30. September, Susanne
Susanne
Es dauerte einige Sekunden, bis Susanne voll und ganz begriff, was geschehen war. Sie hatte das Gefühl, die Kehle wäre ihr zugeschnürt und sie bekam kaum Luft. Jeden Moment, hoffte sie, würde er umkehren und ihr die Möglichkeit geben, alles zu erklären – wobei sie keine Ahnung hatte, wie sie es genau anstellen sollte.
Die Minuten verrannen, während Susanne stocksteif da stand, den Blick auf den Weg vor sich gerichtet, doch Markus tauchte nicht wieder auf. Da schossen ihr die Tränen in die Augen und liefen wie ein Sturzbach die Wangen hinunter. Wie konnte das geschehen? Es war doch gerade noch so schön gewesen. Verzweifelt ließ sie sich ins Gras plumpsen und vergrub das Gesicht zwischen den Knien. Ihr war, als stürze der Himmel auf sie nieder und jegliche Freude, jegliches Schönes verschwände in einer großen dunklen Finsternis.
Eine Ewigkeit blieb sie so zusammengekauert sitzen. Sie hatte keine Motivation aufzustehen, es war doch jetzt sowieso alles egal, sie könnte hier die ganze Nacht so sitzenbleiben, könnte überfallen werden, erfrieren, egal. Sie sah sich bereits in einem Sarg liegen, rundherum alle Freunde und Verwandte, die mit betroffenen Mienen da standen und sagten: „Hätten wir doch bloß nicht...", ganz besonders Markus, tränenüberströmt, voller Reue... aber nun war es zu spät. Gleichzeitig war Sanne klar, wie albern diese Vorstellung war, natürlich wollte sie nicht sterben, aber das, was Markus gesagt hatte, wie er sich verhalten hatte, das tat verdammt weh.
Als die ersten Regentropfen sie trafen, zuckte Susanne zusammen und schaute nach oben. Eine dicke graue Wolke hing direkt über ihr. Aber in Sekundenschnelle zog sie weiter und mit ihr der Regen, der kaum mehr als ein Tröpfeln gewesen war. Schwerfällig stand Susanne auf und machte sich aufgewühlt auf den Rückweg.
Nach ein paar Schritten traf sie der Wind mit voller Macht. Er riss an ihrer Kleidung, fuhr ihr ins Gesicht und trocknete im Nu die tränenfeuchten Wangen. Die ganze Luft war von einem Rauschen erfüllt. An den Bäumen schwangen die Äste hin und her, die Büsche am See wurden zur Seite gedrückt, bis sie fast waagerecht lagen, die Wellen trugen kleine Schaumkronen. Der Wind hatte sich zu einem veritablen Herbststurm ausgewachsen und es war wirklich höchste Zeit, nach Hause zu fahren.
Susanne schniefte leise, als sie daran dachte, wie ausgelassen sie hierher gefahren waren. Aber sie hatte sich ja alles selbst zuzuschreiben. Hätte sie bloß früher geredet! Andererseits...dann hätte sie noch weniger Zeit mit Markus verbracht. Wahrscheinlich hätte er mindestens so wie heute reagiert. Wie man es auch drehte und wendete, es gab einfach keinen guten Weg, die Wahrheit zu sagen. Jetzt kam sie allerdings nicht mehr darum herum, wenn es überhaupt noch eine Chance für ihre Beziehung geben sollte...
Das Brausen des Sturms über ihrem Kopf klang beängstigend und ihre Schritte beschleunigten sich. Sie wollte endlich raus aus dem Gelände und wieder bewohntes Gebiet erreichen. Mit Grauen dachte Susanne daran, dass sie noch durch die Allee fahren musste, was bei diesem Sturm überhaupt nichts Verlockendes an sich hatte. Sie sah umher, aber nicht eine Menschenseele war zu erblicken; es war, als wäre sie ganz allein auf der Welt. Endlich hatte sie ihr Rad entdeckt und seufzte erleichtert auf, denn damit war sie zum Glück im Nu zurück in der Zivilisation.
Doch als sie sich näherte, erschrak sie. Das Rad stand nicht mehr, es lag auf dem Boden, niedergerissen von einem dicken Ast, der quer über dem Mittelteil des Fahrrades lag. Nur das Vorderrad stand noch, von der Fahrradkette gehalten, in einem grotesken Winkel zum Rest. Susanne fuhr mit der Hand an den Mund und unterdrückte einen Aufschrei.
Dann versuchte sie mit aller Kraft, den Ast fortzuziehen. Die an ihm hängenden Zweige machten das Unterfangen nicht leichter. Sie schlugen ihr ins Gesicht und hinterließen Kratzer auf ihren Händen. Bald schon in Schweiß gebadet, rackerte sie sich weiter ab – doch vergeblich, der Ast war zu schwer, um ihn beiseite zu ziehen geschweige denn, ihn anzuheben oder das Rad darunter hervorzuziehen.
Tränen der Frustration und Verzweiflung traten Susanne in die Augen und erschöpft hielt sie inne. Es war nutzlos, sie würde zu Fuß gehen müssen. Resigniert schloss sie die Augen. Das war mindestens eine dreiviertel Stunde, vielleicht sogar eine Stunde bis zur S-Bahn.
Sie sah nach oben. Die Wolken trieben weiterhin rasch über einen Himmel, der in der Dämmerung zunehmend dunkler werden würde. Damit war keine Zeit mehr zu verlieren, wenn sie hier nicht irgendwann im Dunkeln stehen wollte. Susanne schritt deshalb zügig aus, alle Sinne auf Alarmbereitschaft gestellt. Es knackte an allen Ecken, Blätter raschelten, dünn gewachsene Bäume schwankten im Wind. Ab und an war ein leichtes Quietschen zu hören, von dickeren Bäumen, die sich dem Sturm entgegen stellten.
Einen Moment lang hielt Susanne schützend die Arme über den Kopf, obwohl das kaum helfen würde, wenn wirklich ein Ast auf sie herab fiele. Außerdem taten ihr schon bald die Arme weh. Als sie nach einer Ewigkeit die Allee endlich hinter sich gelassen hatte, atmete sie erleichtert auf und blieb erst einmal stehen und rieb sich die schmerzenden Rippen; vom schnellen Atmen hatte sie Seitenstiche bekommen. Nun hatte es endgültig angefangen zu regnen, und sie wusste nicht, ob es Tränen oder Regentropfen auf ihrem Gesicht waren....
Hier in der beginnenden Wohngegend wehte der Sturm nicht weniger heftig als am See. Kleine Zweige, Blätter und Blüten, Papierschnipsel und anderer leichter Müll wurden durch die Luft getrieben. Susanne sah auf die Uhr: sie würde zu spät zu Mamas Feier kommen. Aber das war ja bedeutungslos. Nichts war jetzt mehr wichtig, ohne Markus...
Susanne kniff die Augen zusammen. Sah sie etwa Gespenster, weil sie gerade an ihn dachte? Da kam doch wirklich jemand mit dem Fahrrad auf sie zu gefahren. Es war tatsächlich Markus, der vor ihr bremste, Erleichterung auf dem Gesicht und noch etwas, das sie nicht recht deuten konnte.
„Hier bist du also", stellte er fest und stieg vom Fahrrad.
„Ja, hier bin ich", gab Susanne zurück und spürte, wie die Tränen bereits wieder locker saßen.
War er noch sauer? Sie konnte seinen Worten nichts entnehmen. Nervös steckte sie ihre Hände in die Taschen ihrer Jacke.
„Ich habe mir Sorgen gemacht, wegen des Sturms und so..." fuhr Markus fort und jetzt hörte sie deutlich eine Unsicherheit in seiner Stimme.
„Schön, dass du umgekehrt bist", brachte sie noch leise heraus und dann rollten ihr unwillkürlich die Tränen, und sie senkte den Kopf, um es zu verbergen. Verdammt, wieso war sie bloß so nahe am Wasser gebaut?
Markus trat ein paar Schritte näher und berührte Susanne scheu an der Schulter.
„Tut mir leid, dass ich dich angeschrien habe", entschuldigte er sich leise. „Das ist blöd gewesen."
Mit dem Handrücken fuhr sich Susanne über die Augen und schniefte: „Mir tut es leid."
Und das tat es ihr wirklich. Am liebsten hätte sie alles ungeschehen gemacht und die Uhr um Monate zurückgedreht.
Markus legte seine Hände an ihre Taille und zog sie wortlos an sich. Suanne holte tief Luft und versprach mit klopfendem Herzen:
„Du kannst gerne meine Eltern kennenlernen."
Jetzt gab es keinen Weg zurück mehr. Bis zu diesem Treffen würde sie Markus alles erklären müssen. Und wer weiß, was dann passierte... Ein Zittern durchfuhr sie. Markus deutete es falsch.
„Ist dir kalt?"
Schützend legte er die Arme um Susanne in dem Versuch, sie vor dem Wind zu schützen.
Susanne roch Spuren seines After Shave und fühlte sich für einen Augenblick so geborgen, wie man nur sein konnte, wenn man in den Armen eines geliebten Menschen lag. Sie wagte nicht, sich zu bewegen, aus Angst, diesen wunderbaren Moment zu verlieren.
Schließlich war es Markus, der die Stille mit Worten füllte.
"Was ist denn mit deinem Fahrrad passiert?"
Im Nu hatte die Realität Susanne wieder, sie spürte das Toben des Windes und die Regentropfen, die er ihr ins Gesicht schleuderte. Hilflos zuckte sie mit den Schultern, als sie antwortete:
"Das liegt unter einem Baum begraben."
Markus machte ein entsetztes Gesicht, dann ergriff er entschlossen weitere Maßnahmen.
„Setz dich auf den Gepäckträger, ich bringe dich nach Hause."
Skeptisch beäugte Susanne das Rad und fragte sich, wo sie bloß ihre Füße lassen sollte, doch in Wirklichkeit war sie erleichtert, nicht noch den Rest des Weges laufen zu müssen. Außerdem hieß es wahrscheinlich, dass er ihr verziehen hatte. Susanne stieg auf, umfasste Markus' Taille und zog die Beine an und so landeten sie trotz Regens ziemlich bald vor ihrer Gartenpforte.
„Danke", sagte Susanne und wagte kaum, ihm in die Augen zu schauen.
„Kein Problem."
Seine Stimme klang weich und vertraut wie immer. Verlegen murmelte sie:
„Heute kann ich dich leider nicht mit hineinnehmen, wir haben eine Familienfeier. Aber ich frage mal, ob du nächste Woche zum Essen kommen kannst."
Sie linste scheu zu ihm hoch.
„Das wäre schön", erwiderte Markus lächelnd, beugte sich zu ihr hinunter und gab ihr einen liebevollen Kuss, in dem das Versprechen lag, dass alles wieder gut zwischen ihnen war.
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