Herbststurm
Karamo unterdrückte ein Seufzen, als er auf das Chaos blickte, das ihn umgab. Es war nicht wirklich so gelaufen, wie er es geplant hatte. Vorsichtig suchte er sich einen Weg durch den Raum. Wenigstens war keiner gestorben. Nachdenklich musterte er den verdrehten Körper eines jungen Mannes. Hoffte er zumindest.
“Das ist wirklich ein Pech”, murrte Alba und wischte sich mit einem Tuch Blut von den Dornen ihrer rechten Hand. Sie hatte schnell reagiert und den Mann mit zwei gezielten Schlägen zu Boden gebracht. Karamo drehte das Gesicht des Fremden zu sich. Es gab keinen Zweifel. Es war der Gurin, der ihm auf dem Weg zum Stadthaus aufgefallen war. Karamo glaubte nicht an Zufälle. Sein Freund musste es geahnt haben. Draußen tobte ein ausgebildeter Sturm über Kimji hinweg und brachte das Stadthaus zum Wanken. Niemand im Haus hatte den Zwischenfall hören können, nicht bei diesem Wind. Wenigstens ein Lichtblick.
Mit klopfendem Herzen ging er zu der zweiten Gestalt am Boden. Das braune Haar umfächerte ihren Kopf und verdeckte ihre Gesichtszüge. Sanft schob er die Locken zur Seite und betrachtete das Mädchen. Waren sie zu spät gekommen? Er bückte sich und seine Knie knarrten ein wenig. Sie war leicht, wog kaum mehr als ein Kind. Dennoch war es offensichtlich, dass es sich um eine Erwachsene handelte.
“Es tut mir leid, Edeler.” Kiumbas warme Stimme zitterte leicht. “Ich habe nicht gut genug aufgepasst.”
Die Matratze gab ein wenig nach, als er den schlanken Körper des Mädchens ablegte. “Es ist nicht deine Schuld, Kiumba.” Mit Erleichterung sah er, dass sich ihr Brustkorb sanft hob und senkte.
“Aber”, protestierte sie und er brachte sie mit einer Bewegung zum Schweigen. Hierfür konnte er nur sich tadeln. Immerhin war ihm der junge Gurin unten auf dem Vorplatz aufgefallen. Sein Bauchgefühl hatte es gewusst.
“Niemand hätte damit rechnen können, dass heute nacht noch jemand versucht, hier einzubrechen.” Außer seinem alten Freund vielleicht. “Alba, du kümmerst dich um den verdammten Kuso. Kiumba, du holst Waris.” Es brachte seinen Zeitplan durcheinander, aber er musste dafür Sorge tragen, dass der Entwurzete das Mädchen nicht verletzt hatte. Oberflächlich konnte er nichts feststellen, aber man wusste ja nie.
Die beiden Getreuen verbeugten sich. Alba fasste den Mann an den Unterarmen und folgte der vorauseilenden Kiumba nach draußen. Durch das offene Fenster, durch das der Einbrecher geklettert sein musste, blies ein kalter Wind hinein. Das Heulen verklang als er die Läden schloß. Sein Magen rebellierte. Er war das Schwanken im Sturm nicht mehr gewohnt. Langsam drehte er sich wieder zu dem Mädchen um. Er hatte sie lange nicht mehr gesehen. Dreiundzwanzig Jahre, wenn er es genau nahm. Trotzdem hatte er sie sofort erkannt. Sein Herz hatte es gewusst, als er durch die Tür gespäht hatte und sie mit dem Kuso ringen sah. Sie war nun eine schöne junge Frau geworden. Ebenmäßige Züge, langes braunes Haar. Dennoch wirkte sie so klein in dem großen Bett, das den Raum dominierte. Es war so lange her. Sein Mädchen. Er strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht und fuhr über die dünne Rindenschicht, die ihre Unterarme umgab. Es war mehr dekorativ, bei weitem weniger zur Abwehr geeignet als seine Borke. Doch sie hatte den Angreifer aufgehalten. Heiliger Hain, Alba hatte gehandelt, wo er gezögert hatte. Wenn sie nur etwas später eingeschritten wäre, hätte der Entwurzelte ihr Genick gebrochen. Karamo wusste nicht, ob der Kuso auf Schätze oder anders aus gewesen war. Es interessierte ihn auch nicht. Wichtig war nur, dass seine Begleiterinnen schlimmeres hatten verhindern können. Hoffte er zumindest. Das Mädchen hatte ihm schon immer ähnlicher gesehen als seiner früheren Gefährtin. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Sie war sein Liebling gewesen und er hatte sie Poni genannt, die Zweitgeborene.
Es fiel ihm schwer, sich vom Bett zu lösen, doch er hatte noch eine Aufgabe zu erledigen. Hier, genau in diesem Raum war es damals geschehen. "Kommst du wieder?", hatte Poni gefragt, und die Lüge hatte ihn ein Fragment gekostet. Die Situation hatte ihn aufgewühlt und er hatte den Verlust erst viel später bemerkt. Seitdem fühlte er die Vergänglichkeit, wenn er über das Loch in seiner Borke Strich. Er ließ sich auf die Knie fallen und tastete den Bettrahmen ab. Als seine Finger über eine münzgroße Erhebung strichen hörte er die Bäume draußen seinen Namen wispern. Seine Reise war erfolgreich. “Karamo. Karamo. Karamo.” Wieso konnte er sie überhaupt hören? Das Fragment löste sich von dem Bettgestell und glitt in seine Hand. Das Brausen des Windes hatte nachgelassen. Er schob das Holzstück in seine Tasche. Stille umgab ihn,die nur von Ponis schweren Atemzüge unterbrochen wurde.
“Edeler?” Karamo zuckte bei Waris Worten zusammen. Im Türrahmen stand die zierliche Frau, gefolgt von der dunklen Kiumba.
“Kannst du nach ihr sehen?”
Waris verbeugte sich und eilte zu Poni, die sich bisher noch nicht bewegt hatte. Die Hände der Heilerin fingen an zu schimmern, als sie über den Körper der Bewusstlosen glitten. Dann schüttelte sie den Kopf. “Es tut mir leid, Edeler.” Ihre Hände bewegten sich, sie wusste das ihre nächsten Worte ihm nicht gefallen würden. “Sie hat ein Fragment verloren.”
“Das haben wir alle ab und an”, antworte er leichthin. Es würde, wie seins, in ein paar Jahren wieder auftauchen. Wenn es sich wieder zusammengesetzt hätte.
“Es war nicht ihr erstes.” Das war schlecht. Karamo fühlte die eigene Vergänglichkeit schon aufgrund eines Verlustes. Vor dreiundzwanzig Jahren, als das Weinen seiner Tochter etwas in ihm zerbrach, hatte das Schwinden begonnen. Jeder Verlust machte einen schwächer. Es gab Gurins, die schon mach zwei oder drei Abspaltung im ewigen Hain verschwanden. Er schluckte und strich von außen über seine Tasche. Es war keine schwere Entscheidung für ihn.
“Kannst du sie mit einem anderen Fragment verbinden?”
“Nur wenn es das eines Verwandten ist.”
Karamo, Karamo, Karamo. Die Bäume riefen ihn, als er das unscheinbare Holzstück in Waris Hände gleiten ließ. Verblüfft starrte sie ihn an. “Ich bin ihr Vater”, erklärte er.
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