Kapitel 9
Songempfehlung: Justine Sky ft. Tyga - Collide (Sped Up Remix)
Es war einer dieser Momente, in denen man vor Scham am liebsten im Erdboden versunken wäre. Einer dieser Momente, in dem sich einem der Magen umdrehte - oder in dem man am liebsten auf Kommando losgeheult hätte. Oder alles auf einmal.
Ich hatte diese verdammte Bucket Liste Professor Wright mitgegeben! Wie zur Hölle hatte mir das passieren können? Wahrscheinlich war sie irgendwie zwischen die Blätter des Aufsatzes gerutscht. Doch warum, um Himmels Willen, hatte ich den Aufsatz vorher nicht noch einmal kontrolliert?
Weil du zu spät dran warst sagte mir meine innere Stimme und ich verfluchte mich selbst für meine Nachlässigkeit. Caya neben mir, die sich seit einer gefühlten Ewigkeit in Schweigen hüllte, räusperte sich schließlich.
»Das«, begann sie zu sprechen. »Ist ziemlich ungünstig.«
Fassungslos schoss ich zu ihr herum.
»Ungünstig drückt es nicht einmal ansatzweise aus«, donnerte ich. »Es ist beschämend. Es ist armselig. Bemitleidenswert. Dämlich. Lächerlich. Einfach nur dumm.«
»Waren das schon alle Adjektive aus deinem Wortschatz, die dir dazu einfallen?«,Caya hob eine Braue und handelte sich einen vernichtenden Blick meinerseits ein.
»Ich kann von Glück reden, wenn er mich nicht erneut vor dem ganzen Kurs vorführt!«, ich unterdrückte den Impuls, mit dem Fuß gegen ein Möbelstück zu treten. Sicher würde ich mir dabei nur den Fuß brechen.
»Was mache ich denn jetzt nur?«
Geschlagen ließ ich mich aufs Bett plumpsen.
»Ich sehe hierfür nur zwei Optionen«, sie reckte symbolisch zwei Finger in die Luft. »Erstens: Wir brechen in sein Büro ein, schauen nach, ob der Aufsatz noch dort ist und setzen uns dem Risiko aus, erwischt zu werden und von der Uni zu fliegen.«
Ich stöhnte laut. »Und was ist die zweite Option?«
»Zweitens: Du nimmst dein Schicksal hin und wartest ab, wie er darauf reagiert.«
»Beides nicht sehr vielversprechend«, brummte ich. »Davon abgesehen habe ich mitbekommen, wie er den Aufsatz in seiner Tasche verstaut hat. Ich bezweifle, dass wir bei einem Einbruch in sein Büro erfolgreich sein würden.«
»Puh, das ist wirklich mies«, entgegnete sie nachdenklich, bis ihr schließlich noch eine Idee kam. Ihr Gesicht erhellte sich und ich konnte mir die Glühbirne, die über ihrem Kopf aufging bildlich vorstellen
»Oh, wir könnten herausfinden, wo er wohnt und bei ihm Zuhause einbrechen?«
»Hast du auch irgendeinen Vorschlag, bei dem wir nicht das Gesetz brechen müssen?«, fragte ich sarkastisch, was Caya ein Schmunzeln entlockte.
»Leider nicht, nein«, sie schüttelte den Kopf. »Aber hey, Luan würde uns bestimmt aus dem Schlamassel rausboxen. Er wird doch Anwalt.«
»Fantastisch«, nuschelte ich und ließ mich mit dem Oberkörper nach hinten aufs Bett fallen. Niedergeschlagen starrte ich an die Decke. Vor meinem inneren Auge malte ich mir bereits aus, wie Professor Wright wohl reagieren würde, sobald er die Bucket Liste gesehen und gelesen hatte. Wenn mir das Schicksal nicht wohl gesonnen war, würde ich womöglich wirklich die längste Zeit in Yale gewesen sein. Je nachdem, wie Professor Wright reagierte. Entweder würde er mich vor dem ganzen Kurs wieder einmal bis auf die Knochen blamieren oder er würde mir eine ewig lange Moralpredigt über Verantwortungsbewusstsein halten.
Miss Taylor, Ihr Verhalten ist absolut unangebracht. Ist Ihnen bewusst, dass nur ein einziges Wort beim Dekan genügt, um Sie der Universität zu verweisen?
Oh ja, ich konnte mir sogar genau vorstellen, wie er mich aus seinen schönen, grünen Augen herablassend anschaute, während er die hässlichen Worte aussprach.
»Ich schätze, ich werde mich überraschen lassen müssen.«
»Vielleicht reagiert er ja ganz anders, als du erwartest«, Caya zuckte die Achseln und ließ sich neben mir auf dem Bett nieder. »Jedenfalls wird er darüber nachdenken, wie es ist, mit dir zu knutschen.«
Ich öffnete ein Auge und spähte zu ihr rüber.
Caya grinste und starrte ebenfalls zur Decke hoch.
»Wieso sollte er?«, fragte ich zweifelnd.
»Na, weil es auf dem Zettel steht«, erwiderte sie wie selbstverständlich. »Wenn wir lesen, sehen wir währenddessen szenenartige Bildsequenzen vor unserem inneren Auge. Und wenn er sich erst einmal vorgestellt hat, wie es ist dich zu küssen, wird ihn der Gedanke daran nicht mehr loslassen«, ein verschwörerischer Ausdruck trat auf ihr Gesicht und sie drehte den Kopf in meine Richtung.
Ich hob eine Braue.
»Das ist Unsinn.«
»Bist du dir sicher?«, Caya grinste süffisant.
»Glaub mir, Caya, er wird ausrasten.«
»Das werden wir ja sehen.«
♥
Es vergingen zwei Wochen. Zwei ganze Wochen, in denen ich Professor Wrights Vorlesungen besuchte, ohne dass er den Zettel auch nur ansatzweise zur Sprache brachte. Es war, als hätte es die Liste nie gegeben. Ich traf mich sogar drei Mal mit ihm, um ihm bei der Forschung behilflich zu sein. Doch es kam keine Moralpredigt. Keine Andeutung. Nicht einmal der Hauch eines Hinweises darauf, dass er die Bucket Liste gesehen hatte. Absolut nichts. Allmählich zweifelte ich sogar daran, dass die Liste auch wirklich zwischen meinen Aufsatz gerutscht war. Oder gar existiert hatte. Aber selbst nach mehrfachen Suchaktionen in meinem Zimmer wurde ich nicht fündig. Die Liste musste sich in seinem Besitz befinden. Es konnte gar nicht anders sein.
Ich verdrängte den Gedanken an Professor Wright und konzentrierte mich wieder auf den Weg. Ich war zu Fuß unterwegs zur Apotheke im Yale Health Center. Es war eine knappe Meile und schon jetzt hatte ich massiv mit meinem Kreislauf zu kämpfen. Nachdem ich vor ein paar Tagen bei meiner üblichen Kontrolluntersuchung bei Dr. Heyck in Waterbury gewesen war, hätte ich doch um ein Haar vergessen, meine Rezepte einzulösen. Ohne meine Tabletten würde ich ziemlich doof aus der Wäsche gucken. Sie waren überlebenswichtig und würden nur noch für den morgigen Tag ausreichen. Daher war es höchste Zeit mir meine Medikamente zu besorgen. Und es waren eine Menge Medikamente. Ich nahm ACE-Hemmer zur Blutdrucksenkung, ARNI-Tabletten die entwässernd und blutdrucksinkend wirkten, ein zusätzliches Diuretika, Beta-Blocker, die die Herzfrequenz verlangsamten und Medikamente zur Stabilisierung des Herzrhythmus'. Es handelte sich also um eine ganze Palette von Präparaten, die ich Tag ein Tag aus schluckte. Nicht besonders schön, aber es erfüllte seinen Zweck.
Ich konnte nur beten, dass die Pharmazie alle Arzneimittel vor Ort hatten, sonst wäre ich ziemlich aufgeschmissen.
In der Apotheke angekommen reihte ich mich in die Warteschlange ein und übte mich in Geduld. Als ich fast an der Reihe war, fiel meine Aufmerksamkeit auf eine hübsche Brünette, die vor mir in der Schlange stand. Hitzig diskutierte sie mit der Apothekerin. Allem Anschein nach ging es um die Pille danach.
»Es tut mir Leid, Miss Harper, aber Sie waren diese Woche schon zwei Mal hier, es ist nicht ratsam, sich dieses Medikament in einer solchen Regelmäßigkeit zuzuführen. Verstehen Sie doch...«
Die Frau ließ die Apothekerin nicht ausreden.
»Nein«, fiel die Frau ihr harsch ins Wort. »Sie verstehen nicht! Ich kann gerade wirklich keine Schwangerschaft gebrauchen, hören Sie? Geben Sie mir einfach dieses blöde Medikament«, gehetzt warf die Kundin einen Blick über ihre Schulter. Direkt in meine Richtung. Ich schaute hastig weg und versuchte teilnahmslos zu wirken. Es war nicht meine Absicht, die beiden zu belauschen, allerdings war es in diesem kleinen Geschäft nun einmal schwer, die anderen Gespräche bewusst auszublenden.
Ich musste mir ein Schmunzeln verkneifen. Solche Situationen hatte ich schon oft erlebt, wenn ich meine Medikamente irgendwo abholte.
Schlussendlich erhielt die Frau doch noch ihre gewünschte Pille und machte sich dann schleunigst vom Acker. Als ich schließlich an der Reihe war, gab ich der Verkäuferin meine Rezepte und - Gott sei Dank - hatten sie alle Medikamente vorrätig. Ich bedankte mich bei der Verkäuferin und machte mich auf den Weg zurück zur Uni. Genauer gesagt zu Professor Wrights Büro, denn ich hatte wieder einmal eine Arbeitssitzung mit ihm.
Auf dem Rückweg nahm ich bewusst den Bus am Watson Center, der alle dreißig Minuten fuhr. Ich erwischte ihn in letzter Sekunde. Es waren nur zwei lächerliche Stopps. Ein Weg, den man locker zu Fuß hätte zurücklegen können. Doch ich musste mir meine Energie sparen, denn ich war mir absolut sicher, dass ich sie während meiner Arbeitssitzung mit Professor Wright gebrauchen würde.
Der Weg zur Fakultät und durch die ellenlange Gänge laugte mich im wahrsten Sinne des Wortes aus. Allerdings hatte ich heute auch zu meiner Schande außer einem Bagel und einer Tasse Tee kaum etwas zu mir genommen und so kam ich völlig außer Atem und verschwitzt an Professor Wrights Büro an. Tja, das nannte man wohl Selbstverschulden. Schweratmend klopfte ich an und wartete darauf, dass Professor Wright mich herein bat. Als seine Stimme erklang, öffnete ich die Tür. Wie auch die letzten Male schon, saß er an seinem Schreibtisch und brütete über seinen Unterlagen. Bei meinem Eintreten hob er das Gesicht und sah mich an. Irgendetwas an meinem Erscheinungsbild schien ihn wohl zu beunruhigen, denn seine grünen Augen verengten sich und seine Stirn legte sich in Falten.
»Miss Taylor, ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Alles Bestens«, presste ich schweratmend hervor. »Ich bin ziemlich viel gelaufen. Sport ist Mord, nicht wahr?«
Die Art und Weise, wie er eine Braue hob und sich wieder seinen Unterlagen widmetet, verriet mir, dass ich meinen miserablen Gesundheitszustand charmant überspielt hatte.
»Setzen Sie sich«, er wies auf den Stuhl gegenüber, wo er bereits einige Arbeitsaufträge vorbereitet hatte. Offensichtlich schien er heute direkt zur Sache kommen zu wollen. Keine richtige Begrüßung, kein Smalltalk. Doch mir sollte es recht sein, ich war ohnehin völlig außer Puste und hatte keine Kraft, nun auch noch kleine Schwätzchen zu halten. Also ließ ich mich ihm gegenüber nieder, nahm einen großen Schluck Wasser aus der Flasche in meinem Rucksack und beschäftigte mich dann mit den Blättern vor mir.
Während ich laß, spürte ich Professor Wrights Blick auf mir.
Ich hob das Gesicht und starrte zurück.
»Was ist?«, fragte ich, womöglich eine Spur zu schroff. Doch seine Blicke machten mich nun einmal nervös.
Professor Wright schüttelte lächelnd den Kopf.
»Sie sind an Unhöflichkeit nicht zu überbieten, wissen Sie das?«
»Sagt derjenige, der nicht einmal eine angemessene Begrüßung über die Lippen bekommt«, erwiderte ich nonchalant und versuchte dem intensiven Blick aus seinen Augen standzuhalten. Ein schiefes Lächeln entstand auf seinen Lippen.
»Also«, nahm ich das Gespräch wieder auf. »Was wollen Sie? Oder starren Sie nur, weil Sie so geblendet von meiner Schönheit sind?«
Das leichte Zucken seiner Mundwinkel war der einzige Beweis dafür, dass ihn meine lahme Aussage amüsierte.
»Warum interessieren Sie sich so sehr für den Tod in der Philosophie?«, fragte er plötzlich. »Es ist eine Thematik, die auf viele eher unbehaglich wirkt, zwar faszinierend, aber unbehaglich.«
Mein Puls begann zu rasen, ich versuchte mir jedoch nichts anmerken zu lassen.
»Wir sterben alle irgendwann. Wer möchte sich damit also nicht auseinandersetzen? Ich finde es wichtig, darüber nachzudenken. Ich möchte keine Angst vor dem Tod haben.«
Professor Wrights Augen schienen mich zu durchbohren. Hastig schlug ich meine Augen nieder, betrachtete meine Unterlagen und versuchte, seinem intensiven Blick auszuweichen.
»Sie werden noch genug Zeit haben, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen, glauben Sie mir.«
Das bezweifle ich.
Um ein Haar wären mir die Worte über die Lippen gepurzelt. Langsam aber sicher begann ich mich unbehaglich zu fühlen. Es war mir nicht wohl dabei, derart ausgefragt zu werden. Also beschloss ich, die Frage an Professor Wright zurückzugeben.
»Warum forschen Sie über den Tod?«
Einige Sekunden verstrichen, ohne dass ich eine Antwort erhielt. Als ich schließlich den Kopf hob, wirkte auch Professor Wright angespannt.
»Ich schätze, aus den gleichen Gründen wie Sie«, mit dieser schlichten Antwort tat er es mir gleich und wandte sich ebenfalls seinen Unterlagen zu. Den Rest der Arbeitsstunde sprachen wir nicht mehr darüber. Wir arbeiteten konzentriert und unterhielten uns ausschließlich über seine Forschung. Am heutigen Tag hatten wir Epikur genauer unter die Lupe genommen. Wir hatten seine Kernaussagen über den Tod betrachtet, interpretiert und diskutiert. Die Ergebnisse ließ ich mir von Professor Wright diktieren, um sie auf seinen Laptop zu übertragen. Innerhalb der zwei Stunden schafften wir es jedoch nicht, alles zu übertragen.
Ein Gähnen entrang sich meiner Kehle und hastig schlug ich mir die Hand auf den Mund. Meine Reaktion war ihm nicht engangen.
»Wir machen Schluss für heute. Ich erledige den Rest Zuhause. Ruhen Sie sich aus, Miss Taylor, Sie sehen hundeelend aus.«
»Wow, Sie verstehen sich wirklich darin, Frauen Komplimente zu machen«, bot ich ihm Paroli, erhob mich jedoch dankbar von meinem Stuhl und streckte mich ausgiebig.
»Sie brauchen keine Komplimente, Miss Taylor, Ihr Ego ist ohnehin schon viel zu groß.«
Empört riss ich die Augen auf und legte mir theatralisch eine Hand auf die Brust.
»Mann, Sie können ja richtig gemein sein, wenn Sie wollen! Ihre Studenten tun mir wirklich leid.«
Er zwinkerte. »Keine Sorge, ich bin nur zu Ihnen so.«
Hätte mich sein Zwinkern nicht für einen kleinen Moment völlig aus der Bahn geworfen, hätte ich womöglich sofort einen passenden Spruch parat gehabt. So starrte ich ihn einfach nur an, bis ich meiner Muttersprache wieder mächtig wurde.
»Ich glaube, Professor«, sagte ich, bemüht um einen lässigen Tonfall. »Sie fangen an mich zu mögen. Geben Sie's zu, ich fordere Sie.«
Professor Wright verstummte zunächst. Aber die Art und Weise, wie er sich ein Lächeln verkniff, verriet mir seine Erheiterung.
»Sie fordern mich nicht nur, wie Sie es so schön ausgedrückt haben, Sie rauben mir den letzten Nerv.«
Ich schnalzte verächtlich mit der Zunge.
»So lange ich Ihnen nicht den Schlaf raube«, entgegnete ich belustigt.
Ich hatte nicht beabsichtigt, meiner Aussage eine gewisse Zweideutigkeit zu verleihen. Doch offenbar hatte ich das. Unbewusst.
Verdammt, warum musste ich auch immer drauflos plappern, ohne vorher darüber nachzudenken? Ich erstarrte und riss bestürzt die Augen auf. Ein betretenes Schweigen breitete sich aus, während Professor Wright mich einfach nur mit einem Blick anstarrte, den ich nicht ganz deuten konnte.
»Das hätten Sie wohl gerne«, erwiderte er mit tiefer Stimme. Einer Stimme, die mir einen Schauer über die Wirbelsäule jagte. Gott, seine Stimme sollte verboten werden.
Ein seltsamer Ausdruck trat auf sein Gesicht.
Sein rauer Unterton hatte fast schon eine Spur Anzüglichkeit enthalten und hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich angenommen, dass er mit mir flirtete. Allerdings war Professor Wright die Verkörperung von absoluter Disziplin und Professionalität. Er würde sich sicher nicht dazu hinreißen lassen, mit einer Studentin zu flirten. Einer Studentin, die zehn Jahre jünger als er war. Ganz gleich, ob ich es war, die unbeabsichtigt angefangen hatte, mit ihm zu flirten.
Das hätten Sie wohl gerne.
Seine Worte hallten erneut durch meinen Kopf, in dem absolute Leere herrschte. Dachte er... Dachte er etwa, dass ich auf ihn stand? Dass ich Interesse an ihm hatte? Scheiße, hatte er möglicherweise die Bucket Liste gelesen? Spielte er darauf an? Meine Gedanken überschlugen sich. Beschämt schluckte ich den Kloß in meinem Hals herunter, unfähig meinen Blick abzuwenden.
Sollte ich meine Aussage klarstellen?
Ich beschloss, einfach gar nichts mehr zu erwidern. Mit einem Räuspern riss ich mich von ihm los und packte nervös meine Unterlagen zusammen. Vor lauter Hektik fiel mir alles aus der Hand und verteilte sich auf dem ganzen Boden. Ich stieß einen wüsten Fluch aus und begann, die Blätter einzusammeln. Professor Wright entging meine Nervosität sicher nicht. Alles war völlig durcheinander.
Wortlos ging er um den Tisch herum und kam mir zur Hilfe.
Ich nutzte die Gelegenheit, um ihn zu mustern und um ein Haar hätte ich vergessen, weiter meine Unterlagen einzusammeln. Peinlich. Peinlich. Peinlich.
Was war nur los mit mir?
Wie nur schaffte es dieser Mann, mich jedes Mal derart aus der Fassung zu bringen? Seine Wirkung auf mich war etwas völlig Unvorhersehbares. Und unvorhersehbare Dinge waren gefährlich...
Nachdem alles wieder aufgelesen war, stopfte ich die Blätter achtlos in meine Tasche und wollte mich bereits auf den Weg machen, als Professor Wright mich zurückhielt.
»Ich habe Ihren Aufsatz korrigiert, Miss Taylor«, er griff in seine eigene Tasche und förderte die Mappe zutage, in der sich meine Arbeit befand. Sofort wurde mir unwohl zumute. War dies jetzt der Moment, in dem er mich auf die Bucket Liste ansprach? Würde er mir eine Strafpredigt halten?
Doch wieder einmal schaffte Professor Wright es, mich zu überraschen. Denn nichts dergleichen geschah. Stattdessen hielt er mir einfach nur die Mappe hin.
»Lesen Sie sich die Bewertung Zuhause in Ruhe durch. Ich habe es nicht benotet, aber es wird eine gute Übung gewesen sein für zukünftige Hausarbeiten. Falls Sie noch Fragen haben, fragen Sie.«
Zögernd nahm ich meine Arbeit entgegen und schaffte es kaum, ihm in die Augen zu schauen. Scham brannte auf meinen Wangen.
»Das werde ich«, sagte ich und überlegte, wie ich das Thema auf die Bucket Liste lenken konnte. »Aber... Sie fanden Ihn gut? Den Aufsatz?«, startete ich einen Versuch.
Professor Wright sah mir geradewegs in die Augen.
»Er war interessant.«
Mein Herz setzte kurz aus. Was bedeutete interessant?
»Und... Haben Sie etwas Besonderes rückzumelden? Bezüglich dem Aufsatz?«
Professor Wright schien ehrlich zu überlegen, ehe er verneinend den Kopf schüttelte.
»Nein, lesen Sie sich einfach die Bewertung durch.«
Verdammt. Er ließ aber wirklich nichts verlauten. Hieß das nun, dass die Liste vielleicht, mit etwas Glück, doch nicht dazwischen gerutscht war? Oder versuchte er die ganze Sache, so peinlich sie auch war, möglichst souverän zu lösen?
Da mir klar war, dass ich nichts aus ihm würde herauskitzeln können, gab ich mich geschlagen und verstaute den Aufsatz in meiner Tasche. Ich bedankte mich und murmelte eine Verabschiedung, ehe ich mich auf den Weg zurück zum Old Campus und somit zurück zu meinem Wohnheim machte.
♥
In unserer Suite entdeckte ich Caya in ihrem Zimmer. Sie sinnierte über eine Hausarbeit, die sie nächste Woche schon abgeben musste. Ja, das Studieren in Yale war kein Zuckerschlecken. Die Professoren machten es einem nicht leicht. Nicht umsonst war Yale eine der renommiertesten Universitäten der Welt. Sie förderten und forderten ihre Studenten gleichermaßen.
»Hey, na, kommst du voran?«, ich lehnte mich gegen den Türrahmen ihres Zimmers. Caya warf mir einen Blick über die Schulter zu und verzog gequält das Gesicht. Ihr rotes Haar trug sie offen, während die beiden vorderen Strähnen, die ihr Gesicht umrahmten, zu zwei zarten Zöpfen geflochten waren.
»Ja, es gab zwar schon spannendere Themen, als die Philosophiegeschichte in der Antike, aber ich beiße die Zähne zusammen«, sie gähnte. »Trotzdem bin ich glücklich um jede Ablenkung, die mich davor bewahrt, über dem Laptop einzuschlafen.«
Ich lachte laut auf.
»Das glaube ich dir aufs Wort.«
Mit einem resignierten Ächzen klappte sie den Laptop zu und drehte sich wieder in meine Richtung.
»Yuki war vorhin hier«, berichtete Caya und ein breites Lächeln trat auf ihre Lippen.
»Und?«, hakte ich nach.
»Uuund«, Caya machte es aber auch wirklich spannend. »Ihre beiden Mitbewohnerinnen ziehen aus, sie haben sich eine Mietwohnung in der Stadt gesucht. Weißt du, was das bedeutet?«, Caya wackelte verschwörerisch mit den Brauen, während die Erkenntnis durchsickerte. Mein Herz begann vor Aufregung zu rasen.
»Dass im Jonathan Edwards zwei Zimmer frei sind?«, Hoffnung schwang in meiner Stimme mit. Hoffnung darauf, eine Chance zu bekommen, in dem mit Abstand coolsten und schönsten Residential College Yales wohnen zu dürfen.
Caya nickte.
»Yuki hat gefragt, ob wir zu ihr ziehen möchten. Sie hat keine Lust auf fremde Menschen und... Du weißt ja wie sie ist«, Caya machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Wird man aber nicht erst nach dem ersten Semester auf die Residential Colleges verteilt?«, fragte ich verwundert.
»Es kommt immer drauf an«, erklärte Caya. »Manche Freshmans, wie es zum Beispiel bei Yuki der Fall war, werden schon zu Beginn einem Residential College zugeteilt.«
»Glaubst du, wir haben eine reale Chance, aufgenommen zu werden?«
Caya schürzte die Lippen und überlegte.
»Naja, wir können es zumindest versuchen. Lass uns einfach den Antrag ausfüllen und dann sehen wir weiter.«
Ich gab einen zustimmenden Laut von mir. Caya hatte das Formular bereits hier und gemeinsam machten wir uns dran, es auszufüllen. Für Caya war es eine vollkommene Ablenkung von ihrer Hausarbeit. Als wir schließlich fertig waren, fragte sie beiläufig: »Wie war eigentlich deine Arbeitsstunde mit Professor Sexy?«
»Professor Sexy?«, wiederholte ich und prustete los. Caya stimmte mit ein.
»Ist mir gerade so eingefallen. Passend, findest du nicht?«
»Naja, eher Professor Arrogant oder Professor Mistkerl«, grummelte ich und dachte wieder an unsere Wortgefechte von vorhin.
Caya ignorierte meine Vorschläge. »Also? Irgendwelche schmutzigen Details, die ich wissen sollte?«
Ich stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Er hat mir meinen Aufsatz zurückgegeben«, gestand ich ihr und sofort beschlich mich wieder dieses ungute Gefühl. Ich hatte noch immer keinen Blick hinein gewagt. Zu groß war die Scham davor, was ich vorfinden würde. Obwohl Professor Wright kein Sterbenswörtchen darüber verloren hatte, ob die Liste nun dazwischen gerutscht war oder nicht.
Cayas Reaktion war filmreif.
Mit einem Ruck saß sie kerzengerade auf ihrem Schreibstuhl. Ihr Gesicht brannte nur so vor Neugierde und zu ihren Sommersprossen gesellten sich rote Punkte.
»Nein, ehrlich? Was hat er gesagt?«
»Nichts«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
Cayas Gesichtszüge entgleisten.
»Wie nichts?«, Verwirrung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. »Er muss doch irgendetwas zu der Liste gesagt haben? Oder war sie doch nicht in deinem Aufsatz?«
»Er hat mir ohne irgendeinen Hinweis auf die Liste den Aufsatz zurückgegeben.«
»Okay, aber du hast doch sicherlich schon reingeschaut?«, hakte sie nach, was ich kopfschüttelnd verneinte.
Cayas Augenbrauen schnellten in die Höhe.
»Na dann los! Worauf wartest du?«, Verständnislosigkeit schwang in ihrer Stimme mit. »Sieh nach!«
Widerwillig ging ich zu meinem Rucksack und angelte den Aufsatz heraus. Für eine geschlagene Minute starrte ich einfach nur auf die Mappe, unfähig sie zu öffnen. Etwas in mir hielt mich zurück. Es war absolut lächerlich in Anbetracht der Tatsache, dass ich mich schon in weitaus peinlicheren Situationen befunden hatte. So vieles hatte ich schon durchgemacht und erlebt, ich war sogar im Begriff, dem Tod ins Auge zu blicken und trotzdem stand ich nun hier und schaffte es nicht, diese verdammte Mappe zu öffnen.
Reiß dich zusammen!
Selbst wenn sich die Liste wirklich in der Mappe befand, was sollte schon dabei sein? Dann hatte Professor Wright sie eben gelesen, na und? Sollte er doch von mir denken, was er wollte. Seiner Aussage von vorhin nach zu urteilen, dachte er doch ohnehin schon, dass ich auf ihn stand.
Das hätten Sie wohl gerne.
Erneut wirbelten seine Worte durch meinen Kopf und hinterließen ein Gefühlschaos. Ich seufzte. Ich verstand selbst nicht einmal, was genau daran so schrecklich für mich war. Wieso es mich so sehr interessierte, was er von mir dachte.
Vielleicht die Tatsache, dass du wirklich auf ihn stehst, flüsterte mir meine innere Stimme zu.
Ich erstickte sie im Keim und schob diesen Gedanken ganz bewusst von mir weg.
»Ich kann mir das nicht mehr länger ansehen«, hörte ich Caya plötzlich sagen.
Erschrocken riss ich den Blick hoch und sah, wie sie sich von ihrem Stuhl erhob und zu mir geschlendert kam.
»Ich schaue für dich nach«, auffordernd streckte sie die Hand nach der Mappe aus. Da mir einfach der Mut fehlte, einen Blick hinein zu wagen, willigte ich ein und überließ es ihr, die Peinlichkeit des Jahrhunderts aufzudecken.
Caya machte kurzen Prozess. Sie öffnete die Mappe, drehte sie herum und schüttelte sie. Keine Sekunde später flatterte der kleine Notizzettel, den ich schon überall gesucht hatte heraus. Geräuschlos glitt er zu Boden.
Meine Welt blieb kurz stehen, während ich auf den Schandfleck starrte, der nun auf dem Fußboden lag.
»Oh fuck«, murmelte ich und wäre am liebsten vor Scham versunken. Mein Kontingent an Fettnäpfchen hatte seit ich in Yale angekommen war wirklich seinen Höhepunkt erreicht.
Caya warf mir einen mitleidigen Blick zu, ehe sie sich bückte, um den Zettel aufzuheben. Das bisschen Vergnügen, das jedoch in ihren Augen aufblitzte, verriet mir, dass sie auch ein wenig Spaß an der ganzen Sache empfand. Ich konnte es ihr nicht verübeln. Wäre es jemand anderem passiert, hätte ich es wohl auch mit Humor gesehen.
»Vielleicht hat er es ja gar nicht gelesen?«, überlegte ich hoffnungsvoll, während Caya die Bucket Liste betrachtete, sie akribisch studierte, als wäre sie das Spannendste, das sie seit einer ganzen Weile zu Gesicht bekam.
»Vielleicht hat er den Zettel bemerkt und ihn, wie es der Anstand verlangt, einfach wieder reingetan, ohne ihn zu lesen?«, zermarterte ich mir das Hirn und suchte krampfhaft nach einem Grund, mich besser zu fühlen.
Wie aus dem Nichts verzogen Cayas Mundwinkel sich zu einem Grinsen, das einem fassungslosen Ausdruck wich. Ihre Kinnlade fiel buchstäblich herunter - und dann schaute sie endlich zu mir.
»Glaub mir, Laney, er hat es definitiv gelesen.«
»Zeig her!«, zischte ich und riss ihr den Zettel schließlich doch aus der Hand. Ich überflog die Zeilen mit den zehn To Do's, bis ich schließlich an dem Anfang von Mark Twains Zitat hängen blieb, das ich neben die Liste gekritzelt hatte.
„Arbeite, als würdest du das Geld nicht brauchen. Liebe, als hätte dich nie jemand verletzt, Tanze, als würde niemand zusehen..."
Darunter hatte jemand in einer schönen, geschnörkelten Handschrift das Zitat vervollständigt.
„Singe, als würde niemand zuhören. Lebe, als wäre der Himmel auf Erden" - Mark Twain
Doch das war noch nicht alles. Denn der Grund, warum ich mich am liebsten vor Scham in Luft aufgelöst hätte, waren die sechs Wörtchen, die direkt unterhalb des elften und durchgestrichenen Punktes standen.
- Mit Julian Wright rumknutschen (durchgestrichen)
Und direkt darunter, in einer Handschrift, die mir sehr bekannt vorkam, stand:
Warum ist der letzte Punkt durchgestrichen?
Hallo ihr Lieben :)
Ich hoffe euch gefällt das neue Kapitel! Hinterlässt mir eure Meinungen gerne in den Kommis, ich würde mich mega freuen darüber!
Das nächste Kapitel von „Love me tomorrow" dauert noch ein klein wenig, da ich diese Woche sehr viel arbeiten musste und noch nicht zum Schreiben gekommen bin.
Liebe Grüße ♥️
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