10. Juli, Kathi
„Wir gehen jetzt ein Eis essen!"
Nicki griff resolut nach meiner Hand und zog mich zügig vom Schulgelände. Philosophie fiel aus und wir hatten daher zwei Freistunden, allerdings lagen sie blöderweise in der Mitte des Unterrichtsplans, sonst hätten wir schon nach Hause gehen können.
Ich fand es völlig bescheuert, dass jetzt noch Unterricht stattfinden musste, so kurz vor den Ferien, denn wahrscheinlich würden wir in den letzten Stunden ohnehin nur einen Film gucken – als wenn wir alle nicht Besseres mit unserer Zeit anzufangen wüssten. Dennoch war ich über die ausfallenden Mittelstunden erleichtert, denn dadurch musste ich Markus nicht gegenüber treten. Ich hatte es zum Glück bereits morgens auf dem Vertretungsplan entdeckt.
Nicki schnippte vor meinem Gesicht mit den Fingern und konstatierte:
„Du träumst ja. So könnte dich glatt ein Auto überfahren." Sie schüttelte amüsiert den Kopf.
„Ich verlasse mich eben ganz auf dich", konterte ich.
„Du weißt doch, wer sich auf mich verlässt, ist verlassen", gab Nicki trocken zurück und erinnerte mit ihrem Kommentar daran, dass wir uns auf der letzten Radtour so was von verfahren hatten, weil sie eine völlig falsche Karte dabei gehabt hatte. Ich sah auf ihre zuckenden Mundwinkel, die nur mühsam das Lachen zurückhielten und brach dann als erste in prustendes Gelächter aus.
Als sich der Verkehr auf der leider vielbefahrenen Straße endlich lichtete – denn wir waren selbstredend viel zu faul gewesen, um die 100 Meter bis zur Ampel zurückzulegen, lag doch das Eiscafe genau uns gegenüber – huschten wir über die Straße und betraten das Cafe, ohne dank der Freistunde dieses Mal anstehen zu müssen.
„Eine Waffel mit Eis, bitte", bestellte ich vergnügt und musste noch mehr lachen, als der Verkäufer, ein älterer Herr mit schütterem Haar, den ich hier noch nie gesehen hatte, erst ein verständnisloses Gesicht machte und dann Ungeduld zu zeigen begann.
„Ok, ein Eis in 'ner Waffel", korrigierte ich schließlich und sah absichtlich von Nicki fort, als ich versuchte mich zu beherrschen und in sachlichem Ton „Schokolade und Banane, bitte", zu bestellen.
„Und für mich das Gleiche", ließ sich Nicki vernehmen, bevor wir uns dann einen Platz im Garten suchten, den zur Zeit nur eine Gruppe Muttis mit Babys belegte, die aber anscheinend zufrieden und ruhig in ihren Kinderwagen vor sich hin dösten.
„Schieß los", begann Nicki, sofort nachdem wir uns in die Stühle fallen gelassen hatten, und natürlich war mir klar, worauf sie hinaus wollte. Ich war Nicki eine Erklärung schuldig und eigentlich nicht nur ihr... Ich seufzte tief und gab mir einen Ruck.
„Was ich dir sage, bleibt aber unter uns, okay?", vergewisserte ich mich dann und senkte unwillkürlich die Stimme.
„Pfadfinderinnen-Ehrenwort", schwor Nicki.
Ich kniff misstrauisch die Augen zusammen.
„Du warst doch noch nie bei den Pfadfindern."
„Nee, aber so macht man das", strahlte sie. „Ich schweige wie ein Grab – besser?"
Ich nickte. Und dann begann ich zu erzählen, angefangen von Susis Verliebtheit über meine Idee bis hin zu deren Folgen.
„Ihr seid ja echt nicht ganz dicht", war Nickis Kommentar und sie witzelte:
„Ist das ansteckend?"
„Na ja, wer A sagt, muss auch B sagen", seufzte ich und fing mit meiner Zunge gerade noch einen Eisklecks auf, der dabei war, auf meine Hose zu tropfen. Hätte ich gewusst, was sich aus unserem Rollentausch entwickeln würde, hätte ich es nicht begonnen, aber ich hatte mal wieder nicht über die Konsequenzen nachgedacht. Nicki wurde schließlich ernst.
„Das ist doch Wahnsinn, was ihr da macht. Wie soll das denn weitergehen? Irgendwann muss die Wahrheit doch ans Licht. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass Markus das einfach nur lässig zur Kenntnis nehmen wird. Obwohl – ich kenne ihn ja natürlich gar nicht."
Ich zuckte resigniert mit den Schultern.
„Ich auch nicht. Jetzt sind aber bald erst mal Ferien. Da findet Susi hoffentlich einen Weg, es ihm schonend beizubringen. Die Hauptsache ist, dass Sascha es toleriert."
„Dass du ihm das gesagt hast", wunderte sich Nicki und leckte eine Haarsträhne ab, die sich im Eis verfangen hatte. „Das hätte er doch nie erfahren."
„Aber es wäre nicht fair gewesen, es ihm zu verschweigen", verteidigte ich mich. „Außerdem hatte ich gehofft, dass er meine Gründe versteht."
„Beneidenswert" gab Nicki zu.
„Kein Wort zu Biggi, ok? Sie kann doch nichts für sich behalten." Mit einem Knacken zerkaute ich die restliche Waffel und leckte mir dann die Finger ab.
„'türlich nicht", versprach Nicki. „Aber du solltest es ihr irgendwie begründen. Vielleicht Zoff gehabt mit Sascha oder so."
„Mist. Es kommt mir vor, als würde ich Sascha verleumden." Ich ließ das Kinn auf die Arme sinken. „Von einer Story zur nächsten. Dass sie aber auch so sauer werden würde...Habe ich doch nicht geahnt."
„Ist doch klar!", unterbrach Nicki.
„Häh?" Ich warf ihr einen fragenden Blick zu.
„Na ja, Biggi hatte doch auch ein Auge auf ihn geworfen. Sie hat ganz oft zu ihm geschaut, an diesem Tag in Ostberlin, aber er hatte ja nur Augen für dich. Da lässt sie das natürlich nicht kalt."
„Habe ich gar nicht bemerkt", stellte ich überrascht fest.
Nicki lachte auf. „Natürlich nicht. Deine Augen waren ja auch woanders."
Wenn ich ehrlich war, musste ich zugeben, dass ich im Moment ein kleines bisschen erleichtert darüber war, dass Sascha nicht hier bei uns lebte. Das wäre was geworden, wenn Biggi davon ausginge, wir wären auseinander...
„Wann warst du denn drüben?", unterbrach Nicki meine Gedanken.
„Gestern."
Wir standen auf und rückten die Stühle zurecht.
„Gestern? Da hat es doch so gegossen."
Ich schlang mir den Rucksack über die Schulter und nickte.
„Das heißt, du warst dann bei ihm zu Hause?", fragte Nicki neugierig weiter, während wir zurück zur Schule schlenderten, dieses Mal brav über die Ampel, die uns zur Freude sofort auf Grün sprang.
„Nee. Geht nicht, seine Eltern wissen ja nicht von mir." Ich schüttelte den Kopf. „Wir waren in der Datsche von seinem Freund."
„Datsche?"
„So ne Art Schrebergarten mit Häuschen. War vollgestopft mit Plunder.". Ich lächelte bei der Erinnerung. „Aber gemütlich genug." Und lächelte noch etwas breiter.
„Oh mein Gott – habt ihr?!"
Nicki riss aufgeregt die Augen auf und ich antwortete mit einem strahlenden Lächeln.
„Nein!" Nicki quiekte entzückt und drängte mich hinter die Tischtennisplatten. „Und??? Wie war's? Erzähl!!!"
„Aufregend. Und schön..."
Ich fühlte meine Wangen in der Erinnerung glühen und überlegte, wie weit ich ins Detail gehen wollte. Angesichts Nickis erwartungsvollem Blick fuhr ich schließlich fort:
„Der Sex selbst war eher kurz. Aber davor... Ich würd's jedenfalls wieder machen", schloss ich mit einem fröhlichen Grinsen.
„Bist du gekommen?"
Ich schüttelte den Kopf. „Aber das macht nichts. Es war auch so wunderschön." Ich spürte, wie sich ein verklärtes Lächeln in meine Mundwinkel stahl.
Nicki betrachtete mich ein Weilchen verzückt und erkundigte sich dann kurz darauf neugierig: „Und wie habt ihr verhütet?"
„Sascha hatte zum Glück ein Kondom dabei. Ich habe doch nichts geahnt. Hoffentlich haben die in der DDR eine gute Qualität...", versuchte ich ein wenig nervös zu scherzen.
Nicki seufzte neidisch. „Ich glaube, ich muss mir auch einen Typen aufreißen."
„Der Richtige kommt schon noch", tröstete ich.
Wir ließen uns auf das kleine Mäuerchen sinken, das eine Grünfläche mit Sträuchern umschloss, und sahen für einen Moment schweigend auf den leeren Schulhof. Dann gab ich dem Gespräch eine andere Wendung.
„Glaubst du, dass man aus der DDR fliehen könnte?"
Meine Freundin sah überrascht auf.
„Haben ja viele versucht. Die meisten haben es aber nicht geschafft, oder? Wieso?"
„Sascha hat so Andeutungen gemacht. Keine Ahnung, ob das als Scherz gemeint war."
Mit dem Fuß malte ich nachdenklich einen Kreis in den Sand.
„Ich hab 'nen bisschen Schiss, dass er so was versucht..."
„Ach was", beschwichtigte Nicki, „Das war bestimmt nur ein Witz. Durch die Anlagen kommt doch keiner durch. Und er ist doch sicher nicht lebensmüde."
„Er kann aber segeln", wandte ich ein und spielte mit einem Zweig in meinen Händen.
"Auf der Ostsee wird aber auch kontrolliert. Glaub mir, das war mit Sicherheit nur so dahingesagt", entgegnete Nicki überzeugt.
„Hoffentlich", seufzte ich und drückte verstohlen die Daumen.
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