13. September, Sascha
13. September, Sascha
Die Sonnenkringel an der Wand waren das erste, was mir auffiel, als ich die Augen aufschlug. Endlich wieder zu Hause, seufzte ich froh und erleichtert, denn der Krankenhausaufenthalt war geprägt gewesen von Langeweile und dem grässlichen Gefühl, mich nicht bei Kathi melden zu können. Ich warf einen Blick auf meinen Wecker, der neben dem Bett stand und mir verriet, dass es zehn Minuten vor elf Uhr war. Offenbar war ich nach dem Frühstück, das mir meine Mutter netterweise ans Bett gebracht hatte, wieder eingeschlafen.
Ich reckte die Arme und gähnte herzhaft. Gestern Abend hatten sie mich vom Krankenhaus abgeholt, beide zusammen, denn meine Mutter fuhr kein Auto. Zu Hause hatte ich mich mit den Krücken und mithilfe des Treppengeländers in den fünften Stock hochgekämpft, da der Fahrstuhl passenderweise kaputt war. Das Hilfsangebot meines Vaters hatte ich kühl mit den Worten abgelehnt:
„Nein danke, ich verzichte."
Und so hatte es eben eine Ewigkeit gedauert, während mein Vater schweigend voraus gegangen war, die Haustür hinter sich offen lassend, während Mutti mich geduldig Stufe um Stufe begleitet hatte. Eigentlich hatte ich darauf keinen Wert gelegt, aber war klug genug gewesen, sie nicht vor den Kopf zu stoßen. Es reichte, dass ich es mir schon mit einer Person verdorben hatte. Wobei das ja nicht ganz richtig war, denn schließlich war mein Vater selbst Schuld daran, dass ich es nicht mehr schaffte, ihm mit einem Mindestmaß an Freundlichkeit gegenüber zu treten.
Bedächtig sah ich mich nun im Zimmer um. Jemand hatte aufgeräumt, das war wahrscheinlich Mutti gewesen. Der Stuhl stand ordentlich am Schreibtisch, einige Hefte und Bücher waren sorgsam aufeinander gestapelt worden, jegliche Kleidungsstücke waren vom Boden verschwunden. Ich fragte mich, ob sie auch an meine Schublade gegangen war. Hatte sie Kathis Briefe gefunden? Das Visum für Ungarn? Und wenn ja, hatte sie es meinem Vater erzählt?
Mühsam zog ich mich in eine sitzende Position. Die Uhr zeigte zwei Minuten vor elf Uhr, es war damit viel zu früh, um Kathi anzurufen, denn um diese Zeit würde sie noch in der Schule sein, meist war sie erst um vierzehn Uhr zu Hause. Das waren noch drei Stunden, die ich irgendwie totschlagen musste. Dabei konnte ich es kaum erwarten, sie anzurufen. Jeden Tag hatte ich an sie gedacht, gehofft, dass sie meine Nachricht noch rechtzeitig erhalten hatte. Mir gleichzeitig unglücklich ausgemalt, wie sie vergebens auf mich wartete.
Aber heute hoffte ich, sie endlich anrufen können, hoffte inständig, dass eine Telefonverbindung zustande kam, denn meine Eltern waren wie üblich den ganzen Tag arbeiten. Zwar wäre Mutti auch zu Hause geblieben, aber ich hatte ihr vehement mehrfach versichert, dass das nicht notwendig sei.
Drei lange Stunden lagen aber erst noch vor mir und ich beschloss, den Fernseher anzumachen, um zu schauen, was es Neues gab. Im Krankenhaus war ich so ziemlich von allen Nachrichten abgeschnitten gewesen. Meine Eltern hatten selbstredend nichts erzählt – wie es überhaupt in den letzten Wochen vor meinem Unfall zu Hause am Abendbrottisch ziemlich ruhig zugegangen war.
Während es sich mein Vater früher nicht hatte nehmen lassen, seine Ansichten zu diesem und jenem lautstark zu äußern und manchmal Erlebnisses von der Arbeit zum Besten gegeben hatte, war er seit dem Vorfall erstaunlich wortkarg geworden. Aber auch ich hatte kein Wort mehr an ihn gerichtet, das über ein höfliches "Kannst du mir bitte mal das Salz geben" hinausging. Lediglich Mutti hatte versucht, die Unterhaltung mit uns beiden am Laufenden zu halten.
Aber mein Vater war für mich gestorben. Ich konnte es noch immer nicht fassen, wie er auf meine Weigerung, den Kontakt zu Kathi abzubrechen, reagiert hatte. "Das ist dir hoffentlich eine Lehre", hatte er nach den Schlägen gesagt. Ja, es hatte mich etwas gelehrt. Nämlich dass mich in dieser Familie, in diesem Land nichts, aber auch gar nichts mehr hielt. Und wenn mein Vater nun dachte, dass er mich mit seinem Verhalten eingeschüchtert hätte, dann lag er völlig falsch. Keinesfalls würde ich die Beziehung zu Kathi beenden, dachte ich trotzig. Ich ließ mir doch von meinem Vater nicht vorschreiben, wen ich zu lieben hatte!
Dieser Vorfall war jetzt, ich zählte es an den Fingern ab, fast sechs Wochen her. Und ich würde keinen Schritt auf ihn zugehen. Mein Vater hatte sich nie entschuldigt, fand sein Verhalten offenbar angemessen, und das, fand ich, war das Schlimmste überhaupt.
Ich schob die Beine aus dem Bett, zog mich ächzend an den Krücken hoch und humpelte ins Wohnzimmer hinüber, eine Tortur mit einem Gips, der nur fürs Liegen vorgesehen war. Dazu ertrug ich mit zusammengebissenen Zähnen die höllischen Schmerzen in den Schultern, die Folgen der gestrigen Treppensteigerei, und war froh, mich schließlich auf das Sofa plumpsen lassen zu können.
Damit rechnend, wie immer mehrere Knöpfe drücken zu müssen, um den Empfang von Westfernsehen zu ermöglichen, war ich um so überraschter, als ich feststellte, dass das zuletzt angesehene Programm offenbar die ARD aus der Bundesrepublik war. Wer von meinen Eltern hatte das geguckt? Beide? Ein amüsiertes Lächeln stahl sich auf mein Gesicht, selbst in einem so linientreuen Haushalt wie unserem konnte offenbar nicht auf Westnachrichten verzichtet werden.
Im Moment lief irgendeine alberne Show, aber ich hatte nichts Besseres zu tun, hob das Gipsbein mühsam nach oben auf das Sofa und brachte mich dann eine halb liegende Position, die ein bisschen Linderung versprach. Ich war neugierig auf aktuelle Nachrichten, die bestimmt irgendwann zwischendurch kommen würden, Wortfetzen hatte ich im Krankenhaus von Besuchern und Personal aufgeschnappt, mir aber keine Reim auf die aktuelle Situation machen können. Mein ehemaliger Klassenkamerad Niko hatte mich einmal besucht und mitgeteilt, dass Sven und Nina aus der Klasse nicht mehr aus dem Urlaub nach Hause zurückgekehrt waren. Ich war überrascht gewesen. Von Sven hätte ich es am wenigsten erwartet.
Meine Gedanken wanderten hinüber zu Rainer. Wo mochte dieser jetzt stecken? War er noch in Ungarn? Oder hatte er es geschafft, sich in den Westen abzusetzen? Schließlich war es zwölf Uhr und in Kurzform wurde das Neueste präsentiert: Weitere DDR-Bürger versuchten, Zuflucht in die bundesdeutsche Botschaft in Prag zu nehmen. Man sah Bilder von Menschen, die über einen Zaun auf das Botschaftsgelände kletterten und von Polizisten, die versuchten, sie daran zu hindern. In Moskau berieten die Warschauer Pakt-Staaten über die Lage in Ungarn, das vor zwei Tagen die Grenze zu Österreich geöffnet hatte, die DDR protestierte.
Ich fluchte vernehmlich. Die Nachrichten frustrierten mich. Welche Möglichkeiten hatte es gegeben! Und ausgerechnet da musste ich diesen blöden Unfall haben! Wütend schaltete ich den Fernseher aus. Die Polizei hatte mich befragt, aber mehr als die Tatsache, dass es sich um einen LKW gehandelt hatte, war mir nicht eingefallen. Und es war vermutlich wirklich meine eigene Schuld gewesen, Unachtsamkeit beim Überqueren der Straße. Es gab also noch nicht mal jemand anderem, dem ich die Schuld an meiner Situation geben konnte. Allerdings war der LKW-Fahrer weitergefahren und die Polizei suchte ihn nun wegen Fahrerflucht. Es waren andere Passanten gewesen, die den Notarzt gerufen hatten.
Verzweifelt ließ ich den Kopf in die Hände sinken und verharrte so regungslos für einen Moment. Ich schwor mir, dass ich eine Alternative finden würde und hoffte, dass sich das Fenster der Geschichte noch einmal öffnen würde, wenn ich wieder fit war. Unzufrieden griff ich nach einer Zeitschrift, die auf dem kleinen Tisch neben dem Sofa lag, und versuchte mich darin zu vertiefen. Aber der Inhalt, den ich las, drang nicht bis zu meinem Gehirn vor.
Nachdem ich den gleichen Satz zum dritten Mal gelesen hatte, warf ich die Zeitschrift ärgerlich von mir und sah zu, wie sie ausgebreitet mit teilweise zerknickten Seiten auf dem Boden landete, was mich aus irgendeinem Grund befriedigte. Schließlich schaltete ich den Fernseher wieder ein, die Nachrichten waren vorbei und ich blieb an irgendeinem Spielfilm hängen, der mich für einige Zeit ablenkte.
Als der Film endlich zu Ende war, war es kurz nach vierzehn Uhr. Ich starrte das Telefon auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes an. Mein Herz klopfte, ohne dass ich bereits einen Schritt gegangen war. Dann hievte ich mich hoch, humpelte schwerfällig durch den Raum, ließ mich dann mit dem Telefon auf den Boden sinken und wählte eine Nummer. Und wählte wieder. Ich versuchte es fluchend so lange, bis meine Finger vom ständigen Drehen der Wählscheibe fast taub geworden waren. Da beneidete uns der Rest der Republik, dass wir in Berlin wenigstens direkt jemanden anwählen konnten, aber was nützte das, wenn die Leitungen ständig belegt waren?!
Dennoch, ich musste es weiter versuchen, ich musste Kathi einfach sprechen! Böse starrte ich auf das Telefon, als sei es Schuld daran, dass ich meine Freundin nicht erreichen konnte und versuchte es erneut; wenn einer meiner Finger schwächelte, war der nächste für ein paar Runden dran. Der Mittelfinger der linken Hand war an der Reihe, als sich plötzlich etwas veränderte und sich Hoffnung in mir breit machte. Die Leitung knackte mehrmals und jedes Mal dachte ich panisch, nun bräche das Telefonat ab, doch auf einmal war ein Freizeichen zu hören. Erleichtert stieß ich die angehaltene Luft aus und dann wurde auch schon am anderen Ende Berlins der Hörer abgenommen. „Susanne Diekmann" klang eine fröhliche Stimme aus dem Telefon.
Ich räusperte mich und sagte dann mit klopfendem Herzen:
„Hallo, hier ist Sascha. Kann ich bitte Katharina sprechen?"
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