xii - reis und verbündete
Der Boden glühte rot, genau wie der Mond. Überall um ihn herum rannten Menschen herum, die Augen vor Angst weit aufgerissen. Wovor hatten sie Angst? Und wer war das Monster, das für die zerfetzten Leiche am Boden zuständig war?
»Schnell, tötet ihn!«, brüllte da jemand hinter ihm, dann bohrte sich etwas in seinen Schulter. Schmerzen durchdrangen ihn wie ein Schwert, entzündeten das Feuer in seinem Inneren erneut. Wutentbrannt drehte er sich um, blickte direkt in die ängstlichen Augenpaare, die ihn anstarrten. Dann war einer der Menschen weg. Und noch einer. Und noch einer. Als er sich umdrehte, lagen drei Leichen am Boden. Der Vampir senkte den Blick auf seinen Hände. Sie waren blutig, genau wie das Messer, das er in der Hand hielt. Ah, ja, jetzt erinnerte er sich. Er war das Monster. Er hatte all diese Menschen getötet.
Mit einem Schlag zerteilte er einen Körper in zwei Hälften, dem Nächstem rammte er die Waffe in die Brust und zerfetzte dann seinen Kehle. Vor ihm landetet ein weinendes Mädchen am Bode. Nein, das war ein Kind. So weit würde er niemals gehen . . . Das Messer bohrte sich in ihren Hinterkopf und drehte sich ein paar Mal.
Das war der Moment, in dem Vanitas erkannte, das er sich nicht wehren konnte. Diese Mordlust, die ihn immer weitertrieb und ein Leben nachdem Anderem auslöschte – das war sein wahres Ich. Er konnte nicht gegen sich selbst kämpfen, oder?
Das Messer schoss nach vorne, ein weiteres Ziel suchend. Doch da war niemand mehr. Nur noch er, der Mond und ein riesiges Leichenfeld. Über und über von Blut bedeckt drehte er sich um, stolperte durch die Berge aus leblosen Körpern. Immer weiter trieb die Mordlust ihn, auf der Suche nach einem Opfer. Bis er plötzlich versank, in einer dickflüssigen, roten Flüssigkeit, die ihn nach unten zog. Den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet verschwand er, alles wurde rot. In seinen Ohren dröhnten die angsterfüllten Schreie der Menschen, das Weinen der Kinder, die er zerfetzt hatte.
»Monster! Verschwinde!«
»Schnell, tötet ihn! Rammt einen Pfahl in sein Herz!«
»Mama! Mama, wach wieder auf!«
»Bitte verschonen mein Kind, sie ist doch noch so jung . . .«
»Verbrennt ihn! Verbrennt ihn!«
»Nein, lauft weg! Flieht!«
Er schrie. Diese Stimmen, sie sollten verschwinden. Verzweifelt streckte er die Hand aus, irgendjemand musst doch hier sein. Irgendjemand auf dieser Welt musste ihm doch verzeihen können. Irgendjemand!
Keuchend riss Vanitas die Augen auf und starrte in das helle Licht, das die Lampe über ihm ausstrahlte. Er schwitzte am ganzen Körper, sein Atem ging stockend. Kurz hatte er den Eindruck, wieder in das Rot gezogen zu werden. Dann merkte er, das jemand seine Hand hielt.
»Was zur Hölle tust du da?!«, fauchte er und riss sich los, was seinen Retter dazu brachte, verwirrt den Kopf schiefzulegen. »Sieht man das nicht? Ich passe auf, das niemand dich angreift, während du schläfst!«
Der Vampir schnaubte ungläubig und funkelte Evelyn böse an. Er konnte sehr gut selbst auf sich aufpassen, außerdem würde ihn doch eh niemand vermissen, wenn er starb. Er war ein Monster, dessen Tod ein Grund zum Feiern wäre, das hatte sein Traum ihm wieder gezeigt. Das Evelyn seine Hand genommen hatte, hatte absolut nichts zu bedeuten!
»Kannst du das nicht mit ein paar Metern Abstand machen, Idiot?«, knurrte er und setzte sich auf, bereute das aber gleich darauf wieder. Um ihn herum begann sich alles zu drehen. Komisch, das erinnerte ihn sehr an den ersten Morgen, den er im Anwesen der Solares' verbracht hatte. Hoffentlich tauchte diesmal niemand auf und drohte ihm mit einer Spritze.
»Könnte ich. Aber du hast geschrien und deine Hand ausgestreckt, da dachte ich, ich nehme sie einfach Mal. Du sahst aus, als ob du jemand gebraucht hast, der deine Hand hält«, erklärte Evelyn verwirrt, erschien einfach nicht zu verstehen, was daran so verwerflich war. Ja, was war daran eigentlich so verwerflich? Vanitas wusste es selbst nicht genau. Es gehörte sich wahrscheinlich einfach nicht, die Hand eines Monsters zu nehmen.
»Und was, wenn ich deinen Arm abgerissen hätte? Schonmal darüber nachgedacht, dass das meine eigentliche Absicht gewesen sein könnte?«, grummelte er weiter, langsam beruhigte sich sein Kopf wieder. Seine Gehirn jedoch nicht, das versuchte immer noch zu verstehen, wie jemand wie Evelyn jemand wie ihm helfen konnte.
»Du hast geweint«, erwiderte Evelyn leise, als ob er sich nicht sicher war, ob er das wirklich sagen sollte. Nun ja, hätte er nicht. Kurz überlegte Vanitas, ihn einfach umzubringen, damit er niemandem davon erzählen konnte, doch dann stand er einfach nur schwungvoll wieder auf. »Ein Wort zu Iliés oder irgendjemand anderem, und ich reiß dir den Kopf ab.«
Evelyn kicherte und folgte ihm mit einem besorgten Schimmern in den Augen, dass verblasste, als der Vampir demonstrativ die Tür aufriss. Natürlich, sein Kopf und die Stelle, an der das Messer gesteckt hatten, taten immer noch etwas weh, aber das würde ihn nicht aufhalten. Solche Schmerzen war er gewohnt.
»Wäre es nicht schlauer, wenn du mich erstickst oder ertränkst? Dann würdest du nicht so eine Sauerei anrichten«, schlug der Diener fröhlich vor. Einer der Bediensteten, der gerade den Flur entlang huschte, starrte ihn verstört an. Sein Herr schnaubte nur. »Na und? Ich müsste die ja eh nicht aufwischen.«
Evelyn nickte nachdenklich, dann lächelte er seinen Begleiter breit an. »Aber du könntest es aus Mitleid mit meinen Freuden bei der Dienerschaft tun!«, schlug er vor, dann blieb er plötzlich stehen. »Wohin gehen wir überhaupt?«, murmelte er, als hätte er erst jetzt bemerkt, das sie sich bewegten.
»Erstens: Ich habe kein Mitleid, schon gar nicht mit irgendwelchen Fremden. Und Zweitens: Zu Iliés. Ich muss sie fragen, ob sie diese zwei Verrückten geschickt hat. Auch wenn ich nicht glaube, dass sie mir ohne Weiteres antwortet«, antwortete Vanitas, während er sich fragte, warum er seinen Pläne überhaupt weitergab. Das passt doch eigentlich gar nicht zu ihm.
»Aber eigentlich geht dich das gar nichts an«, fügte er also schnell noch hinzu, nicht, dass Evelyn noch dachte, sie wären Freunde oder so etwas.
»Schon klar, Mister Steinherz«, flötete Evelyn belustigt, dann verkündete er zufrieden: »Aber diesmal kann ich sogar eine Hilfe sein! Du solltest nämlich in den Speisesaal kommen, sobald du aufwachst. Das Oberhaupt wünscht, dass du mit der Familie zu Mittag isst. Schließlich gehörst du jetzt auch dazu!«
»Und was, wenn ich einfach nicht komme?«, erkundigte Vanitas sich, er hatte absolut keine Lust, Iliés vor ihrer ganzen Familie auszufragen. Wobei, wenn er genauer darüber nachdachte . . . Ein diabolisches Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Vielleicht konnte er dieses Familienessen zu seinen Gunsten ausnutzen. »Na ja, dann wird das Oberhaupt sehr-«
»Vergiss es, ich gehe hin«, unterbrach der Vampir seinen Diener, was Evelyn ein erleichtertes Seufzen entlockte. »Gut. Ich führe dich hin« ,bot er an, dann verengte er kurz die Augen. »Du hast aber nichts vor, oder?«
»Ich? Wie kommst du nur darauf?«, erwiderte Vanitas spöttisch, diese Frage war ja fast schon rhetorisch. Natürlich plante er etwas. Warum sollte er sonst freiwillig zu einem Mittagessen mit seinen Feinden gehen? »Ich bin doch die Unschuld pur. Wieso sollte ich der erhabenen Familie Solares Schaden zufügen wollen?«
»Na ja, Iliés gemein zu dir, also könnte es ja schon sein, dass du ihr wehtun willst . . . Warte, das war Sarkasmus, oder?«
Mit einem Seufzen warf Vanitas dem Anderem, der ihn stolz anblickte, einen kurzen Blick zu. Wo war Evelyn bitte aufgewachsen, das er sich so schwer tat, einen Scherz zu erkennen? Schon klar, er hatte wahrscheinlich einige Jahre hier verbracht, bei den humorlosesten Menschen dieses Planten. Aber er musst davor doch irgendwas Anderes gemacht haben, oder? Niemand tauchte einfach so auf, jeder hatte Eltern. Was hatte Evelyn bitte für einen Kindheit gehabt?
»Erwartest du jetzt einen Applaus, oder was?«, spottete er, woraufhin Evelyn ihn beleidigt anfunkelte. »Nein, natürlich nicht. Deinen Applaus will ich eh nicht, der ist sowieso nicht ernst gemeint!«
Mit einem belustigtem Schnauben ging Vanitas um einen weitere Ecke und blieb dann vor dem riesigen Tor stehen, das ihm den Weg versperrte. »Hier ist dann wohl der Speisesaal? Nicht schlecht. Das ist so protzig, ich würde es am liebsten hier und jetzt in Stücke hauen.«
Evelyn schüttelte schockiert den Kopf und strich voller Bewunderung über die Goldtür. Natürlich, die vielen filigranen Muster mit den bunten Diamanten hatten schon was – Aber es war nicht schwarz. Und was nicht schwarz war, konnte in seinen Augen niemals richtig schön sein.
»Du hast einfach keinen Geschmack, Vanitas. Das ist Kunst, das darf man nicht einfach zerstören!«
»Pff. Wenn ich ein Bild von einem Abguss mache und das dann Kunst nenne, verteidigst du das dann auch?«
Kurz öffnete der Diener den Mund, um etwas zu erwidern, dann entschied er sich doch dagegen. Stattdessen schüttelte er nur ungläubig den Kopf und drehte sich um, als ob er sicherstellen wollte, das Vanitas nicht schon seinen Presslufthammer rausgeholt hatte. Sicher keine unbegründete Sorge – hätte er einen Hammer, würde er ihn nämlich definitiv benutzen.
»An deiner Stelle wäre ich zu Herr Solares und seiner Familie etwas höflicher als zu mir. Sonst mögen sie dich nicht, und dann wollen sie dir vielleicht wehtun!«, warnte Evelyn dann plötzlich besorgt, bevor er die Türflügel nach einem schnellen Klopfen aufstieß. Vanitas lachte spöttisch, dann trat er ein, ohne Evelyn noch einen Blick zuzuwerfen. Dann mal los in die Höhle des Löwens.
Das Erste, was Vanitas ins Auge fiel, waren die vielen, leeren Plätze, die mehr als die Hälfte der Speisetafel ausmachte. Früher hatten die Solares' anscheinend viele Gäste gehabt – und natürlich ein Familienmitglied mehr, das verstand sich von selbst. Warum sie die Stühle trotzdem stehen ließen, konnte er ja gleich fragen. Das machte doch sicher einen wunderbaren ersten Eindruck.
»Ist die Hälfte eurer Familie verreckt, oder warum sind da so viele Stühle frei?«, fragte er spöttisch, während er sich neben Iliés auf den einzigen Platz fallen lies, bei dem gedeckt war. Die Tischdecke war weiß, genau wie der Teller, die Serviette, die Wände– einfach alles hier war weiß. Würg. Vielleicht würde er ja mal einbrechen und das alles hier ein bisschen verschönern.
»Nein, niemand ist gestorben. Menschen sind jedoch sehr soziale Wesen, im Gegensatz zu Vampiren. Wir laden oft Gäste zu uns ein und bedienen sie dann auch. Kann ja nicht jeder so unzivilisiert wir ihr sein, Vampir«, zischte Iliés' kleiner Bruder, was Vanitas ein amüsiertes Grinsen entlockte. Wie niedlich – er beschütze seinen Vater, weil dieser nicht schlagfertig genug war, um sich zu wehren.
Bevor er zu einer Antwort ansetzte, nahm der Vampir sich erst einmal Zeit und musterte alle Anwesenden eindringlich. An der Spitze des Tisches saß natürlich das Oberhaupt der Familie, Joyce Solares, einen völlig neutralen Gesichtsausdruck aufgesetzt. Anscheinend hatte er in den letzten Tagen nicht gelernt, wie man lächelte. Was für einen Überraschung.
Neben dem alten Mann saßen die beiden Zwillinge, Arwyn und Elouan Solares. Obwohl sie angeblich ja gleichzeitig geboren worden waren, sahen sie so unterschiedlich wie überhaupt möglich aus. Elouan hatte karamellbraune Haut, so wie Iliés und sein Vater, sehr helle, blonde Haare und smaragdgrüne Augen. Arwyn hatte helle, fast schon weiße Haut – untypisch für einen Menschen, wahrscheinlich hatte sie Eisenmangel oder irgendeine Krankheit – lange, pechschwarze Haare und rote Augen, sie stach heraus wie ein Blutfleck auf einem Schneehügel.
Und dann war da natürlich Iliés – zwischen ihm selbst und Elouan. Als er in ihre bernsteinfarbenen Augen sah, erinnerte er sich wieder daran, wie sie ihn gefunden hatte. Halb tot, am Ende seiner Kräfte. Verwirrt musterte er sie. Warum hatte sie ihn nicht einfach umgebracht, wo sie die Gelegenheit gehabt hatte?
»Was? Hast du bei so viel Zivilisation vergessen, wie man spricht?«, kam es da erneut aus Elouans' Richtung. Vanitas seufzte genervt. »Nein. Ich verschwende meinen Atem nur leider nicht so gerne an unwichtige Zweitgeborenen.« Hoffentlich lag er mit seiner Vermutung richtig, das Elouan seine Position ein Dorn im Auge war. Dann hätte er schonmal einen Punkt, an dem er gut ansetzten konnte.
»Halt einfach die-«, setzte der Mensch an, verstummte aber, als er den Blick seines Vaters bemerkte. Obwohl er eigentlich keinen Grund hatte, sich noch mehr Feinde zu machen, fügte der Vampir mitleidig lächelnd hinzu: »Naw, wie niedlich. Ganz der brave Sohn, was? Seid ihr Menschen mit 17 Jahren noch nicht einmal in der Lage, selber zu sprechen?«
Obwohl er so aussah, als ob er das Küchenmesser neben seinem Teller am liebsten als Mordwaffe missbrauchen würde, hielt Elouan sich zurück und überließ seinem Oberhaupt das Wort. Genau dieses Oberhaupt seufzte nur gequält und deutete den Diener mit einem Winken an, das Essen zu bringen.
»Wie ich sehe, kennst du schon alle. Das freut mich«, sagte er, als die Dienerschaft verschwunden war. Irgendetwas war anders als das letzte Mal, als er dem alten Mann gegenüber gestanden hatte – er wirkte viel angespannter, als ob er erwartete, das jede Sekunde einen Bombe einschlagen würde.
»Die Freude ist ganz meinerseits. Es war nicht sehr schwer, alle Namen im Internet zu finden – eure Familie umgibt so viele Gerüchte, das man sie kaum zählen kann«, erwiderte Vanitas spöttisch und linste möglichst unauffällig auf das Gesicht des einzigen Menschen an dieser Tafel, über den er noch so gut wie gar nichts wusste –Arwyn. Doch das Wunderkind der Familie Solares lächelte nur und starrte auf den Tisch, als ob sie nur eine leere Hülle wäre. Gruselig.
»Immerhin sind wir bekannt – deine Familie ist nur eine Legende. Wie fühltes sich eigentlich an, immer einen falschen Nachnamen zu benutzen, um nicht ausgelacht zu werden?«, sagte Elouan, man hörte ihm an, dass er sich noch immer nicht beruhigt hatte. Doch bevor aus dem kurzen Schlagabtausch eine richtige Wörterschlacht werden konnte, öffnete sich das Tor und Bedienstete brachten silberne Platten zum Tisch.
»Das Essen ist angerichtet. Bedient euch nach Herzenslust«, eröffnete Joyce das Mittagessen und nahm sich selbst etwas. Die Auswahl war tatsächlich nicht schlecht – von Hähnchen bis hin zu Gurkensalat gab es alles, wirklich alles. Nur kein Sushi. Enttäuschend.
»Ich hätte da mal eine Frage: Zu wie vielen Auftragsmördern habt ihr ungefähr Kontakt?«, nahm Vanitas das Gespräch wieder auf, während er sich etwas Reis auf den Teller schob und eine hellbraune Flüssigkeit drüber kippte, die hoffentlich Rahmsoße war. Er fühlte regelrecht, wie sich die Menschen am Tisch verkrampften, die Diener beschleunigten ihre Schritte, um den Raum schnell zu verlassen. Vanitas lächelte in sich hinein. Bingo, das hatte sie überrascht.
»Meine Familie hat so um die sieben Kontakte, wenn ich über alle informiert wurde. Oder ist das bei euch Menschen nicht üblich? Erledigt ihr alles selber, egal wie dreckig eure Hände dabei werden?«, fuhr er locker fort, hob seine Gabel und kaute den Reis zufrieden. »Nicht schlecht, der Reis.«
Während Vanitas weiter kaute, herrschte im Rest des Raumes stille. Die Anderen hatten aufgehört zu essen, warum auch immer. Schließlich antwortete Iliés leise, voller Hass und Gehässigkeit.
»Das ist kein Thema, über das man beim Mittagessen redet. Aber eins kann ich dir sagen: Ein Mitglied der Familie Solares beauftragt keinen Auftragsmörder. Niemals. Wir sind in der Lage, selber zu töten«, sagte sie kalt, dann schob sie sich demonstrativ ein Stück Paprika in den Mund. Die Sekunden, in denen die Verlobten Blickkontakt hielten, waren stumm und voller Anspannung, dann räusperte Joyce sich.
»Anstatt über Auftragsmörder zu reden, sollten wir uns lieber einem anderem, fröhlicheren Thema zuwenden – eure Verlobung! Mir ist zu Ohren gekommen, das ihr euch bisher nur einzeln gezeigt habt, nie zusammen. Das ist schlecht für den Ruf unsere beiden Familie, weshalb ich mit dem Oberhaupt der Lunares' ausgemacht habe, das ihr zusammen auf eine Feier gehen werdet. In zwei Tagen, am Dienstag.«
Diesmal hörte auch Vanitas auf zu Essen und warf Iliés einen mürrischen Blick zu, den sie mindestens genauso geringer Begeisterung erwiderte. Eine Party, zusammen mit seiner mordlustigen Verlobten? Klar, er konnte sich nichts besseres vorstellen.
»Nun, ich verzichte«, begann er, ein Lächeln auf dem Gesicht. Dem Pokerface des großen Anführers zufolge hatte dieser schon erwartet, das keiner der beiden Hochzeitspartner einfach so zustimmen würde. Wie gut, dass Vanitas einen Trumpf in der Hand hatte.
»Und das würde wahrscheinlich jeder tun, der in meiner Situation wäre. Schließlich habe ich gerade erst eine Entführung samt Folter durch zwei Auftragsmörder hinter mir. Da kann man sich nie sicher sein, was als nächstes passiert.«
Schon zum dritten Mal wurde alles still, selbst Joyce entgleisten diesmal kurz die Gesichtszüge. Das bedeutete leider, dass die Entführer mit großer Wahrscheinlichkeit nicht von den Solares' gesendet worden waren, sonst wären diese besser auf die Frage vorbereitet gewesen. Er wand sich lächelnd an seine Verlobte. Blieb nur noch die Möglichkeit, dass Iliés auf eigene Faust gehandelt hatte. Oder jemand ganz anderes hatte sich angemischt – aber daran wollte er keine Gedanken verschwendet, bevor er nicht alles andere getestet hatte. Denn das würde das ganze Spiel wesentlich komplizierter gestalten.
Vanitas war so berechenbar, dass Iliés fast keinen Spaß mehr daran hatte, mit ihm zu wetteifern. Natürlich beschuldigte er sie, die Entführer geschickt zu haben – und natürlich erwähnte er mit keinem Wort, dass sie seine Retterin gewesen war. Wenn er sich überhaupt noch daran erinnerte, wie sie ihn in einer Pfütze seines eigenen Blutes gefunden hatte.
Unwahrscheinlich war es nicht, das er diese letzten Minuten vergessen hatte – die ganze Tortur durch die Entführer und dann noch in die Tür im Gesicht konnte nicht gesund sein, selbst für einen Vampir. Immerhin hatte er nicht wieder die Kontrolle verloren, das hätte die Rettungsaktion wesentlich komplizierter gestaltet.
»Iliés, was hat das zu bedeuten? Hast du Leute beauftragt, um deinen Verlobten . . . für eine Weile von der Bildfläche zu holen?«, riss ihr Vater sie aus ihren Gedanken, woraufhin sie genervt den Blick hob. Konnte dieses Möchtegern-Oberhaupt nicht einmal selber denken? Wo wäre ihr Vorteil dabei, Vanitas und Evelyn zu entführen, aber nicht umzubringen?
»Nein, natürlich nicht. Ich halte mich an unsere Prinzipien, Vater. Und wenn du dein Gehirn ein wenig anstrengst, kommst du auch dahinter, warum: Es bringt für mich keinen Vorteil, ihn und einen Diener zu entführen.«
Ich würde ihn eher umbringen, fügte sie in Gedanken hinzu. Aber das konnte und durfte ihr Vater nicht wissen, sonst würde er eventuell auch erraten, was sie wirklich vorhatte. Solange Vanitas an ihr klebte, lag dieses Vorhaben zwar auf Eis – aber es blieb ihr Ziel. Ihren Vater abzusetzen und selbst zum Oberhaupt zu werden, zusammen mit Ayera. Dann gäbe es keine altmodischen Regeln mehr, keine Entscheidungen, die an die eines ahnungslosen Kleinkindes erinnerten. Die Familie Solares würde wieder an Wichtigkeit gewinnen.
Und aus genau diesen Gründen klang sie etwas forscher als sonst. Es war einfach ermüdend, ihrem Vater dabei zuzuhören, wie Vanitas ihn verhörte und aus dem Konzept brachte, ohne große Schwierigkeiten. Der Mann war alt geworden. Wenn er das nur endlich akzeptieren würde.
»Natürlich, Iliés, ich weiß, wie prinzipientreu du bist. Verzeih mir, ich bin einfach müde. Die letzten Tage waren anstrengend«, gab Joyce ohne Widerworte nach, wie immer war er viel zu treu und gutgläubig. Ihre Familie bestand aus Verrätern, das wusste sie. Kein Wunder, bei einer Mutter, die mit einem Vampir durchbrannte. Und sie war da natürlich keine Ausnahme, weshalb sie nur mühevoll ein kaltes Lachen unterdrücken konnte. Sie hatte gestern – endlich – die Frau ihrer Träume geküsst und eine Assassine beauftragt. Zwei 'heilige' Regeln ihres Vaters, die sie ohne Gewissensbisse gebrochen hatte. Warum auch nicht? Er war nostalgisch, steckte in der Vergangenheit fest. Es war Zeit, ihn endlich von seinem Thron zustürzen.
»Anstrengend? In welchem Sinne?«, fragte Vanitas neugierig, wahrscheinlich nur daran interessiert, weitere Schwachpunkte seiner Gegner zu finden. Hoffentlich offenbarte ihr Vater nicht gleich irgendwas wichtiges und beschränkte sich darauf, oberflächliche Details von sich zu geben. Oder natürlich Vanitas selbst die Schuld in die Schuhe zu schieben, so wie sie es getan hätte. Schließlich hatte er in den letzten Tagen zweimal im Krankenzimmer gelegen und zweimal beinah einen der wichtigsten Diener umgebracht, wenn auch indirekt.
»Nichts bemerkenswertes. Ein paar Vampirgruppen haben Probleme gemacht.«
Erleichtert steckte Iliés sich etwas Reis in den Mund und wünschte sich kurz zurück in den Sushi-Laden, indem sie mit Ayera gewesen war. Oder zumindest wieder in Ayeras Nähe. Ohne sie war alles so langweilig und glanzlos.
»Ach, tatsächlich? Und was geht das euch Menschen an?«, schnaubte Vanitas, in Iliés machte sich Genugtuung breit. Er wusste also wirklich nicht, was so besonders an den Fällen der letzten Zeit war. Und sie würde alles daran setzten, das es auch dabei bleib.
»Nun,nsie haben in der letzten Woche insgesamt drei Menschen umgebracht und weitere vier schwer verletzt. Da war es an der Zeit, sich einzumischen«, fiel sie ihrem Vater ins Wort, bevor er noch etwas verriet. Der Trick beim Herausgeben von Informationen war, das man gerade so viel preisgab, wie man verkraften konnte, aber nicht auf eine Art und Weise, die vermuten lies, das man etwas verbergen wollte. Und nichts sagen war natürlich auch keine Option, das war am Verdächtigsten.
»Deine Familie scheint nämlich nicht in der Lage zu sein, ihre eigenen Leute unter Kontrolle zu halte«, setzte Elouan noch einen drauf, Joyce nickte stolz. Anscheinend begriff er nicht, das seine Kinder ihm nur halfen, weil sie sich selbst schützen wollten. Vanitas zuckte mit den Schultern. »Menschen sind einfach zu schwach, da ist es schwer, zu widerstehen.«
Typische Argumentation der Vampire. Das sie sich damit selbst auf unbeherrschte Tiere reduzierten, schien sie erstaunlich wenig zu interessieren – es ging nur darum, die Schuld auf Andere zuschieben. Lächerlich.
»Wie unkontrolliert Vampire sind, hast du uns schon eindrücklich bewiesen, mein Lieber. Darüber müssen wir nicht weiter reden. Eher interessant finde ich die Frage, wieso du einen unserer Bediensteten angegriffen hast«, lenkte Iliés vom Thema ab, ein angedeutetes Lächeln auf den Lippen. Sie wusste zwar, das sie hier auf Geschehnisse zurückgriff, die bereits mehrere Tage her waren, aber hier befand sie sich zwischen Menschen, die alle auf ihrer Seite waren. Vermutete sie zumindest.
»Genau, das würde mich auch interessieren. Der arme Evelyn ist bestimmt noch immer traumatisiert!«, bekräftigte Elouan sie, verstummte aber, als Arwyn ihn anstupste und bedeutungsvoll anstarrte. Er räusperte sich und fügte dann schnell hinzu: »Aber eigentlich sind wir doch nicht so nachtragend, oder, Iliés?«
Während Vanitas die Augenbrauen hob, begann Iliés lächelnd, weiteren Reis auf ihre Gabel zu schieben. Da hatte sie wohl falsch gedacht –Elouan war ihr eiskalt in den Rücken gefallen. Eigentlich kein Wunder, wenn man bedachte, das auch er gerne Oberhaupt der Solares werden würde.
»Ja, das stimmt, ich fragte jedoch nur nach Beweggründen. Eine Strafe oder Ähnliches habe ich gar nicht in Betracht gezogen, Elouan«,erwiderte sie sanft, als ob sie mit einem kleinen Kind reden würde. Denn genau das war er auch – ein naives Kind, das glaubte, sich in die Geschäfte der Erwachsenen einmischen zu können.
»Beweggründen? Nun, die sind ganz einfach – vampirische Triebe, Instinkte. Genau wie ihr Menschen feste Nahrung zu euch nehmen müsst, müssen Vampire Blut trinken. Und da ihr mich unter Drogen gesetzt habt, anstatt den Blutverlust durch die zahlreichen Verletzungen wett zu machen, ist es ganz natürlich, das ich die Kontrolle verloren habe. Das nennt man Blutrausch, müsstet ihr schon Mal gehört haben«, erklärte Vanitas spöttisch, dann fuhr er fort, bevor jemand kommentieren konnte: »Die interessante Frage ist also eigentlich: Ist die Familie Solares ungebildeter als jedes eingeweihte Straßenkind oder haben sie bewusst versucht, einen Blutrausch zu provozieren?«
Wenn er es so sagte, klang es ein bisschen, als ob das alles hier eine Reportage oder ein schlechter Krimi wäre, er nur ein unbeteiligter Zuschauer. Leider ein ganz schön nerviger Zuschauer, denn das war genau die Frage, die sie nicht beantworten konnte, ohne alles zu enthüllen. Ihr Vater musterte sie sichtlich verwirrt.
»Drogen? Ich kann man nicht erinnern, das angeordnet zu haben«, stellte er fest, dann wurde sein Blick fest und er sah von Elouan, der hämisch grinste, zu seiner ältesten Tochter, die ebenfalls verwirrt dreinblickte. Verwirrung vorspielen war jetzt das Beste, was sie tun konnte – mit etwas Glück könnte sie sich noch einmal rausreden. Und dann war es höchste Zeit, Vanitas endlich aus dem Spiel zunehmen.
»Ich kann mich auch nicht daran erinnern, welche verabreicht zu haben, Vater«, meinte sie mit gerunzelter Stirn und sah dann zu ihrem jüngeren Bruder. »Elouan . . . Hast du etwas einen Anschlag auf meinen geliebten Verlobten verübt?«
»Ich?«, fragte er überrascht und sah mit großen Augen in die Runde. »Ganz sicher nicht. Mir fällt hier am Tisch nur Eine ein, die so etwas Kaltherziges tun könnte. Und das bist du, geliebte Schwester.«
Als Iliés Vanitas' amüsierte Miene bemerkte, entschied sie sich, das hier schnell zu beenden. Es war an sich schon nervig, mit ihrem Bruder zu streiten, aber das ihr Feind zusah, machte das Ganze nicht besser. Doch bevor sie etwas sagen konnte, hob ihr Vater die Hand und bedeutete ihr, zu schweigen. Sein Blick wechselte zwischen Elouan und Vanitas hin und her, er schien sich nicht entscheiden zu können, wenn er als erstes anmeckerte. Das Verwirrende daran war, dass sie eindeutig die Schuldige war – sie war für Vanitas zuständig gewesen, als er bewusstlos im Bett gelegen hatte. Hatte sie vielleicht einen unerwarteten Verbündeten gewonnen?
»Elouan, bevor du jemanden beschuldigst, hätte ich gerne handfeste Beweise. Iliés würde so etwas niemals tun, und das solltest du wissen«, begann Joyce seine Strafpredigt, er wirkte etwas unbeholfen, wenn man ihn genauer betrachtete. Er verteidigte sie im Wissen, das sie schuldig war, gegen alle Tatsachen. Kein Wunder, das Elouan zu einem Widerspruch ansetzte. Es verließ jedoch kein Wort seinen Mund, da das Familienoberhaupt entschieden aufstand und damit das Gespräch beendete. Kurz nachdem Joyce stumm den Raum verlassen hatte, stand Vanitas fröhlich auf und winkte zum Abschied.
»Es war wieder einmal eine Freunde, meine Süßen«, verabschiedete er sich frech und verschwand, woraufhin die Zwillinge auch aufstanden und dem Vampir hektisch hinterhereilten. Genau wie sie gedacht hatte: Elouan hatte vor, sich mit ihrem Verlobten zu verbünden. Gar nicht so dumm wie sie erwartet hatte.
»Kommst du, Iliés?«, ertönte es da von draußen, Ayeras Kopf lugte in den Saal und lächelte breit. Für einen Moment vergaß Iliés, das sie zwei neue Feinde hatte, und erwiderte das Lächeln glücklich. Vielleicht flog sie einfach zusammen mit Ayera auf einen anderen Kontinent, fing ein neues Leben an. In Momenten wie diesen klang das wirklich nicht schlecht, nein, im Gegenteil. Was hielt sie eigentlich noch hier? Sie wusste es nicht. Vielleicht die Verpflichtungen ihrer Familie gegenüber, vielleicht die Erinnerungen an ihre Mutter. Vielleicht auch einfach ihr Stolz, der nicht tolerierte, das sie aufgab.
»Und, wie ist es gelaufen?«, fragte Ayera belustigt, sie wusste natürlich genau, wie Familienessen für gewöhnlich abliefen. Angespannt und hektisch, jeder wollte so schnell wie möglich wieder zu seiner Arbeit zurück. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie beinah denken, das Vanitas die ganze Lage entspannt hatte.
»Ganz gut, denke ich. Mein Vater scheint sich endlich für eine Seite entschieden zu haben – meine. Elouan jedoch auch. Und der war nicht so intelligent – er stärkt jetzt Vanitas den Rücken, vermute ich zumindest«, gab sie der Ergebnisse des Mittags in Kurzfassung wieder, Ayera lachte nur.
»Das war zu erwarten gewesen. Elouan war nie sonderlich schlau. Ohne die süße, kleine Arwyn wäre er wahrscheinlich schon längst Hundefutter.«
Mit einem amüsierten Kopfschütteln betrat Iliés ihr Zimmer und wartete darauf, das Ayera ihr folgte, was diese natürlich auch tat. Sobald die Tür geschlossen war, beugte sich Ayera gefährlich weit vor und grinste ihre Freundin frech an.
»Außerdem ist das vielleicht auch besser so. Sonst werde ich noch eifersüchtig, wenn du zu viel Zeit mit deinen Geschwistern verbringst.«
Iliés schüttelte lachend den Kopf und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Umso länger sie bei Ayera war, umso mehr vergaß sie all die Probleme, die sie hatte. Umso mehr wollte sie sich einfach ihrer Freundin hingeben, das ganze Chaos ausblenden. Und Ayera tat ihr den Gefallen. Bevor sie antworten konnte, lehnte sie sich vor und küsste Iliés.
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