Die (fast) perfekte Flucht
Bei der Kurzgeschichte handelt es sich um meinen Beitrag für den Wettbewerb von sweet_predator.
[1362 Wörter]
𝐃𝐢𝐞 (𝐟𝐚𝐬𝐭) 𝐩𝐞𝐫𝐟𝐞𝐤𝐭𝐞 𝐅𝐥𝐮𝐜𝐡𝐭
Er hatte es vermasselt.
Das wurde Benjamin in dem Moment bewusst, in dem er die heulende Sirene hörte, die ihm immer näher kam.
Sein Blick glitt von dem leblosen Körper vor seinen Füßen zu den Fenstern. Vermutlich waren diese seine einzige sicherere Chance, den Gesetzeshütern dieser Stadt zu entkommen, denn durch die Hotellobby konnte er - so wie er aussah - wohl kaum gehen.
Abermals wurde die Sirene lauter und er meinte, durch die Fensterscheibe in der Ferne bereits die rot sowie blau blinkenden Lichter des Polizeiwagens zu erkennen.
Diese Erkenntnis riss ihn aus der Starre, bewirkte, dass endlich wieder Bewegung in seinen Körper kam. Mit eiligen Schritten durchquerte er das luxuriöse Hotelzimmer und begutachtete seinen auserkorenen Fluchtweg. Dieser war nicht besonders erfolgsversprechend: Es gab keine Feuerleiter, keine Balkone und der rote Backstein erschien ihm zu glatt, um sich daran festzuhalten. Alles, was hinter dem Glas wartete, war der trügerische Schein einer gelungenen Flucht - etwa zehn Meter unter ihm.
Also blieb nur noch die Möglichkeit, einen Fluchtweg durch das Gebäude zu finden. Einen Notausgang, einen Personalausgang oder eine Zufahrt für Lieferanten, irgendetwas musste es hier doch geben.
Zum ersten Mal seit er dieses Zimmer betreten hatte, beschleunigte sich sein Puls und es fiel ihm zunehmend schwerer, an sein Entkommen aus dieser verfluchten Situation zu glauben.
Wie war es überhaupt soweit gekommen?
Normalerweise war er richtig gut in seinem Job. Er ging rein, drückte ab und flüchtete ungesehen vom Tatort. Aber heute war anders. Seine Frau lag am anderen Ende des Landes gerade in den Wehen und das zerrte ganz offensichtlich an seiner Konzentrationsfähigkeit. So hatte er seinem Ziel nicht das mit Chloroform getränkte Tuch ins Gesicht gedrückt, sondern das, mit dem er sonst die Gesichter seiner Ziele von dem Blut befreite.
Dieser kleine, winzige Fehler hatte zu einem Kampf geführt, der aufmerksame Gäste augenscheinlich dazu bewogen hatte, die Polizei zu rufen. Weiterhin waren seine dunkle Klamotten und auch sein Gesicht nunmehr mit Blut besudelt, während das Hotelzimmer einem Schlachtfeld glich.
Sein Boss hatte Recht gehabt, als er meinte, Benjamin solle sich Urlaub nehmen. Doch nun war es zu spät dafür und es zählte nur noch eines: Eine erfolgreiche Flucht.
Hastig entfernte er sich wieder von den Fenstern und ging auf die Zimmertür zu, an der eine Zeichnung mit Fluchtwegen für Notfälle hing. Aufgrund der herrschenden Dunkelheit im Zimmer konnte er jedoch nur schemenhafte Umrisse erkennen. Auch das noch!
Fieberhaft suchte er nach einer anderen Möglichkeit, als die Sirenen mit einem Mal verstummten. Die Polizei war hier, in unmittelbarer Nähe, und würde dieses Hotelzimmer bald stürmen. Mithin war keine Zeit mehr, um vorsichtig zu sein und überlegt zu handeln. Daher streckte er seine Hand aus und betätigte den Lichtschalter.
Nur wenige Wimpernschläge später, war der Tatort von Licht durchtränkt. Benjamins Augen brannten und es kostete ihn viel Mühe, diese offen zu halten. Weiterhin begann er, sich unwohl in der Helligkeit zu fühlen, wo er doch eigentlich stets in den Schatten arbeitete.
Er bemühte sich, sämtliche irrationale Gedanken, die ihm in dieser Situation eindeutig nicht weiterhalfen, zur Seite zu schieben. Durch seine ausreichende Berufserfahrung gelang ihm dies sogar zunächst.
Konzentriert begann er, den Plan zu mustern und versuchte zeitgleich, sich den Grundriss dieses Gebäudes in Erinnerung zu rufen. So stand er wenige Minuten vor der Tür, in denen er gedanklich immer neue Wege ausprobierte, die stets zu seiner Verhaftung führten.
Dann fiel ihm endlich eine Fluchtmöglichkeit. Sie war sehr riskant, jedoch blieb ihm nicht mehr genug Zeit, um sich etwas anderes auszudenken.
Ohne weitere wichtige Sekunden zu verschwenden, öffnete er vorsichtig die Zimmertür und spähte in den dunklen Flur hinein. Er konnte niemanden entdecken und auch sein Gehör bestätigte ihm, dass er noch allein auf dieser Etage war.
So leise wie möglich, verließ er das Hotelzimmer und schloss die Tür hinter sich. Im selben Moment registrierten die Bewegungsmelder im Flur seine Anwesenheit und die Deckenlampen tauchten diesen in ein schummriges Licht. Doch damit hatte er gerechnet.
Er zog sich seine Kapuze tiefer ins Gesicht und lief eilig den Flur entlang. Dank des roten Samtteppichs auf dem Boden und der Vorsicht, mit der er jeden Schritt ausführte, hörte man seine Bewegungen kaum. Ohne Zwischenfälle erreichte er so die Stahltür, die in das Treppenhaus führte.
Selbstverständlich war ihm bewusst, dass auch die Polizisten diesen Weg nehmen würden. Doch er war dem Dach immerhin näher als die Beamten seiner Etage. Außerdem war es ein Leichtes, einen Fahrstuhl anzuhalten. Da verließ er sich lieber auf seine eigene Schnelligkeit.
Vermutlich war dies nicht sein bester Plan, doch war es der Beste, den er aus dieser verzwickten Situation herausholen konnte.
Auf Zehenspitzen betrat er das Treppenhaus. Am liebsten wäre er die Stufen hochgesprintet, zwei auf einmal nehmend - doch das würde viel zu viel Lärm erzeugen. Also trat er seinen Weg zum Dach fast schon gemächlich an.
„Hier ist die Polizei, bleiben Sie sofort stehen!" Eine brüllende Aufforderung hallte durch die Etagen und ließ ihn für den Bruchteil einer Sekunde innehalten. Sein Herz begann, in einem erhöhten Takt zu schlagen und seine Brust zog sich zusammen. Doch Benjamin dachte gar nicht daran, stehen zu bleiben.
Sie hatten ihn gefunden.
Da es nun egal war, wie laut er war, begann er, die Treppen förmlich hochzuspringen. Hätte es einen Rekord für den schnellsten Aufstieg gegeben - er hätte ihn in diesem Moment gebrochen.
In seinen Ohren rauschte es und seine Hände begannen, zu zittern. Die Beamten waren ihm dicht auf den Fersen, zumindest dem Gepolter nach zu urteilen. Benjamin schätzte, dass es zwei Männer waren. Mindestens einer von ihnen schien übergewichtig oder unsportlich, vielleicht auch beides, zu sein, denn er schnaufte im Sekundentakt.
Es wäre doch lächerlich, sich von diesen Streifenbeamten fangen zu lassen! Er war dem Gesetz viele Jahre entkommen und das würde sich mit Sicherheit nicht heute, an diesem ganz besonderen Tag, ändern.
„Bleiben Sie sofort stehen oder wir schießen!" Dieses Mal kam die Drohung von dem zweiten Beamten. Doch Benjamin schüchterte er damit nicht ein, was zum Teil an den keuchenden Unterbrechungen lag, aber auch daran, dass er die gewöhnliche Flugbahn von Kugeln kannte.
Dennoch blieb er einige Atemzüge später tatsächlich stehen. Nicht jedoch, um sich verhaften zulassen, sondern weil er mittlerweile die Tür in die Freiheit erreicht hatte. Wie es sich für einen Notausgang gehörte, ließ die Stahltür sich problemlos öffnen.
Sein Puls beschleunigte sich ins Unermessliche, zeitgleich beflügelte ihn das Gefühl des Triumphes.
Er rannte nach draußen auf das Dach und nahm einen tiefen Atemzug von der frischen Luft, die ihm ein bedeutsames Leben hier draußen versprach. Ein Leben mit seiner Frau und seinem Kind. Allerdings hatte er keine Zeit, die Aussichten lange zu genießen, er hatte nicht einmal Zeit, den wunderschönen Sternenhimmel zu betrachten. Denn noch war er nicht ganz aus der Reichweite der Polizisten gelangt, die mit Sicherheit ebenfalls zeitnah das Dach betreten würden.
Daher rannte Benjamin zu der gegenüberliegenden Seite und begutachtete die spiralförmige Feuertreppe, die ihm vor lebenslanger Haft bewahren würde. Ohne zu zögern, betrat er die erste Plattform, umfasste das kalte Geländer und machte sich ebenso schnell wie zuvor daran, die Treppe hinter sich zu lassen. Übermütig nahm er zum Teil mehrere Stufen auf einmal, als er erneut Stimmen hoch über seinem Kopf hörte.
„Hast du dir die Stufen mal angeschaut? Man erkennt ja kaum was! Du gehst hinterher, ich warte unten auf ihn." Ja, es war definitiv von Vorteil, die Dunkelheit als seinen Verbündeten zu haben: So konnte er den Umriss jeder einzelnen Stufen einigermaßen erkennen.
Ein breites Grinsen schlich sich auf Benjamins Gesicht. Während seine Verfolger offenbar weiter darüber diskutierten, wer den Abstieg wagen sollte, würde er sich in aller Ruhe in Sicherheit begeben. Er würde zu seinem Auto laufen, das nur wenige Straßen entfernt geparkt war, und sie würden ihn ein weiteres Mal nicht in die Finger kriegen.
Beschwingt sprang Benjamin die letzte Stufe herunter und schlug sofort den Weg in Richtung seines Wagens ein. Das Adrenalin nahm langsam ab und die Routine kehrte zurück.
Ihm war in einer nahezu auswegslosen Situation die perfekte Flucht gelungen.
Nur mit Mühe konnte er ein fröhliches Pfeiffen unterdrücken. Statt sich seiner Freude hinzugeben, ging er standardmäßig den Einsatz noch einmal durch und blieb abrupt stehen, als ihm ein winziges Detail auffiel.
Seine Waffe lag noch im Hotelzimmer.
Er hatte es vermasselt.
🥉 3. Platz beim Wettbewerb 🥉
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