nur?"
Ich schliesse die Augen und massiere meine Schläfen. Meine Arbeitskollegen machen sich einer nach dem anderen so langsam auf, das Gebäude zu verlassen. Viola blickt mich mit gerunzelter Stirn an und ich winke ab. Sie soll doch einfach gehen, ich werde schon folgen. Sobald ich diesen Anruf beendet habe.
Viola dreht sich kopfschüttelnd um und folgt den anderen in den Korridor, der zu den Feuertreppen führt.
„Haben Sie die Eier denn schon gekauft?", lasse ich mich auf das Gespräch mit der Kundin ein, wohl bewusst, dass es meine miserable Schadenbearbeitungsquote in den Ruin treiben wird. Die Dame braucht Empathie und das kann sie von mir haben.
„Wie bitte?", fragt die Alte etwas verwirrt.
„Waren Sie denn schon einkaufen?", wiederhole ich mich.
„J-ja", murmelt sie.
„Dann schlage ich Ihnen folgendes vor. Wenn Sie mir sagen, wo Sie stecken und wo das Fahrzeug steht, dann kann ich jetzt einen Partner-Pannendienst für Sie organisieren, der Sie abholt und rechtzeitig nach Hause bringt, ohne dass Ihr Hans etwas davon merkt. So sollten Sie noch genügend Zeit haben, den Kuchen für ihn zu backen. Und verraten Sie ihm erst dann von dem kleinen Unglück, wenn er ein Stück Ihres Kuchens im Mund stecken hat."
Die Dame am anderen Ende scheint zu überlegen. Dann antwortet sie:
„Das würden Sie wirklich für mich tun?"
16:00
„Selbstverständlich, Frau Meier. Das gehört zu unserer Dienstleistung."
„Oh, vielen Dank!", stösst sie aus.
Ich zucke zusammen, als ich die Sirene des Feueralarms höre. Ein penetranter Lärm, der jeden von der Arbeit abhalten würde. Nur nicht mich, denn ich hänge ja noch am Hörer mit dieser alten Dame. Der CEO wäre jetzt sicher stolz auf mich, aber ich bin ja bloss ein winziges Zahnrädchen in einer riesigen Maschinerie. Oder vielleicht bin ich nur eine Schraube.
Nicht mal zum Zahnrädchen habe ich es geschafft.
„Also. Wo steht ihr Fahrzeug?", frage ich mit lauter Stimme, um das unüberhörbare Jaulen des Alarms zu übertönen.
Eine unangenehme Roboterstimme kreischt durch die Lautsprecher: ACHTUNG. ACHTUNG. DIES IST EINE ÜBUNG. BITTE VERLASSEN SIE DAS GEBÄUDE ÜBER DIE GEKENNZEICHNETEN FLUCHTWEGE!
Ich drücke mir die Kopfhörer fester an die Ohrmuschel. Dieser Tag wird mir noch die schlimmsten Kopfschmerzen verpassen, wenn das so weitergeht.
„Ich stehe in der Rosengartenstrasse", antwortet mir die Kundin.
Es dauert noch eine ganze Weile, bis ich es endlich geschafft habe, die gesprächige Kundin abzuwimmeln und sicherzustellen, dass sie vom Pannendienst aufgegabelt und nach Hause gefahren wird. Hans wird seinen Kuchen bekommen, das ist auf jeden Fall klar.
Als ich die Kopfhörer auf den Tisch knalle und aufstehe, merke ich, wie alleine ich hier doch bin. Ein Grossraumbüro, das menschenleer ist, wirkt mehr als gespenstisch. Vielleicht geistern ja die Seelen der verstorbenen Mitarbeitenden hier rum, die es nicht rechtzeitig rausgeschafft haben und sich ihr nächstes Opfer zum dämonisieren suchen. Ich schmunzle zu mir selbst bei dem Gedanken.
Ich krame gerade in aller Ruhe meine Tasche hervor und versuche das laute Schreien der Sirene zu überhören, als eine andere Stimme mir die Haare zu Berge stehen lässt.
„Emma! Bist du noch da? Komm, es ist ernst! Wir müssen wirklich hier raus!"
Das Schwein Patrick.
Ich rolle mit den Augen, nehme meine Pumps in die Hand und haste so schnell ich kann in die entgegengesetzte Richtung, aus der ich seine Stimme gehört habe. Er muss bei den Treppen im Block C stehen. Ich husche, so schnell ich kann, zu Block D. Dort gibt es nämlich auch eine Treppe und dann eine Schleuse, aus der ich hinaus kann.
Ich will mich nicht mit diesem Typen abgeben müssen. Dennoch muss ich beim Gedanken grinsen, dass er nach mir schaut. Schon ein bisschen süss. Er versucht hier wohl den Helden zu spielen.
Schnell schüttle ich meinen Kopf. Nein! Dieser Typ hat mich belästigt. Das ist nicht okay. Ich springe barfuss die Millionen Stufen hinunter. Selbst wenn das Treppensteigen in diese Richtung eigentlich leichter von den Füssen gehen müsste, komme ich dennoch aus der Puste.
Vor der gläsernen Schleuse angekommen, halte ich meinen Badge an den Sensor, der die Türe öffnet. Ich hoffe, dass ich nicht wieder den Schleusentanz vollführen muss, damit sich die Tür nach draussen öffnet. Diese Kamera-gesteuerten Bewegungssensoren funktionieren auch nie und es ist mir schon oft passiert, dass ich wild mit den Armen habe fuchteln müssen, damit mich der Apparat erkennt und die Tür für mich öffnet.
Ich denke mir aber nichts Weiteres dabei und öffne die Glastür, die mich in die Schleuse bringt. Mit einem schweren Schlag fällt sie hinter mir zu und ich bewege mich – wie immer – ein paar Schritte vorwärts, damit mich der gute Bewegungssensor erkennen kann und mir die zweite Tür, die nach draussen führt, öffnen kann.
Nichts passiert.
Ich seufze, strecke meine Arme aus und mache eine Pirouette. Dann warte ich wieder auf das kleine Piepsen, das normalerweise erklingt, wenn die Kamera dich als Mensch erkannt hat.
Immer noch nichts.
Bin ich vielleicht ein Alien? Das würde so einiges erklären.
Langsam spüre ich, wie die Nervosität in mir hochsteigt. Ich gehe vor und zurück und im Kreis, aber die Schleuse reagiert nicht auf meine Lebenszeichen. Vielleicht will mich die Kamera ja wirklich tanzen sehen. Ich setze gerade zur ersten Figur des Schleusentanzes an, da höre ich plötzlich ein Poltern hinter mir.
Ich drehe mich um und blicke voller Entsetzen in Patricks Visage, die an der Scheibe der dicken Glastür klebt. Schon erstaunlich, dass der mich in dem gigantischen Gebäude hier gefunden hat. Sein Blick ist wild und seine grünen Augen funkeln, weshalb ich meinen Kopf zur Seite lege und ihn fragend anschaue.
„Was denn? Nur die Schleuse", erkläre ich.
Er kann mich aber nicht hören und beginnt, aufgeregt gegen die Tür zu schlagen, was mir langsam die Angst in die Glieder jagt.
„Was machst du da? Du musst doch nicht die Tür demolieren", rufe ich und komme etwas näher.
Er hat seine Hände zu Fäusten geballt und versucht das Glas einzuschlagen. Aber es gelingt ihm nicht. Das hier ist schlussendlich schalldichtes Panzerglas. Eine Versicherung weiss sich zu schützen.
Ich hebe beide meiner Arme fragend hoch und forme das Wort WARUM mit meinen Lippen. Er greift in die Innentasche seines Anzugs und tippt mit hektischen Fingern in sein Mobiltelefon. Ich erinnere mich erleichtert daran, dass ich ihm meine Nummer nicht gegeben habe – und ihm auch nie geben werde!
Erschrocken zucke ich zusammen, als er das Display seines Telefons ans Glas knallt, sodass ich seine Nachricht lesen kann.
Ich komme näher und fliege mit meinen Augen über die Zeilen. Augenblicklich verbreitet sich eine Gänsehaut über jeden Zentimeter meines Körpers. Aber auch wirklich jeden Zentimeter.
DAS IST KEINE ÜBUNG MEHR! ES BRENNT WIRKLICH!!! FEUER IN BLOCK D!
Meine Kehle verschnürt sich, während ich immer wieder über die Sätze stolpere. Und als ich den Kopf drehe, um durch die grosse Glastür nach draussen zu spähen, sehe ich, wie ein bedrohlicher Rauch die Strasse in eine schwarze Wolke hüllt.
Block D brennt und ich habe mich gerade selbst darin eingesperrt.
✵✵✵
Hallo ihr Lieben
Die liebe Emma ist ein kleiner Trottel und ich sage jetzt nicht, welche Personen mich für diese Protagonistin inspiriert haben *hust*. Hoffen wir mal, dass sie wieder heile aus der Schleuse rauskommt ;-)
Na, was denkt ihr vom ersten Kapitel?
Gefällt es euch? Warum?
Gefällt es euch nicht? Warum?
Lasst eure Gedanken hier, ich werde sie mit Sicherheit sofort lesen und kommentieren. XD Ich bin gespannt auf eure Rückmeldungen und mache mir jetzt erstmal eine Tasse Tee.
Danke, danke, danke und bis bald einmal
Eure Fleur
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