14. September, Sascha
Sascha
Es fühlte sich gut an, Kathi bei mir zu haben, zu sehen, wie sich ihre blonden Locken anmutig um ihr Gesicht schmiegten und wie ihre Augen strahlten, wenn sie mich ansah, ihr Lachen zu hören und ihren Körper neben mir zu spüren.
„Wenn du bei mir bist, vergesse ich den ganzen Mist um mich herum", wisperte ich in ihr Ohr und fuhr mit der Hand sanft über ihre Schulter, während sie neben mir lag und den Blick über die Wand neben dem Fenster schweifen ließ, wo ein Kunstdruck von einem Segelboot im Meer hing.
„Dann sollte ich wohl bei dir bleiben" beschloss Kathi und sah mich mit einem Gesichtsausdruck an, dem ich nicht entnehmen konnte, wie ich ihren Satz auffassen sollte.
"Wie wäre es mit ich zu dir...?", gab ich schließlich zurück.
„Das wäre schön..." reagierte Kathi nunmehr verträumt und dann schien ihr zu dämmern, was sie gesagt hatte, denn sie reckte sich ein wenig und fragte mich dann:
„Hast du mitbekommen, was gerade in Ungarn los ist?"
„Hm", machte ich einsilbig, starrte erst auf die Konturen ihres Körpers unter der Decke und sah dann misstrauisch im Zimmer umher und schalt mich gleichzeitig für diesen verrückten Gedanken – mein Vater würde wohl kaum die eigene Wohnung abhören. Schließlich gab ich zu:
„Ich wollte im August nach Ungarn. Da, wo Rainer jetzt ist. Oder war. Und dann rüber... Aber stattdessen kam der Unfall."
Ich konnte nicht verhindern, dass sich totaler Frust in meine Stimme mischte.
„Scheiße!" fluchte Kathi laut aus vollem Herzen und presste enttäuscht ihre Lippen aufeinander. Fasziniert stellte ich fest, dass sich hinter ihrer meist an den Tag gelegten Lockerheit und Verspieltheit auch negative Emotionen versteckt hielten, als sie dann wütend wissen wollte:
„Wie ist das eigentlich passiert?"
Die Decke rutschte ihr von den Schultern, als sie sich energisch aufrichtete, aber ich sah nur ihre blitzenden Augen und das entschlossen vorgestreckte Kinn.
„Ein blöder Lastwagen, der zu schnell gefahren ist", gab ich zur Antwort und fügte ehrlicherweise hinzu:
„Es war meine Schuld. Ich habe beim Überqueren der Straße nicht aufgepasst.".
Kathi boxte mich vorwurfsvoll gegen die Brust. „Du bist echt bescheuert – leichtsinnig – unkonzentriert. Also Mensch...", sie holte tief Luft und ich grinste schief.
„Glaubst du, das habe ich mir nicht schon selbst hundert Mal gesagt? In meinen Gedanken war ich eben schon bei dir..." Mit meinem Arm zog ich sie sanft wieder zu mir herunter.
„Und sieh, wohin dich das gebracht hat..." murmelte Kathi und stützte sich anschließend gleich wieder auf ihre Unterarme. „Meine Eltern haben erzählt, dass eine Gruppe gegründet wurde, um Reformen in der DDR anzustoßen", berichtete sie. „Sie meinen, bei euch verändert sich gerade etwas."
„Kann sein...", gab ich vage zurück, fuhr mit den Fingerspitzen über ihre Schulterblätter und hatte gerade wenig Lust, über Politik nachzudenken.
„Merkst du was davon?", hakte Kathi nun neugierig nach.
„Kathi, ich war zwei Wochen im Krankenhaus", gab ich irritiert zurück und ließ meine Hand auf das Kissen fallen. „Da habe ich nichts von irgendetwas mitbekommen."
Kathi ließ sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen. „Wenn das stimmt...", fuhr sie aufgeregt fort, „...dann brauchst du vielleicht gar nicht nach Ungarn. Oder in die Tschechische Republik. Weil sich die DDR selbst verändert."
Ich schüttelte amüsiert den Kopf, sie war so rührend naiv. Sie kannte das Leben hier natürlich überhaupt nicht. Ich verschränkte die Arme hinter den Kopf und erklärte nachsichtig:
„Kathi, die DDR feiert nächsten Monat ihr vierzigjähriges Bestehen. Die Creme de la creme der Politik reist an, um das zu feiern. Da wird sich nichts verändern." Meine Stimme wurde ätzend:„Im Gegenteil, sie werden ihre „Erfolge" beklatschen. Und weitere Pläne machen, die das Land Null voranbringen." Ich verzog das Gesicht und blickte finster auf mein Gipsbein.
„Aber die riesige Zahl von Flüchtlingen..." wandte Kathi ein und sah mich unglücklich an, ihre Euphorie war mit einem Schlag verpufft, als wäre sie nie dagewesen, „...das kann doch einem Land auch nicht egal sein..."
Komisch hörte sich das Wort >Flüchtling< an, wie eine aus der Zeit gefallene Vokabel. Ich kannte Flüchtlinge nur als Kriegsflüchtlinge. War man auch Flüchtling, wenn man ausreisen wollte und eine offene Grenze wie jetzt in Ungarn überquerte? Es war ja eine Flucht vor dem, was der Staat verkörperte.... Ich schob die philosophischen Gedanken beiseite.
„Das bewegt die da oben nicht", behauptete ich.
Mein Vater hatte immer nur auf die geschimpft, die einen Ausreiseantrag stellten und ausreisen wollten, und ihnen keine Träne nachgeweint.
„Stattdessen werden sie alle Grenzen dicht machen, und dann kann man noch nicht mal ins sozialistische Bruderland reisen, du wirst sehen", prophezeite ich und starrte aggressiv auf die Zimmerdecke, als wäre sie an allem Schuld. Mein Visum für Ungarn lag in der Schublade, aber es würde mir nichts mehr nutzen.
Kathis Reaktion bestand in einem tiefen Seufzer. Sie legte sich wieder neben mich und kuschelte sich Trost suchend dicht an mich. Ich zog den Arm unter dem Kopf hervor, legte ihn zärtlich um meine Freundin und konzentrierte mich darauf, wie es sich anfühlte, ihre weiche Haut unter meinen Fingern zu spüren und das leichte Kitzeln ihrer Locken auf meiner Brust und versuchte so, den Ärger und Frust, die in mir schwelten, zu vergessen. Die plötzlich durch das Fenster herein flutenden Sonnenstrahlen umhüllten uns warm und vermittelten für einen Moment das Gefühl von Geborgenheit, das mir schon so lange abhanden gekommen war.
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