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Herr Lorenzos Stück vom Glück

„Krasse Kiste, Yannik, alter! – Hast du das gesehen? Zack und Bumm!"

„Scheiße Leon, ja!"

Schneller, als jeder bis drei zählen kann, waren die Jugendlichen auf den Beinen und liefen im Spurt die paar Meter von ihrem Platz zu dem Grab. Seit sie sich vor drei Stunden im hinteren Teil des Friedhofes niedergelassen hatten, kniete der Mann wie ein Zinnsoldat davor. Neben ihm stand eine Flasche Wein und seine Hand umklammerte noch fest das Glas, aus dem er gerade eben getrunken hatte.

Leon, dem das schnelle Aufspringen nach dem langen Sitzen nicht guttat wusste nicht, ob sein Kreislauf deswegen am Abkacken war oder weil er Angst hatte.

„Yannik, ist er tot?"

Skeptisch hob Yannik eine Augenbraue und sah zu Leon, der auf Knien schlitternd neben dem Mann ankam.

„Beruhige dich Leon, Tote schnarchen nicht."

*****

Müde erhob er sich aus seinem Bett, kochte einen Espresso und aß wie jeden Morgen eines der süßen kleinen Teilchen, die er seinen Gästen als Empfehlung des Hauses reichte. Danach zog er sich seinen besten Anzug an. Zu warm für diesen warmen Sommermorgen, der schon fast an die Mittagszeit grenzte. Vorsichtig zog er das Schild aus der Schublade heraus, in der er die Dinge aufbewahrte, die wichtig waren, aber nicht ständig gebraucht wurden. Vor drei Jahren hing er es zum ersten Mal auf. Seitdem fühlte sich sein Leben an wie auf dem Abstellgleis.

Wie jedes Jahr nahm er eine Flasche von Marias Lieblingswein aus dem Regal, befreite sie liebevoll von Staub, richtete sich noch einmal die Krawatte, zog leise die Tür des Restaurants hinter sich zu und hing das Schild an die Tür. Sacht wehte es im Sommerwind und würde potenziellen Gästen verkünden, dass das Restaurant heute aus familiären Gründen erst um 18:00 Uhr geöffnet ist.

Mit einem letzten Blick auf sein kleines Reich nickte Herr Lorenzo zufrieden und schlug den schweren Gang zum Friedhof ein.

Wie an jedem Tag saß seine Nachbarin versteckt hinter der Küchengardine, um nichts zu verpassen. Mit Verdruss in der Stimme grummelte sie leise vor sich hin: „Eine Schande ist das. Nun schau ihn dir an, den alten Lorenzo. Da geht er wieder zum Friedhof und findet kein Ende in seiner Trauer um die Maria. Ein Mann in den besten Jahren, Haare viel zu früh ergraut und sein Gang schon so müde, als ob alles hinter ihm liegen würde. So findet der niemals wieder eine, die ihm im Restaurant zur Seite steht."

Beifall heischend schaute sie sich in ihrer Küche um. Nur das Knarren der Schaukel des Kanarienvogels in seinem Käfig und sein leises Tschiptschip, waren zu hören. So wie schon in den vergangenen fünf Jahren.

*****

„Yannik, was machen wir denn jetzt? Rufen wir einen Notarzt?"

„Leon, noch einmal, beruhige dich! Herr Lorenzo schläft. Schau doch, er hat in der Zwischenzeit die ganze Flasche Wein alleine ausgetrunken und das in der Mittagshitze, ohne Schatten über sich."

Kopfschüttelnd schaute Yannik auf seinen kleinen Bruder und Herrn Lorenzo. Er liebte Leon, wie man einen elfjährigen Bruder nur lieben kann, der gerade auf dem Weg war herauszufinden, ob er Fisch oder Fleisch sein wollte. Der Grund, weswegen sie sich heute überhaupt hierher zurückgezogen hatten. Leon wollte endlich rauchen lernen. Richtig Rauchen, nicht nur das Gepaffe, wegen dem ihn die anderen immer aufzogen. Für gewöhnlich waren sie auf diesem hinteren Teil des Friedhofes immer ungestört. Die großen Bäume auf dem „unbewohnten" Platz boten genügend Schatten und ihre Mutter würde sie hier niemals suchen.

Immer noch blass um die Nasenspitze, schaute Leon hoch zu dem Siebzehnjährigen, der ihm Bruder, Freund und Vater war. „Du kennst den Mann?"

„Jo, du auch! Herrn Lorenzo gehört das kleine italienische Restaurant, unten an der Straße."

Leon nahm den schnarchenden Mann genauer unter die Lupe und schüttelte energisch den Kopf: „Im Leben nicht. Der sah doch ganz anders aus. Hatte dunkle Haare, einen dicken Bauch und immer ein Lachen im Gesicht."

Unwillig schaute Yannik ihn an: „Glaub, was du willst, jetzt müssen wir auf jeden Fall erst einmal zusehen, dass er aus der Sonne kommt, bevor wir wirklich noch einen Notarzt brauchen. Schaffst Du es, ihn mit mir unter die Bäume zu bringen, wenn du die Füße nimmst?"

Seinen ersten Schrecken überwunden, nickte Leon seinem Bruder zu: „Denke schon, dass das geht, so viel ist ja nicht mehr an ihm dran."

*****

Die frühe sonntägliche Nachmittagszeit ruhte träge unter der Sommerhitze des Tages. Genauso ruhten auch die Menschen, die für gewöhnlich die verlorenen Seelen besuchten. So gelangen Yannik und Leon mit ihrer menschlichen Fracht nahezu ungesehen zu ihrem Schattenplatz unter den Bäumen. Genauso unbemerkt zog das Gewitter in Gestalt einer nicht mehr jungen und noch nicht alten Frau herauf, deren blonde Lockenmähne locker von einem bunten Tuch zusammengehalten wurde. Mit gerunzelter Stirn und mühsam unterdrücktem Zorn schaute sie den Jungen entgegen, die hin- und herschwankend einen Mann den Weg hinauftrugen. Mehr stolpernd als gehend kamen sie ihrem Platz entgegen, immer darauf bedacht, ihre Last nicht fallen zu lassen.

„Interessant, was die Herren so treiben, wenn sie bei Luigi Latein lernen. Seid ihr jetzt unter die Leichenfledderer gegangen oder wie darf ich das verstehen, was ihr da gerade treibt?"

Erschrocken von der Schärfe in der Stimme der Frau, die erbost die Zigarettenschachtel und das Feuerzeug in der Hand hielt, schauten die Jungen hoch von ihrer Fracht und ließen gleichzeitig los.

„Mama!"

*****

Hoffnungslosigkeit erfüllte Herrn Lorenzos ganzes Denken und Wesen an diesem Tag. In den seltenen Momenten, in denen er schonungslos ehrlich mit sich selber war, gestand er sich ein, dass dieses Gefühl an vielen Tagen das alles bestimmende war, was sein Tun und Handeln leitete. Aber was sollte er schon dagegen tun? Maria war die Sonne in seinem Leben. Ihr Lachen war stets herzlich und frei von jeder Arglist. Sie war der warmherzigste Mensch, den er je kennengelernt hatte. Für jeden, der Leid empfand, fand sie tröstende Worte und Zuversicht. Sie war perfekt und nicht nur er liebte sie dafür, dass sie war, wie sie war. Auch die Gäste liebten und vermissten sie.

„Ach Maria ...", seufzte Herr Lorenzo vor ihrem Grab kniend, als er all das Schöne der vergangenen Jahre an ihrer Seite an seinem inneren Auge vorüberziehen ließ. „Wenn ich doch nur wüsste, was ich machen soll ..."

Mit müden Bewegungen schenkte er sich ein weiteres Glas des blutroten Weines ein. Warm und dickflüssig, rann er in großen Schlucken die Kehle hinunter. „Zu viel und zu warm ...", dachte er noch, bevor er wie vom Blitz getroffen zur Seite kippte.

Er träumte und im Traum flog er. Es war anders als fliegen, ruckeliger, ungleich und immer wieder sackte er ab. Aber er war sicher, er flog. Nun würde er auf Engelsflügeln getragen den Weg gehen, der ihn zu Maria führte. Es war kein angenehmer Flug, aber wenn das der Weg zu Maria war, wollte er ihn gerne gehen. Mit einem Lächeln der Glückseligkeit auf seinen Lippen überließ er sich dem ruckeligen Flug, bei dem seine Arme sich merkwürdig baumelnd anfühlten. In einem kurzen Moment der Ruhe riefen seine Engel mit erschreckten Stimmen: „Mama!" Und er polterte unsanft auf den Boden.

Erschrocken riss er seine Augen auf. Mio dio, wo zur Hölle war er hier gelandet? DAS waren keine Engel. Engel hatten keine blauen Haare und trugen Ringe in der Nase.

*****

Wie ein Käfer auf dem Rücken lag Herr Lorenzo im Schatten, während sich zwei erschreckt dreinblickende Jugendliche mit blauen Haaren und bernsteinfarbenen Augen über ihn beugten. Der Ältere von beiden trug einen Ring in seinem rechten Nasenflügel und um ihren Mund trugen sie dieselben feinen Linien wie die Frau, die sich jetzt ebenfalls über ihn beugte. Eindeutig, er war nicht im Himmel, das war nicht Maria.

Zwischen den Jungen und dem Mann hin und herblickend, zischte die Frau leise die Jungen an: „Was habt ihr jetzt wieder angestellt?" Ohne, dass sie ihre Jungen hätte zu Wort kommen lassen, ließ sie Feuerzeug und Zigaretten fallen und ging neben dem Mann auf die Knie, der zuvor so unsanft auf dem Boden gelandet war.

„Herr Lorenzo, sind sie das? Geht es ihnen gut?" Schwach nickte er und lallte leicht mit leiser Stimme: „Si Signora, mir ist nur etwas warm und duselig."

Mit seinen Worten wehte ihr ein Hauch alkoholgeschwängerte Luft entgegen. Schnuppernd beugte sie sich über ihn, wobei sich das bunte Tuch aus ihren Haaren löste und sein Gesicht von blonden Locken bedeckt wurde. Immer noch mehr schlafend als wach, ließ Herr Lorenzo die Kakofonie von Wortfetzen an sich vorbeiziehen, als alle gleichzeitig redeten.

„Wir haben gar nichts angestellt."

„Du kennst ihn auch, Mama?"

„Ja klar Leon, du auch. Wir waren doch früher oft mit Papa in dem kleinen italienischen Restaurant, unten an der Straße, zum Pizza essen."

„Aber, der sah doch ganz anders aus."

„Ach Leon, da warst du doch auch noch klein."

„Wie bist du überhaupt darauf gekommen, dass wir hier sind?"

„Ist er betrunken?"

„Mama, es ist nicht das, was du denkst."

„Verkauft mich nicht für dumm, Herrschaften!"

„Luigi, dieser dämliche Sack, ich wusste gleich, dass das nicht gut gehen kann."

„Ach hör doch auf, eine bessere Idee hattest du doch auch nicht."

„Schluss jetzt Yannik und Leon, helft mir mal Herrn Lorenzo aus der Anzugjacke zu schälen, ist doch alles viel zu warm. Den Rest klären wir später."

Mit verklärtem Blick grinste Herr Lorenzo die Frau an, die jetzt mit energischen Bewegungen ihrer kräftigen, kleinen Hände die Haare erneut mit dem Tuch zusammenband. Vielleicht war er ja doch im Himmel gelandet und nur ein kleines bisschen vom Weg abgekommen.

*****

Gemeinsam gelang es ihnen, Herrn Lorenzo in eine halbwegs sitzende Position zu verfrachten und ihn der Krawatte wie der Anzugjacke zu entledigen. Mit geübten Fingern öffnete die Mutter der Jungen die oberen Hemdknöpfe. Danach zogen sie ihn weiter unter den Baum, wo er sich mehr schlecht als recht an dem dicken Stamm in der Senkrechten hielt.

„Mio dio", murmelte er immer wieder vor sich hin, während sein Körper sich immer wieder zur Seite neigte und am Stamm hinunterrutschen wollte.

„Hiergeblieben, Herr Lorenzo, schön wach bleiben."

Mühsam folgte er der Aufforderung der Frau und nuschelte: „Nur Lorenzo bitte!"

„Wie bitte?"

„Nur Lorenzo, nicht Herr Lorenzo", wiederholte er.

„Nun gut Lorenzo, ich bin Emmerilla und das sind meine Söhne Leon und Yannik." Nacheinander zeigte sie mit ihrer rechten Hand in die Richtung ihrer Jungen, die bis eben noch neben ihnen saßen, wo sie im luftleeren Raum hängen blieb, weil die Plätze jetzt leer waren.

„Verdammt noch mal! Wo sind die Bengel jetzt schon wieder hin?", fluchte sie leise vor sich hin, was Herrn Lorenzo ein leichtes Lächeln ins Gesicht zauberte.

„Mio Dio Emm... äh ..."

„Ist schon gut Herr Lorenzo, den Namen spricht sowieso niemand vollständig aus, die meisten nennen mich Emmi."

„Nur Lorenzo, Signora Emmi, nur Lorenzo. Nicht Herr Lorenzo, flüsterte er mit immer noch rauer, aber inzwischen etwas wacherer Stimme."

Emmerilla lachte leise: „Das wird wohl nicht so schnell gehen mit dem Umschalten Lorenzo. Als wir früher mit den Jungen bei Ihnen zum Pizzaessen kamen, hatten wir ihnen beigebracht, dass sie nicht einfach jeden Erwachsenen mit dem Vornamen anreden durften, der ihnen über den Weg lief. Deswegen nannten wir sie in unserer Familie immer Herr Lorenzo.

Wie aufs Stichwort erschienen auf dem Weg zwei blaue Haarschöpfe, die sich zügig näherten. Yannik ließ sich mit der leeren Weinflasche neben seiner Mutter nieder, während Leon das leere Weinglas neben Herrn Lorenzo abstellte.

„Wir haben das mal geholt, muss ja nicht jeder sehen.", ergriff Yannik das Wort. „Mama, können wir mal kurz unter vier Augen reden, bitte!", wobei er sie eindringlich ansah.

Wenn ihr kleiner großer Sohn so mit ihr sprach, blühte Emmis Herz auf. Mit seinen siebzehn Jahren war er ihr manchmal zu erwachsen und manchmal wünschte sie sich ihren unbeschwerten Jungen aus seinen Kindertagen zurück. „Sicher Sohnemann!"

Während sie sich erhob und die Erde von den Knien abklopfte, schaute sie mit gespielter Strenge im Blick auf Leon und Lorenzo: „Und ihr benehmt euch, solange! Leon, du achtest bitte darauf, dass Herr Lorenzo nicht einschläft."

Bei ihren Worten nahm Herr Lorenzo so etwas wie Haltung an, was am Baumstamm sitzend nicht ganz einfach war: „Si Signora Emmi, ihr Wort ist mir Befehl", was Leon breit grinsen ließ, als er das sah und hörte: „Zu Befehl Mama!"

Lachend drohte sie den beiden spielerisch mit den Fingern: „Nicht frech werden die Herren!", während sie sich gleichzeitig ihrem großen Sohn zuwandte. „Na, dann wollen wir mal Yannik."

*****

„Mio dio! Leon, deine Mama ist ein kleiner General."

Ein strahlendes Lächeln erhellte Leons Gesicht: „Ja, aber eigentlich nur, wenn wir wirklich etwas ausgefressen haben oder sie in großer Sorge ist."

„Und ... habt ihr etwas ausgefressen?"

Verlegen schielte Leon in die Richtung, wo Yannik und seine Mutter verschwunden waren: „Ja, ich denke schon." Mit lausbubenhaftem Blick sah er im nächsten Moment Herrn Lorenzo an: „Außerdem muss das echt komisch ausgesehen haben, als wir sie den Pfad hinaufgetragen haben."

Jetzt war es an Herrn Lorenzo verlegen auszusehen: „Und ich habe mich noch nicht einmal anständig dafür bei euch bedankt."

„Och, ist doch selbstverständlich."

„Ach kleiner Blauschopf, wenn das alle so sehen würden, wäre die Welt eine bessere."

Leon nickte. Auch wenn er gar nicht mehr so klein war, wie er fand, so wusste er doch genau, was Herr Lorenzo damit meinte. Bei den Schülern seiner Klasse klang Blauschopf wie eine Beleidigung; so wie Herr Lorenzo es aussprach, mit noch weingeschwängerter Zunge und italienischem Dialekt, fühlte er sich gestreichelt.

„Geht es Ihnen besser?"

„Si, Leon, si. Ich weiß nicht, was das heute mit mir geworden wäre, wenn ihr mich nicht gefunden hättet."

„Sie wirkten sehr traurig, wie sie da vor dem Grab gekniet haben."

„Si Leon, das bin ich auch."

„Mh, wir haben vorhin gelesen, dass heute der Todestag von Maria ist. War Maria ihre Frau?"

Müde und mit traurigem Lächeln nickte Herr Lorenzo: „Si Leon. Meine Frau und noch viel mehr."

„Mh...", gab Leon in einer Tonart von sich, die klar machte, dass er am Überlegen war, ob es sich gehörte überhaupt weiter zu fragen.

„Leon?"

„Ach Scheiß drauf!", seufzte er, „Ich soll sie ja wachhalten, da kann ich genauso gut fragen.

Also, wenn sie wirklich DER Herr Lorenzo sind, bei dem wir immer Pizza gegessen haben, dann sahen sie damals ganz anders aus. Sie hatten dunkle Haare, einen dicken Bauch und haben immer Scherze gemacht. Mit jedem."

Wissend nickte Herr Lorenzo und er war Leon auch gar nicht böse, dass er fragte. Im Gegenteil, es war lange her, dass man ihn gefragt hat, wie es ihm geht. Für die meisten war er nur noch der alte Lorenzo.

„Weißt du, Leon, wenn ein Mensch stirbt, dann verändert sich das Leben. Nichts ist mehr so, wie man es kannte und gewohnt war."

„Jap, ich weiß."

„Du weißt?"

„Jap! Vor sechs Jahren ist mein Vater gestorben und danach war auch nichts mehr, wie vorher."

„Das tut mir leid."

„Danke! Es ist lange her. An guten Tagen, kann ich über lustige Erinnerungen, die ich an ihn habe, lachen. Vieles weiß ich aber auch gar nicht mehr. Es macht mich manchmal traurig, wenn Yannik und meine Mutter über Dinge reden, die ich wissen müsste, sie aber verdrängt habe. "

„Das ist schlimm", nickte Herr Lorenzo wissen. „Ich weiß nicht, ob ich jemals über Marias Tod hinwegkommen werde. Mit ihr hat mich mein großes Glück verlassen und der Schmerz will irgendwie nicht weniger werden."

„Jap, ich weiß, was sie meinen. Yannik und ich haben Glück, wir haben noch unsere Mutter – sie ist die beste Mutter der Welt."

Gedankenverloren spielte Leon mit einem kleinen Stöckchen, das neben ihm gelegen hatte und mit dem er jetzt Kreise in den losen Boden malte.

„Und was ist mit ihrem kleinen Glück?", wollte er plötzlich in die entstandene Stille hinein wissen.

Verständnislos blickte Herr Lorenzo den Jungen an. „Ich verstehe nicht, Leon. Was meinst du mit meinem kleinen Glück."

Mit lehrerhaftem Blick schaute Leon ihn an, hob die Stimme und ahmte seine Mutter nach, indem er den Zeigefinger hob und sprach: „Sie haben ihr kleines Glück vergessen, Herr Lorenzo, das ist bei Strafe verboten."

Jetzt mussten beide herzhaft lachen, dass Herrn Lorenzo die Tränen in die Augen stiegen und Leon sich den Bauch hielt. Als sich beide beruhigt hatten, wurde Leon wieder ernst.

„Im Ernst Herr Lorenzo, sie haben wirklich ihr kleines Glück vergessen? Können sie sich wirklich gar nicht daran erinnern?"

Wortlos schüttelte Herr Lorenzo den Kopf. Der Junge hatte ja recht. Früher war er ein Charmeur und Sprücheklopfer, hatte immer einen Scherz auf Lager und war immer fröhlich. Wie sollte er das heute noch alles wissen, was er damals so von sich gegeben hatte.

„Mir hat ihr kleines Stück vom Glück jedenfalls immer geholfen. Als mein Vater gestorben war und meine Mutter mit uns noch zu ihnen kam, da habe ich oft geweint. Sie gaben mir so ein kleines, süßes Kuchenstückchen und sagten: „Eh kleiner Señor, wenn die Welt so traurig ist, dass der Himmel weint, dann denk an ein kleines Stück vom Glück." Dabei strubbelten sie mir durch die Haare und ich schluchzte, was denn so ein kleines Stück vom Glück wäre. Da zogen sie mich auf ihren Schoß und flüsterten mir ganz leise ins Ohr: „Jedes schöne Erlebnis, jeder gute Gedanke und jedes liebe Wort, dass dir jemand beschert hat, ist wie ein kleines Geschenk. Jedes dieser kleinen Geschenke ist ein kleines Stück vom Glück. Wenn du jeden Tag nur einmal an etwas Schönes denkst und dich darüber freust, wird es besser werden. Jeden Tag ein kleines Stück vom Glück, bringt das Lachen dir zurück." Dabei haben sie mir auf die Nase gestupst und ich habe gelächelt."

*****

„Mama, es tut mir leid! Aber es ist wirklich nicht, wie du denkst."

„Was genau tut dir leid Yannik? Und was genau glaubst du, was ich denke?"

„Na, dass wir dich angelogen haben, mit Luigi und dem Latein lernen. Aber geraucht haben wir nicht."

„Yannik, ich weiß, dass ihr nicht geraucht habt, die Zigarettenschachtel war noch voll, aber ihr hattet es vor."

„Nein!"

„Nein?"

„Nein! Leon hat es nicht ganz leicht in seiner Klasse. Irgendwie ist er immer außen vor und seit Neuestem sind die Tonangeber auf den Trichter gekommen, dass Rauchen cool ist. Eine Hänselei gab die andere und irgendwann hat er klein beigegeben und auch einen Zug genommen. Ich stand in der Nähe und konnte das Desaster verfolgen, wie er zu husten und würgen begann, weil er den Qualm sofort in die falsche Röhre bekommen hat. Seitdem hat er immer nur gepafft und wird deswegen auch wieder gehänselt. Es ist ihm alles furchtbar peinlich und irgendwie will er denen jetzt beweisen, dass er rauchen kann."

„Also wolltet ihr hier doch das Rauchen üben!"

„Nein Mama, wollten wir nicht. Also, ich nicht. Leon schon. Aber das ist einfach nur blöd. Wir laufen mit blauen Haaren durch die Gegend, weil wir nicht sein wollen wie die und er will denen beweisen, dass er rauchen kann. Deswegen bin ich heute hier mit ihm hergegangen und habe die ganze Zeit versucht ihn davon zu überzeugen, dass das quatsch ist."

„Und WAS Yannik, hattet ihr dann mit den Zigaretten vor?"

„Also ...", räusperte Yannik sich „... ähm."

„Yannik! Bitte in ganzen Sätzen, wenn es geht und am besten noch heute."

„Ähm, also, ja. Also Mama, mh ... kurz gesagt, mir ging es vor ca. zwei Jahren genauso wie Leon gerade. Und da habe ich mir die Zigaretten gekauft. Irgendwie habe ich mich dann aber doch nicht getraut und irgendwann auch nicht mehr gewollt. Das war die Phase, als ich mir darüber klar wurde, wie weit ich mit den anderen gehen wollte. Ich meine, wenn mir jemand sagt Hey, spring von der Brücke oder Kokse ab heute, mache ich das ja auch nicht."

„Na, das ist ja mal eine Beruhigung!", schnaubte Emmi halb aufgebracht. „Und auf die Idee, mal vorher mit mir darüber zu sprechen, seid ihr nicht gekommen? Bin ich eine so unmögliche Mutter?"

„Ne Mama.", grinste Yannik sich jetzt einen. „Du bist die beste und coolste Mutter, die wir uns wünschen können, aber lass mal, das ist Männersache."

„Männersache?", wiederholte Emmi mit gespielter Empörung und konnte das aufkommende Lachen nicht ganz zurückhalten. „Ich gebe dir gleich was, Männersache ..." und Yannik wusste, dass er gewonnen hatte.

Wieder ernst geworden fragte Emmi: „Und was glaubst du Yannik, hat Leon verstanden, warum es Quatsch ist rauchen zu wollen, nur, weil es gerade cool ist?"

„Ich glaube, verstanden hat er es schon, aber ich bin mir nicht sicher, ob sein Gefühl dazugehören zu wollen, nicht stärker ist."

„Ja, ich glaube, ich weiß, was du meinst. Die Haare wollte er damals blau gefärbt haben, weil du es so gemacht hast. Großes Vorbild, großer Bruder oder so was in der Art. Aber er ist eben nicht wie du. Da muss er aber selber hinter kommen. Wir können ihm nur Wege zeigen und das machst du ganz großartig, aber Yannik - gehen muss er sie alleine. Ich möchte nicht belogen werden – okay? Und mit dem Rauchen überlege ich mir was."

Zerknirscht und erleichtert gleichermaßen, nickte Yannik: „Okay Mama! Aber Mama, was hast du vor wegen dem Rauchen?"

Breit grinsend schaute Emmi ihren Sohn an, als sie sich im nächsten Moment umdrehte um zu Herrn Lorenzo und Leon zurückzugehen: „Ach nö Yannik, weißt schon ... du bist zwar der beste und coolste Sohn, den ich mir wünschen kann, aber lass mal, das ist Mamasache."

„Mama ...!", versuchte er es noch in hoffnungsvollem, drängendem Tonfall, doch es half nichts. Mit glockenhellem Lachen verschwand Emmi um die Kurve.

*****

Yannik, der seiner Mutter hinterhergelaufen war, lief sie fast um, weil sie plötzlich stehen geblieben war. Unter dem Baum stand Leon vor Herrn Lorenzo und lachte so befreit, wie sie ihn schon lange nicht mehr hatte lachen hören. Gleichzeitig wischte Herr Lorenzo sich Tränen aus den Augenwinkeln.

„Was verd..."

„Pssst Mama, hör doch mal, ich glaube ... Herr Lorenzo singt?"

In diesem Moment erklang Leons helle Stimme: „Und noch einmal, Herr Lorenzo."

„Mio dio, Leon, Gnade mit einem alten Mann."

„Nein, nein, nein, Herr Lorenzo." Wieder imitierte er den Tonfall seiner Mutter. „Sie sind kein alter Mann, sie sind ein betrunkener alter Mann und sie haben nicht auf ihr kleines Glück aufgepasst. Das muss bestraft werden. Also hopp, hopp, noch einmal. Und wenn es dann sitz, überlege ich mir vielleicht Gnade walten zu lassen."

Gottergeben schaute Herr Lorenzo zu Leon und begann mit leisem Singsang in der Stimme: „Jedes schöne Erlebnis, jeder gute Gedanke und jedes liebe Wort, dass dir jemand beschert hat, ist wie ein kleines Geschenk. Jedes dieser kleinen Geschenke ist ein kleines Stück vom Glück. Wenn du jeden Tag nur einmal an etwas Schönes denkst und dich darüber freust, wird es besser werden. Jeden Tag ein kleines Stück vom Glück, bringt das Lachen dir zurück."

Leon ließ sich neben ihn plumpsen und drückte ihm fest die Hände. Und jetzt, Herr Lorenzo, müssen Sie sich nur noch daran halten und es nie wieder vergessen.

„Si Leon, kleiner Signore mit großem Herzen. Auch wenn ich ein betrunkener alter Mann bin. Ich werde es nie wieder vergessen. Versprochen!"

*****

Ein Jahr später!

Grell schien die Sonne heute Morgen in den Schlafbereich von Herrn Lorenzos kleiner Wohnung über seinem genauso kleinen Restaurant. Bis vor einem Jahr hatte er es seit Marias Tod nicht mehr in dem gemeinsamen Schlafzimmer ausgehalten und sich ein Bett in die winzige Dachkammer mit dem überdimensionierten Fenster gestellt. Marias Lieblingsraum. Hell sollte er sein, wenn sie Zeit zum Lesen fand. Alles hier erinnerte ihn an sie. In der Wohnung genauso wie unten im Restaurant. Seit einigen Wochen schläft er wieder im Schlafzimmer. Nicht nur einmal hatte er daran gedacht, alles zu verkaufen und woanders neu zu beginnen. Aber was änderte das? Räume konnte man verändern, was man in seinem Herzen trug nicht - die Erinnerungen würden bleiben. Im vergangenen Jahr ist es ihm endlich gelungen einen Weg zu finden mit den Erinnerungen zu leben und trotzdem nach vorne zu schauen.

Er erhob sich aus seinem Bett, kochte einen Espresso und aß wie jeden Morgen eines der süßen kleinen Teilchen, die er seinen Gästen als Empfehlung des Hauses reichte. Wie jeden Morgen, seit er Leon das erste Mal begegnet war, legt sich ein Lächeln auf sein Gesicht. Danach zog er sich seinen besten Anzug an. Er hat sich einen hellen Sommeranzug aus Leinenstoff für diesen Zweck angeschafft. Leicht und luftig. Diesem warmen Sommermorgen angepasst, der schon fast an die Mittagszeit grenzte. Vorsichtig zog er das Schild aus der Schublade heraus, in der er die Dinge aufbewahrte, die wichtig waren, aber nicht ständig gebraucht wurden. Vor vier Jahren hing er es zum ersten Mal auf und erst seit einem Jahr fühlt sich sein Leben nicht mehr an wie auf dem Abstellgleis.

Wie jedes Jahr nahm er eine Flasche von Marias Lieblingswein aus dem Regal, befreite sie liebevoll von Staub, richtete sich noch einmal die Krawatte, zog leise die Tür des Restaurants hinter sich zu und hing das Schild an die Tür. Sacht wehte es im Sommerwind und würde potenziellen Gästen verkünden, dass das Restaurant heute aus familiären Gründen erst um 18:00 Uhr geöffnet ist.

Mit einem letzten Blick auf sein kleines Reich nickte Herr Lorenzo zufrieden und schlug den schweren Gang zum Friedhof ein.

Wie an jedem Tag saß seine Nachbarin versteckt hinter der Küchengardine, um nichts zu verpassen. Mit Verdruss in der Stimme grummelte sie leise vor sich hin: „Eine Schande ist das. Nun schau ihn dir an, den alten Lorenzo. Da geht er im hellen Anzug auf den Friedhof, als ob er auf ein Sommerfest geht. Die arme Maria. Kaum ist sie unter der Erde, freut er sich wieder seines Lebens. Lacht ständig und schäkert mit den Gästen. Der Bengel mit den blauen Haaren, der seit einem Jahr ständig bei ihm aushilft, wird ihm noch Unglück bringen. So einer macht ihm noch das ganze Geschäft kaputt. Eine Schande, ich sag dir das."

Beifall heischend schaute sie sich in ihrer Küche um. Nur das Knarren der Schaukel des Kanarienvogels in seinem Käfig und sein leises Tschiptschip, waren zu hören. So wie schon in den vergangenen sechs Jahren.

°*°*°*°☆°*°*°*°

Ende


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