7. Oktober, Sascha
Sascha
Ich dachte an das letzte Gespräch mit meinen Eltern heute Morgen, an dem mein Vater mir eröffnet hatte, dass ich mir durch mein Verhalten das Studium in Moskau abschminken konnte. „Aus und vorbei", hatte er gesagt, er hätte dafür gesorgt.
Ich hatte nur zynisch dazu gelächelt, denn er hatte es immer noch nicht begriffen: es war mir längst egal geworden. Ich hatte keine Lust mehr auf eine Karriere in einem Staat, der den eigenen Bürgern die Freiheit verwehrte. Sein Druckmittel hatte sich in Luft aufgelöst und für einen Moment hatte er fast ratlos gewirkt. Beinahe hätte ich Mitleid mit ihm haben können.
Aus purer Neugier auf seine Reaktion hatte ich ihn höflich nach dem Warum gefragt, woraufhin er mir ein wütendes „Wer sich mit dem Staatsfeind einlässt, hat es nicht verdient, in Moskau zu studieren" entgegen warf. Staatsfeind, also wirklich, eine Nummer kleiner ging es wohl nicht. Als wäre Kathi ein Spion des Westens. Fast hätte ich gelacht.
Mit der linken Hand hatte er anschließend einen blassblauen Umschlag aus seinem Jackett gezogen, also einen Brief von Kathi! Am liebsten hätte ich ihm diesen aus den Händen gerissen. Wie kam er dazu, meine Post zu lesen! Aber ich hatte mich beherrscht. Es war klar gewesen, dass er irgendwann einen der Briefe entdecken würde. Von jetzt an war es jedenfalls nicht mehr nötig, ihm das zu verschweigen, was er ja bereits vermutet hatte.
In den Hosentaschen hatte ich meine Hände zu Fäusten geballt, im Stillen bis Zehn gezählt und inständig gehofft, dass sein Einfluss nicht weit genug reichen würde, um Kathi die Einreise in die DDR zu verbieten.
Lauernd hatte er mich angesehen und ich hatte eine Zeit lang schweigend zurück gestarrt, um ihn zu irritieren. Schließlich hatte ich es nicht mehr ausgehalten.
„Gib mir den Brief und lass mich mein Leben so leben, wie ich es möchte", hatte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorgestoßen, während sich nun meine Mutter eingeschaltet hatte und mir mit einer Stimme, der man die unterdrückten Tränen anhörte, vorgeworfen, undankbar zu sein. Was hatten sie nicht alles getan, damit ihr Sohn die besten Zukunftsaussichten hatte!
Ich hasste sie dafür, dass sie die Gefühlskarte gespielt hatte. Restlos überzeugt von ihren Ansichten hatten beide vor mir gestanden, ohne die Zeichen der Zeit zu erkennen. In ihren Blicken hatte ich nur die totale Selbstanmaßung gelesen, Wir haben Recht, und du bist zu verblendet, um zu erkennen, worauf es im Leben ankommt. Das hatte so deutlich in meinem Kopf geklungen, dass ich das Gefühl gehabt hatte, sie hätten es wirklich gesagt. Aber ihre Lippen waren stumm geblieben.
„Die Sowjetunion hat wenigstens Gorbatschow und Perestroika. Und was haben wir? Einen verknöcherten Generalsekretär und Tausende, die dem Land den Rücken kehren", hatte ich dann sarkastisch von mir gegeben. Und aufgebracht hinzugefügt:
"Seid ihr blind, seht ihr denn nicht, was los ist?"
„Nichts ist los", hatte mein Vater in seiner hiermit ist das Gespräch beendet-Stimme gesagt. Er hatte den Brief von sich geschmissen, so dass er mit einem leisen „Plopp" auf dem Teppich gelandet war, sich das Jackett zurecht gerückt und war dann in entschlossenen Schritten ganz dicht an mir vorbei gegangen, wobei er mir ironisch zugeraunt hatte:
„Ich wünsche dir viel Vergnügen bei der Armee. Da werden sie dir die Flausen schon austreiben."
Mit einem lauten Knall war die Haustür ins Schloss gefallen. Mutti hatte sich ihre Hände an der Schürze abgewischt und missbilligend den Kopf geschüttelt. „Hättest du doch bloß getan, was Vati wollte", hatte sie geseufzt.
„Was?! Mich von meiner Freundin zu trennen, nur weil sie aus dem Westen ist?", war ich sie angefahren. „Ihr wisst wohl gar nicht, was Liebe ist!"
Sie war zusammengezuckt, das hatte sie getroffen gehabt, ich hatte es ihr angesehen, aber es war mir egal gewesen. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich, war es mir durch den Kopf gegangen.
„Du machst dir deine ganze Zukunft kaputt, aber du willst es ja wohl nicht anders", hatte sie dann mit schneidender Stimme geantwortet. „Glaub bloß nicht, dass Vati und ich dir helfen werden, wenn du in Schwierigkeiten gerätst."
Mit gereckten Schultern hatte sie die Stube verlassen und mir damit leider meinen eigenen Abgang verdorben.
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Würde ich mich heute in Schwierigkeiten bringen? Ich sah mich um. Der Alexanderplatz war voller Menschen. Es war einfach unglaublich! In den Gesichtern der Umstehenden las ich dieselbe Anspannung, die auch ich verspürte. Gleichzeitig fühlte ich eine Welle von Euphorie darüber, endlich etwas tun zu können und ich spürte, hier war der Ort, etwas zu verändern.
Lauthals brüllte ich im Chor mit den anderen Demonstranten „Freiheit, Freiheit" und „Demokratie – jetzt oder nie", während wir in Richtung Palast der Republik zogen. Ich grinste Carsten an und er grinste zurück. Mir war klar, dass es gefährlich werden konnte, aber ich fühlte mich irrsinnig lebendig und verdrängte daher jegliche Angst. Nicht nur montags in Leipzig wird demonstriert, wir können das auch, dachte ich mit leichtem Stolz und stimmte ausgelassen in den nächsten Ruf der Menschenmenge mit ein.
„Wir bleiben hier!"
Nach einer Weile war ich heiser vom vielen Schreien. Silke sah zu mir hinüber und legte die Hand auf ihre Kehle. Ihr ging es genauso, aber ihre Augen leuchteten. Und wir wurden immer mehr, vor allem junge Leute schlossen sich uns an. Diese Menge musste doch Eindruck machen. Das konnten sie einfach nicht ignorieren!
„Zwick mich mal, damit ich merke, dass ich nicht träume", brüllte ich Carsten zu. Er griff nach meinem Ohr, kniff mich hart, aber das Bild um mich herum blieb, die Sprechchöre hörten nicht auf. Es war einfach gigantisch.
„Ich hätte nicht gedacht, dass so viele kommen würden", schrie mir Silke ins Ohr.
Ich nickte nur strahlend und hoffte, dass die schiere Masse an Menschen, die hier demonstrierten, dafür sorgen würde, dass sich Honecker nicht zu unüberlegten Aktionen hinreißen ließ.
Langsam bewegte sich der Strom der Demonstranten vorwärts und schließlich kamen wir an der Spree an, wo uns Sicherheitskräfte den Weg versperrten. Auf der anderen Seite leuchte in der Dunkelheit der Palast der Republik, wo sich das Politbüro mit seinen ausländischen Gästen traf.
„Gorbi, hilf uns!", klang es lautstark aus jeder Richtung, was hoffentlich bis zum Palast hinüber drang. Das Gefühl, mit lauter Gleichgesinnten hier zu stehen, mit Menschen, die unzufrieden waren und sich nicht mehr alles gefallen lassen wollten, war unbeschreiblich und ließ mich mit einem Funken Hoffnung in die Zukunft sehen.
Ewigkeiten später zog unser Strom in Richtung Schönhausener Allee weiter. Aus der Ferne waren Streifenwagen zu hören, aber ich war zu erschöpft, um darüber nachzudenken, was das bedeuteten konnte. Die stundenlange Begeisterung wich langsam der Müdigkeit und ich spürte mit jedem Schritt mehr die Schmerzen im Knie, die ich lange ausgeblendet hatte. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus, gab Carsten und Silke ein Zeichen und humpelte zu einer nahe gelegenen Hauswand hinüber, an die ich mich außer Atem anlehnte.
Ich lockerte die verspannten Schultern, nahm einen tiefen Atemzug und beobachtete, wie Carsten und Silke mir zu folgen versuchten, aber durch eine Gruppe Menschen, die sich plötzlich zwischen uns geschoben hatte, aufgehalten wurden. Plötzlich entstand weiter vorne ein Tumult, die Rufe „Keine Gewalt!" gellten in meinen Ohren und der Schreck fuhr mir in die Glieder, als ich begriff, dass jetzt doch eintrat, womit wir nach all den Stunden nicht mehr gerechnet hatten.
Wie gelähmt blieb ich unbeweglich stehen und sah zu Carsten und Silke hinüber, während sich viele der Demonstranten umdrehten und versuchten umzukehren, doch es war zu voll, um sich zügig nach hinten durchschlagen zu können. Von vorne näherte sich rasch die Polizei und es lief mir kalt den Rücken hinunter, als ich die Schreie der Menschen hörte.
Aber noch bevor ich endlich reagieren konnte, prallte einer der Fliehenden gegen mich, so dass es mir die Krücken wegriss und ich schmerzhaft zu Boden fiel. Hastig rutschte ich ein Stückchen zur Seite, um den rennenden Füßen auszuweichen, konnte aber nicht verhindern, dass meine Hand noch einen schmerzhaften Tritt abbekam. Eine der Krücken kullerte fort und wurde für einige Demonstranten zur Stolperfalle. Aus dem Blickwinkel von unten sah ich entsetzt die Polizisten mit Gummiknüppeln auf Demonstranten einprügeln. Ein Mann fiel blutüberströmt zu Boden. Panisch sah ich mich nach einer Fluchtmöglichkeit um und erkannte hinter mir eine Eingangstür.
Der Schmerz, der mir durchs Knie schoss, als ich mich an der Klinke hochzog, ließ mich aufschreien und für einen Moment hatte ich das Gefühl, mir bliebe die Luft weg. Hektisch rüttelte ich an der Türklinke, bis die Tür endlich aufsprang. Ich blickte mich noch einmal um, suchte in dem Meer von Menschen nach bekannten Gesichtern, aber sah nur die Schlagstöcke, die durch die Luft sausten und die Verzweiflung von Menschen, die vergeblich versuchten, den prügelnden Polizisten zu entkommen. Der Lärm von Schreien, Schlägen und zu Boden fallenden Körpern gellte in meinen Ohren.
„Carsten! Silke!", wollte ich rufen, aber meine Kehle war wie zugeschnürt und ich brachte kein Wort heraus. Mein Herz schlug so heftig, als würde es dafür bezahlt. Gedanken an Verhaftung und Gefängnis zogen durch meinen Kopf. Und mit einer Angst, die die Schmerzen im Knie komplett ausblendete, schob ich mich in das Treppenhaus, warf die Tür hinter mir zu, stolperte die Treppen hinunter in den Keller und ließ mich im Dunkeln erschüttert auf den Boden sinken.
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