Kapitel 4
Songempfehlung: Tate McRae - Uh oh
Für einen kurzen Wimpernschlag lang war ich gefesselt von diesen wunderschönen Augen.
Dann erinnerte ich mich jedoch zu wem sie gehörten und verzog grimmig das Gesicht.
Manchmal wünschte ich mir, dass sich im Boden einfach ein Loch auftat, in dem ich verschwinden konnte. Es war nicht gelogen, als ich Caya heute Morgen erzählt hatte, dass ich ein absoluter Experte und Meister in der Kunst der Tollpatschigkeit war. Die Anzahl der Fettnäpfchen, in die ich am heutigen Tag schon getreten war, war lächerlich. Insbesondere die Tatsache, dass ich nun schon zum zweiten Mal in dasselbe Fettnäpfchen trat, war nicht nur lächerlich, sondern gleichermaßen dämlich.
Es stand jedenfalls nicht zur Debatte, ob Professor Wright meine kleine Schimpftirade überhört haben könnte, so dicht wie er sich in Hörweite befand.
Völlig regungslos saß ich da und starrte ihn an, mein Kopf mittlerweile wohl so rot wie eine Tomate. Professor Wrights Gesichtsausdruck dagegen wirkte undurchdringlich. Lediglich das leichte Zucken einer seiner Mundwinkel schien andeuten zu wollen, dass er sich über mich amüsierte. Um ehrlich zu sein war ich mir nicht so sicher, ob mich das beruhigen oder beängstigen sollte. Ob es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Ob er meinen Spruch mit Humor nahm oder sich darüber ärgerte.
Es trug auch nicht gerade zur Besserung bei, dass mir bei alldem nicht entging, wie unglaublich gut er aussah. Das hellbraune Haar war etwas durcheinander und ließ die besondere Farbe seiner Augen hervorstechen. Auf seinen Lippen zeichnete sich ein schiefes Lächeln ab, dass die perfekt geschwungenen Züge seines Gesichts betonte. Nur mit Mühe konnte ich meine Augen von dem Longsleeve losreißen, unter dem sich seine athletische Statur allzu deutlich abzeichnete. Ganz zu Schweigen von...
Stopp!
Um Himmels Willen, war ich von allen guten Geistern verlassen? Um ein Haar wäre ich zu ebenjenen schmachtenden Studentinnen geworden, die ich vorhin noch zum Gespött gemacht hatte.
»Ich bin beeindruckt, Miss Taylor«, Professor Wrights Augen blitzten vergnügt. »Vom aufgeblasenen Möchtegern zum arroganten, überheblichen und anmaßenden Mistkerl. Ich bin mir nur noch nicht so ganz sicher, ob das eine Verbesserung oder eine Verschlechterung ist?«, er neigte nachdenklich den Kopf.
Ich schluckte schwer, während sich eine gähnende Leere in mir ausbreitete. Statt einer Antwort, starrte ich ihn einfach nur an.
»Wussten Sie, dass Verleumdung strafbar ist?«
Unterrichtete er jetzt auch noch Jura oder was?
Das provokante Glitzern in Professor Wrights Augen verriet mir, dass er überaus Spaß daran hatte, mich derart zu schikanieren. Doch am meisten schien es ihm Genugtuung zu verschaffen, dass ich ihm gnadenlos ausgeliefert war. Er war sich bewusst darüber, dass ich innerlich kochte und nichts lieber getan hätte, als meiner Wut freien Lauf zu lassen - doch ich tat gut daran, meine Zunge zu hüten. Ein weiteres falsches Wort und ich wäre die meiste Zeit in Yale gewesen. Ich durfte mir keine zusätzlichen Ausrutscher erlauben, das wusste ich. Das wussten wir beide. Und genau dies war es, was ihm insgeheim frohlockte. Es war beinahe, als würde ihm das Wörtchen Schadenfreude auf die Stirn geschrieben stehen.
»Mr Wright...«, ich hielt kurz inne und korrigierte mich sogleich. »Professor Wright, ich...«
»Sparen Sie sich Ihren Atem und Ihre scheinheiligen Ausreden«, schnitt er mir unwirsch das Wort ab. »Stecken Sie lieber Energie in den Unterricht nächste Woche, um mich davon zu überzeugen, sie nicht dem Dekan zu melden.«
Mein Herz stolperte verdächtig, während Caya neben mir erschrocken nach Luft schnappte. Ich hatte mich also nicht verhört. Professor Wright spielte tatsächlich mit dem Gedanken, mich zu melden.
Sofort schlug meine innere Wut in panische Angst um. Mühevoll unterdrückte ich die aufsteigenden Tränen. Yale war alles, was meinem trostlosen Leben noch einen Sinn verlieh. Jahrelang hatte ich auf nichts anderes hingearbeitet, als auf den heutigen Tag. Ich durfte nicht zulassen, dass dieser Traum einfach so platzte wie eine Seifenblase. Innerlich verfluchte ich mich für meine Unachtsamkeit und mein loses Mundwerk. Bevor ich zukünftig hinter jemandes Rücken sprach, würde ich es mir lieber dreimal überlegen - oder es überhaupt erst gar nicht tun.
Mir war klar, dass ich mit leeren Worten und Entschuldigungen bei Professor Wright auf taube Ohren stoßen würde. Also nickte ich nur stumm. Innerlich jedoch betitelte ich ihn mit einem wüsten Ausdruck nach dem anderen.
Für ein paar Sekunden lang ruhte sein Blick auf mir. Ein forschender Ausdruck lag darin, der allerdings sogleich wieder verschwunden war. Bevor der Professor sich zum Gehen wandte, wanderten seine Augen über die Runde hinweg.
»Mr. Montgomery«, er nickte erst Noah, dann Luan zu. »Mr. Cane.«
Schließlich wandte er sich Caya, Yuki und mir zu. »Ihnen noch einen angenehmen ersten Tag in Yale.«
Mit diesen Worten verabschiedete er sich und lief mit seinem Kaffee in der Hand nach draußen.
Einige Sekunden lang starrte ich auf die Glastür, die hinter ihm zufiel, ehe ich mich wieder zum Tisch umdrehte und das Gesicht beschämt in den Händen versteckte.
Was eine Katastrophe!
Der erste, der seine Stimme wieder fand, war Luan.
»Wow, also«, er räusperte sich lautstark. »Eure erste Begegnung als nicht nett zu bezeichnen, ist wohl die Untertreibung des Jahrhunderts gewesen.«
»Ja«, bekräftigte Noah mit zerknirschtem Gesicht. »Ich sage es ja nur ungern, aber ich glaube er kann dich nicht ausstehen.«
»Ach was«, ich nahm die Hände vom Gesicht und sah Noah böse an. »Blitzmerker.«
Aus unerfindlichem Grund versetzte mir Noahs Aussage einen Stich. Dabei konnte ich Professor Wright doch ebenfalls nicht leiden! Weshalb störte mich die schlichte Tatsache plötzlich, dass dies auf Gegenseitigkeit beruhen könnte? Womöglich lag es daran, dass jeder Mensch danach strebte, gemocht zu werden. Jeder Mensch sehnte sich nach Anerkennung. Es war etwas ganz Natürliches.
»Ist das euer Ernst?«, meldete sich plötzlich Caya zu Wort. »Habt ihr überhaupt Augen im Kopf?«
»Was meinst du?«, Luan schien verwirrt.
Caya hob ungläubig die Hände und ein bestürzter Ausdruck lag auf ihrem Gesicht.
»Kommt schon, sagt nicht ich bin die Einzige, die diese sexuelle Spannung gespürt hat!«
»Caya!«, rief ich empört.
Kurze Stille. Dann brach Luan in schallendes Gelächter aus, während Noah verneinend den Kopf schüttelte.
»Ich glaube du hast zu viele Liebesfilme gesehen«, scherzte Luan. »Falls es dir entgangen sein sollte, Professor Wright hat Laney gerade damit gedroht, sie dem Dekan zu melden oder habe ich etwas anderes gehört, als du?«
Caya seufzte theatralisch.
»Ihr habt keinen Sinn für Romantik. Was ist mit dir?«, ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf Yuki. »Dir ist es doch sicherlich auch nicht entgangen, oder?«
Yukis Aufmerksamkeit war stur auf die Kaffeetasse vor sich gerichtet, während sie zur Antwort nur ahnungslos mit den Schultern zuckte.
Caya stieß ein resigniertes Seufzen aus, während sie die anderen als hoffnungslose Fälle beleidigte. Doch meine Aufmerksamkeit lag noch immer auf Yuki, die mir einen kurzen, flüchtigen Blick zuwarf, ehe sie an ihrem Kaffee nippte. Es war ein Blick, der verriet, dass zumindest sie Caya nicht ganz Unrecht gab - und plötzlich erschien ein schwaches Lächeln auf Yukis Lippen.
Ein Lächeln, das mehr aussagte, als tausend Worte.
♥
Natürlich fand schon einen Tag nach Ankunft die erste Freshman Studentenparty statt, auf die Caya, Yuki und ich als Erstsemestler eingeladen waren. Wir baten jedoch Noah und Luan, uns zu begleiten. Die Feier stieg in einem der Residential Colleges direkt gegenüber des Old Campus', dem Jonathan Edwards.
Das Jonathan Edwards hatte die stolze Auszeichnung, das erste von Yales Residential Colleges zu sein, das dreiundneunzig eröffnet wurde. Es war im traditionellen gotischen Stil erbaut und verfügte über eine atemberaubende Great Hall, zwei malerische Bibliotheken und kunstvolles Mauerwerk, das die Herzen der Harry-Potter-Fans höher schlagen ließ.
Zur Einrichtung gehörten eine Buttery- und Buchdruckerei, ein kleines Theater und eine Kunstgalerie. Ich hatte schon vieles vom Jonathan Edwards gehört. Insbesondere der wunderschöne Innenhof sollte einen atemberaubenden Anblick bieten, wenn er sich im Herbst mit buntem Herbstlaub füllte. Ein Anblick, der angeblich nur von den blühenden Tulpengärten im Frühling übertroffen wurde.
Kurzum - das Jonathan Edwards stand auf meiner Liste ganz weit oben. Ich hoffte aus tiefstem Herzen, dass ich nach meinem ersten Semester diesem Residential College zugeteilt wurde - sofern ich bis dahin noch lebte... Sogleich vertrieb ich diesen trostlosen Gedanken und konzentrierte mich auf die Party. Die Fete war bereits in vollem Gange und der Fakt, dass der Alkoholkonsum für Minderjährige streng untersagt war, schien hier niemanden die Bohne zu interessieren. Die Leute feierten ausgelassen ihre Ankunft in Yale und den Beginn eines neuen Lebensabschnitts.
»Hier Mädels«, Noah kam gemeinsam mit Luan zurück, sie hatten sich etwas umgesehen. Die beiden balancierten rote Plastikbecher in der Hand.
»Eine kleine Erfrischung für die durstigen Gemüter«, scherzte Luan, der mir einen Becher in die Hand drücken wollte. Automatisch hob ich abwehrend die Hände und schüttelte den Kopf.
»Oh, ich trinke keinen Alkohol.«
»Komm schon, Laney, sei kein Spielverderber«, Luan zog eine Schippe.
»Ja Laney, komm schon, wir sind auf einer Party!«, Noah prostete seinem Freund zu. Ich zögerte kurz. Selbstverständlich hatte ich schon einmal an alkoholischen Getränken genippt, jedoch noch nie wirklich Alkohol im herkömmlichen Sinne getrunken. Meine Eltern sowie die Ärzte hatten es mir stets untersagt und wie die brave Patientin, die ich war, hatte ich mich auch nie dagegen aufgelehnt. Nun jedoch verspürte ich zum ersten Mal das Bedürfnis, diese Erfahrung machen zu wollen. Ich wollte wissen, wie es sich anfühlte, Alkohol zu trinken, wie es sich anfühlte, wenn man betrunken war...
»Lasst sie in Ruhe, Jungs«, ergriff Caya erstaunlicherweise Partei für mich. Offensichtlich hatte sie mein Zögern als Verweigerung gedeutet. Dann nahm sie mir mein Getränk ab, was ich ohne Einwände geschehen ließ. Ich hatte ohnehin noch den ganzen Abend Zeit, um eine Entscheidung bezüglich dem Alkohol zu treffen.
»Ich trinke das für dich«, sie zwinkerte mir zu.
»Ihr seid Langweiler«, Luan schüttelte den Kopf und wandte sich Yuki zu.
»Ich nehme an, die Nerds unter uns möchten auch keinen Alkohol?«, fragte er. Yuki schüttelte verneinend den Kopf und ein seltsamer Ausdruck lag in ihrem Blick, als sie ihren besten Freund ansah. Yuki war wirklich hübsch. Ihre langen, schwarzen Haare fielen ihr glatt über die Brust und harmonierten perfekt mit dem bordeauxroten Qipao Kleid aus seidenem Stoff, das sie trug. Offenbar schienen ihr die asiatischen Traditionen sehr wichtig zu sein - oder aber sie hatte schlicht und ergreifend einen Faible für die chinesische Mode.
Ich dagegen trug ein weißes T-Shirt unter einem schwarzen Latzkleid aus Cord. Das Ganze rundete ich mit ein paar schwarzen Blockabsatz-Pumps ab. Ich liebte diese Schuhe abgöttisch, aber sie waren gleichermaßen auch mein absoluter Nemesis, denn mir war jetzt schon bewusst, dass ich den Rest der Woche mit einigen Blasen an den Füßen kämpfen würde.
Von den Schuhen abgesehen war der restliche Abend ein voller Erfolg. Ich knüpfte viele Kontakte mit anderen Erstsemestlern, hatte riesigen Spaß dabei, Caya und Noah bei ihren unbeholfenen Flirtversuchen zuzuschauen und ließ mich sogar von Luan dazu hinreißen, mir ein Bier zu genehmigen. Für meinen Geschmack war das Gebräu ein wenig bitter, aber trinkbar.
Ich wollte gerade mit Caya ein bisschen das Tanzbein schwingen, als ausgerechnet in diesem Moment mein Telefon klingelte. Es war ein Facetime Anruf von Josh. Sofort regte sich Vorfreude in meiner Magengegend. Ich ignorierte dieses Gefühl und erklärte den anderen, dass ich kurz nach draußen ging. Seit unserer gemeinsamen Nacht war das Verhältnis zwischen Josh und mir etwas angespannt. Die Tatsache, dass ich Josh und seine Gefühle für mich ausgenutzt hatte, lastete schwer auf mir. Auch wenn ich immer wieder versuchte, es mir schön zu reden.
Ich nahm Joshs Anruf entgegen und sogleich erschien sein Bild auf meinem Telefon. Dunkle, fast schwarze Haare umrahmten ein ovales Gesicht mit dunkelbraunen Augen. Auf seinen Lippen erschien ein strahlendes Lächeln, das wohl sicher bereits das ein oder andere Mädchen auf dem Stanford College bis in ihre Träume verfolgte. Ja, Josh war attraktiv und hatte ein Herz aus Gold. Erst jetzt bemerkte ich, wie sehr er mir die letzten Tage gefehlt hatte. Wir hatten zwar gesimst, und uns über unsere neuen Colleges ausgetauscht, aber ihm nun über den Videoanruf direkt gegenüberzustehen, war nochmal etwas anderes. Sogleich ermahnte ich mich zur Vernunft. Ich durfte mir keine Gefühle für ihn erlauben. Ich durfte mir keine Gefühle für irgendjemanden erlauben.
»Hey Josh«, ich bemühte mich um eine feste Stimme. Ich wollte mir mein Gefühlschaos nicht anmerken lassen.
»Hallo«, seine Augen leuchteten, als er mich sah. »Ich dachte ich rufe mal an und frage, wie es meinem Herzchen geht?«
Als er seinen lächerlichen Spitznamen für mich benutzte, konnte ich nur mit den Augen rollen. Er war mindestens genauso dämlich wie der Spitzname, den meine Mom sich für mich ausgedacht hatte, Bärchen. Einfach schrecklich...
»Das Herzchen schlägt noch«, scherzte ich. »Keine Sorge, du wirst schon mitbekommen, wenn ich nicht mehr unter den Lebenden weile.«
»Laney!«, Josh verzog sofort missbilligend das Gesicht. Ich wusste, dass er meinen Galgenhumor nicht besonders mochte. Insbesondere dann nicht, wenn es um meine Gesundheit ging. Doch mein Humor war alles, was mir noch geblieben war und unabhängig davon half es mir dabei, unangenehmen Gesprächen aus dem Weg zu gehen.
Ein Seufzen erklang.
»Ich vermisse dich, Laney«, Joshs Gesicht verzog sich zu einer wehmütigen Grimasse und sofort verspürte ich Heimweh. Heimweh nach meinem besten Freund. Nach seinem Lächeln und seinen Armen, die mich immer hielten, wenn ich sie brauchte.
»Ich vermisse dich auch«, gestand ich ehrlich und lächelte traurig. Ein kurzer Moment der Stille entstand, als ich aus dem Wohnheim nach draußen trat, um mir während dem Telefonieren ein wenig die Füße zu vertreten. Laute Musik und Geräusche drangen gedämpft an meine Ohren. Sogleich entschied ich, diesem bedrückten Augenblick zwischen Josh und mir ein Ende zu bereiten. Also hob ich das Telefon in die Höhe und zeigte Josh das Gebäude hinter mir.
»Schau mal, ich bin mit Caya auf einer Party im Jonathan Edwards!«, ich grinste breit. Josh wusste von meiner Schwäche für das Jonathan Edwards. Insbesondere auch, weil ich ein großer Harry Potter Fan war.
»Eine Party?«, Josh wirkte überrascht. »Ist das eine gute Idee? Solltest du dich nicht lieber ausruhen?«, fragte er besorgt, was mir ein erneutes Augenrollen entlockte. Joshs Beschützerinstinkt hätte ich um ein Haar vergessen.
»Ach komm schon«, ich seufzte. »Wir sind auf dem College, Josh. Da sollte man auch ein bisschen Spaß haben, cheers«, um meiner Aussage Ausdruck zu verleihen, hob ich mein Bier in die Höhe und prostete ihm durch die Kamera hinweg zu.
»Trinkst du etwa Alkohol?«, Joshs Gesicht verlor jegliche Fassung.
»Jaaa«, antwortete ich gedehnt und legte den Kopf schief. »Was ist so schlimm daran?«
»Laney, du weißt doch, dass das Gift für dich ist! Was ist nur los mit dir? Du gehst plötzlich auf Partys und trinkst Alkohol?«, er schüttelte fassungslos den Kopf und sah mich verwundert durch den Bildschirm hinweg an. Die Verbundenheit, mit der wir zuvor noch miteinander gesprochen hatten, war wie verflogen und Josh schien von der einen auf die andere Sekunde wütend zu sein.
»Was ist dein Problem?«, ich stöhnte genervt. »Es ist nur ein einziges Bier. Ich möchte einfach mal einen ganz normalen Abend verbringen und Spaß haben.«
Ich beugte mich hinab und rieb mir die Knöchel. Es war eine schreckliche Idee gewesen, hohe Schuhe zu tragen. Diese Erkenntnis traf mich jedes Mal aufs Neue und dennoch lernte ich nie daraus.
»Laney«, begann Josh in einem Tonfall, den ich von meinen Eltern und auch von den Ärzten kannte. »Du bist krank! Du musst auf deine Gesundheit achten. Alkohol verträgt sich nicht mit deinen Tabletten und für deine Herzinsuffizienz ist es auch nicht gut. Schon ein einziges Bier kann zu Vorhofflimmern führen, du musst...«
Langsam aber sicher wurde ich wütend und so fiel ich Josh unwirsch ins Wort.
»Hast du nur angerufen, um mir eine Moralpredigt zu halten und dich aufzuführen wie meine Mutter?«, keifte ich und verzog zornig das Gesicht. »Ob ich nun ein Bier trinke oder nicht ändert nichts an der Tatsache, dass ich sterben werde! Also lass mich das bisschen Zeit, das mir noch bleibt, so leben, wie ich möchte. Es is mein Leben, verstehst du?«
»Ich will dir doch nur helfen, Laney!«, rief Josh aufgebracht und sein Gesicht färbte sich rot. Ob vor Zorn oder Scham konnte ich nicht sagen. Womöglich eine Mischung aus beidem. »Ich mache mir nur Sorgen um dich...«
Ich nahm einen tiefen Atemzug und wappnete mich innerlich für die nächsten Worte, die ich im Begriff war, auszusprechen. »Vielleicht liegt genau hier das Problem.«
Joshs Augenbrauen verzogen sich zu einer argwöhnischen, geraden Linie.
»Was meinst du damit?«
»Genau das, was ich sage«, entgegnete ich schroff. »Du weißt, was ich meine. Du machst dir zu viele Sorgen, du...«, ein Geräusch hinter mir unterbrach mich.
Ich drehte mich um und ließ vor Schreck fast mein Telefon fallen, als ich Yuki entdeckte.
»Heilige Scheiße!«, stieß ich erschrocken aus und legte mir eine Hand auf die Brust.
»Sorry«, entgegnete Yuki leise und sah aus ihren dunkelbraunen Augen zu mir hoch. Ich nahm einen tiefen Atemzug und winkte ab, ehe ich mich erneut Josh zuwandte.
»Hör zu, Josh, ich rufe dich gleich zurück, ja?«
Josh wollte bereits protestieren, als ich ihm einfach auflegte. Ich hatte jetzt keine Zeit für seine Gefühlsduseleien. Zuerst einmal musste ich mich um Yuki kümmern und herausfinden, was sie alles von meinem Telefonat mit Josh mitbekommen hatte.
»Wie lange stehst du schon hier?«, verlangte ich zu wissen und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust.
»Eine Weile«, erwiderte sie knapp, ohne einen Hauch von schlechtem Gewissen.
»Hast du mich etwa belauscht?«, fragte ich entgeistert und warf ihr einen bösen Blick zu.
»Nicht absichtlich«.
Verdammt, musste man ihr denn alles aus der Nase ziehen? Frustriert und etwas besorgt darüber, dass mein kleines großes Geheimnis auffliegen könnte, warf ich ihr einen auffordernden Blick zu.
»Was hast du alles mit angehört?«
Stille.
Statt eine Antwort sah Yuki mich mit durchdringendem Blick an, als könnte sie direkt in meine Seele schauen.
Langsam aber sicher ging mir ihr Schweigen gehörig auf den Zeiger. Ich wollte erneut das Wort ergreifen, als sie schließlich doch zu Sprechen begann.
»Wie viel Zeit bleibt dir noch?«
Verdammt...
Für einen kurzen Augenblick verschlug es mir die Sprache. Yuki wusste es. Sie hatte es herausgefunden. Sofort flammte Wut und kindlicher Trotz in mir auf. Das Bedürfnis, Yukis Frage abzuschmettern und ihr eine Ausrede aufzutischen, kam in mir auf. Oh ja, Vermeidungsverhalten war etwas, das ich vorzüglich beherrschte. Doch ich wusste, dass es unangebracht war. Ich wusste, dass Yuki zu schlau, zu intelligent war, als dass ich ihr eine Lüge hätte auftischen können. Es käme einer Beleidigung gleich.
Also ergab ich mich meinem Schicksal, sog angestrengt die Luft ein und straffte die Schultern.
»Laut den Ärzten ist es ein Wunder, dass ich überhaupt noch lebe«, ich zuckte die Schultern. »Mein Zustand hat sich in den letzten Wochen jedoch stark verschlechtert, also...«, ich stockte kurz. »Bestenfalls wohl noch ein paar Monate.«
Yuki verzog keine Miene. Stattdessen nickte sie lediglich. Sie schien meine Situation völlig nüchtern zu betrachten. Ob es daran lag, dass wir uns noch nicht lange kannten oder daran, dass Yuki generell ein sehr zurückhaltender und rationaler Mensch war, wie es mir schien, fiel mir schwer zu beurteilen.
»Stehst du auf der Liste?«, wollte sie wissen.
»Jap«, entgegnete ich und meine Stimme triefte nur so vor Ironie. »Genauso wie die zweitausendneunhundertneunundneunzig anderen Menschen, die ebenfalls auf ein Spenderherz warten«, ich zuckte mit den Achseln. »Davon abgesehen werde ich mich ohnehin nicht mehr operieren lassen.«
Für ein paar Sekunden lang sah Yuki mich an und ich konnte die Rädchen in ihrem Kopf beinahe schon arbeiten hören. Doch sie verzog nach wie vor keine Miene.
»Wieso nicht?«, fragte sie unverblümt, was mir einen tiefen Seufzer entlockte. Mein Blick schweifte in die Ferne, über die beleuchtete Grünfläche, bis hin zu dem kleinen Pfad, der hinaus auf die High Street führte.
»Nichts lässt dich so viel Energie verlieren, wie die Diskussionen und der Kampf gegen eine Situation, die du nicht ändern kannst«, ich lächelte schwach, als ich die Worte Dalai Lamas zitierte.
Kurz herrschte Stille zwischen uns.
Ich erwartete bereits Proteste und Verständnislosigkeit, aber dann überraschte Yuki mich.
»Ich verstehe«, sagte sie schlicht und sah mir dabei unbeirrt in die Augen.
Ich erwiderte ihren Blick.
Und in diesem Moment erkannte ich, dass sie ein ganz besonderer Mensch war. Yuki war nicht, wie alle anderen. Sie mochte verschlossen, kühl und distanziert wirken, vielleicht auch etwas eigenartig. Aber tief in ihrem Innern, war sie ein sehr emphatischer und verständnisvoller Mensch. Es fühlte sich an, als würde sie Menschen genau so sehen, wie sie waren, als könnte sie jemanden innerhalb kürzester Zeit durchschauen. Sie besaß wirklich eine unglaubliche Auffassungsgabe. Yuki schien wohl genau zu spüren, wie sehr ich diese mitleidigen Blicke und das Unverständnis wegen meiner Entscheidung verabscheute - und sie verstand es.
Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich plötzlich zum Gehen. Kurz bevor sie das Wohnheim jedoch wieder betrat, drehte sie sich noch einmal zu mir um.
»Ich werde es niemandem sagen«, sie warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu, ehe sie wieder im Innern des Gebäudes verschwand. Ein weiteres Mal konnte ich nur darüber staunen, wie aufmerksam sie doch war, ohne sich dabei ein Urteil zu erlauben. Wenngleich es mich immer ein wenig runterzog, über dieses eine Thema zu sprechen, so hatte es zugegebenermaßen verdammt gut getan, mich jemandem anzuvertrauen. Jemandem, der nicht urteilte oder wertete. Yuki war wirklich eine interessante und besondere Person...
Das Klingeln meines Handys riss mich aus meiner Starre.
Josh Richards.
»Na toll«, murmelte ich in mich hinein und nahm ab.
»Ich sagte doch, dass ich dich zurückrufe«, zischte ich, während ich weiter in Richtung der High Street lief. Ich hatte die lästige Angewohnheit beim Telefonieren herumlaufen zu müssen. Jedoch schmerzten meine Füße höllisch. Diese verdammten Schuhe...
Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt und vereinzelt liefen ein paar Passanten über die Straße, hauptsächlich Studenten.
»Ich weiß, aber wir müssen reden, Laney«, Josh klang niedergeschlagen und ich wusste auch genau weshalb.
»Worüber?«, fragte ich gespielt, wohlwissend darüber, was Josh auf dem Herzen lag.
»Über das, was zwischen uns passiert ist.«
»Josh, bitte nicht wieder darüber«, ich stöhnte.
»Doch, Laney«, blaffte er. »Wir haben miteinander geschlafen und nie wieder darüber gesprochen!«
»Wir reden ständig darüber, Josh, falls dir das entgangen sein sollte«, erwiderte ich trocken.
»Nein, du lenkst immer wieder vom Thema ab!«
»Das tue ich nicht«, protestierte ich.
»Laney! Rede endlich mit mir.«
»Verdammt!«, donnerte ich wütend. »Es gibt nichts zu bereden, Josh! Wann verstehst du das endlich? Wir hatten einmal miteinander geschlafen, nicht mehr und nicht weniger. Akzeptiere das endlich!«
Mit diesen Worten legte ich wutentbrannt auf.
Für ein paar Sekunden starrte ich auf den leeren Bildschirm und fühlte, wie sich eine gewisse Leere in mir ausbreitete. Einerseits gingen mir Joshs unbegründete Besitzansprüche und seine Überfürsorglichkeit gehörig auf den Zeiger. Ich hatte ihm meine Absichten von Anfang an offengelegt. Josh wusste, auf was er sich eingelassen hatte. Andererseits aber hatte ich ihn trotzdem gewissermaßen für meine Zwecke ausgenutzt, denn ich wusste, wie stark er für mich empfand...
Angestrengt rieb ich mir die Schläfen. Was hatte ich nur getan? Ich hatte den Menschen, der mir am nächsten stand, abgrundtief verletzt und gedemütigt. Doch nicht nur das. Ich hatte ihn von mir gestoßen. Das tat ich immer und immer wieder. Denn die Wahrheit war, dass ich Angst hatte. Angst davor, mich selbst zu verlieren. Angst vor der Hoffnung und Angst vor dem Leben.
Josh bemühte sich. Er kämpfte um mich, während ich ihn behandelte wie Dreck.
Tränen füllten meine Augen und wütend ballte ich die Hände zu Fäusten.
Ich wollte mich weder mit meinen Gefühlen für Josh auseinandersetzen noch mit dem kleinen Fünkchen Hoffnung auf eine mögliche Zukunft. Die Frage nach einem was wäre wenn kam in meinem Kopf nicht mehr vor, ich hatte sie herausgestrichen. Ich hatte meine Entscheidung getroffen. Und jetzt wollte ich schlicht und ergreifend die verbliebene Zeit nutzen, um zu leben.
Frustriert wandte ich mich wieder dem Wohnheim zu, als ich die erste Blase an meinen Füßen bemerkte. Auch das noch!
»Dann eben barfuß!«, zornig beugte ich mich nach unten, löste das Riemchen und schlüpfte aus dem Schuh. Die Schnalle des zweiten Schuhs jedoch wollte sich nicht lösen.
»Verdammter Mist!«, aufgebracht nestelte ich an dem Verschluss herum, bis er aufsprang. Mein Geduldsfaden riss und wutentbrannt pfefferte ich erst den einen, dann den anderen Schuh von mir weg durch die Luft. Dieser Abend war ein absoluter Reinfall!
Eine Sekunde später erklang ein ersticktes Aufstöhnen vor mir aus der Dämmerung.
Mit einem Mal war mein kleiner Wutanfall wie verpufft. Erschrocken fuhr ich wie von der Tarantel gestochen herum. Offensichtlich hatte ich mit meinen Schuhen jemanden getroffen - einen Mann. In dem schwachen Schein der Straßenlaternen konnte ich den Fremden nicht erkennen, jedoch hörte ich den schmerzerfüllten Laut, der die einsetzende Dunkelheit durchschnitt und über die Straße hallte. Der Fremde hatte sich vor Schmerzen gekrümmt. Wie es schien, hatte ich ihn wohl zu allem Überfluss auch noch direkt im Schritt erwischt.
»Oh Gott«, rief ich entsetzt und eilte hastig auf ihn zu. »Es tut mir wahnsinnig Leid, ich habe Sie nicht gesehen, ich...«, mitten im Satz brach ich ab, als ich in ein paar smaragdgrünen Augen schaute, die mir verdammt bekannt vorkamen.
Mein Herz stolperte kurz, während diese wunderschönen Augen zu mir hoch schauten.
Professor Wright erwiderte meinen Blick. Überraschung legte sich über seine Gesichtszüge, ehe die Überraschung der puren Entrüstung wich.
»Sie schon wieder!«, fluchte er erstickt, während seine Hände noch immer schützend über seinen Weichteilen schwebten.
In einer Mischung aus Ungläubigkeit und Zerknirschung starrte ich auf ihn herab. Wie oft wollte mich das Schicksal noch demütigen, indem es mich von einem Fettnäpfchen ins nächste beförderte? Und warum mussten diese Fettnäpfchen den Namen Professor Dr. Julian Wright tragen? Nicht zu fassen, dass wir uns alle naselang über den Weg liefen.
»Ich könnte das Gleiche behaupten!«, erwiderte ich und reckte das Kinn. »Was tun Sie denn hier?«
Er sah schmerzerfüllt zu mir auf.
»Brauche ich etwa eine Erlaubnis, um mich auf dem Campus aufzuhalten, an dem ich unterrichte?«, fragte er atemlos und richtete sich allmählich wieder auf.
Nun ja, da hatte er wohl Recht. Yale war nicht nur ein College, sondern kam einer Stadt gleich. Hier gab es Wohnheime, Colleges, Bibliotheken, Cafés, Restaurants sowie Pubs und Clubs. Manche Dozenten wohnten sogar auf dem Campus. Yales Größe war nicht einmal ansatzweise in Worte zu fassen.
Kurz erwog ich es, mich meiner Antisympathie für den Professor hinzugeben und einen bissigen Kommentar zum Besten zu geben. Ich entschied mich jedoch in letzter Sekunde dagegen. Schließlich hatte er mir bei unserer letzten Begegnung damit gedroht, mich dem Dekan zu melden. Ich stand bereits auf Kriegsfuß mit ihm und durfte es mir nicht noch mehr verscherzen. Mein Studium in Yale stand auf Messerschneide. Hinzu kam die simple Tatsache, dass mich der Anflug eines schlechten Gewissens plagte, da ich ihn beinahe mit meinem Schuh erschlagen hätte.
»Entschuldigen Sie«, ich entschied mich für Freundlichkeit und räusperte mich. »Habe ich Sie verletzt?«
Der Professor grummelte leicht.
»Bis auf ein paar Flecken und der Tatsache, dass Sie mich beinahe kastriert hätten, ist alles in Ordnung«, antwortete er grimmig.
Für einen kurzen Augenblick glaubte ich mich verhört zu haben. Besaß dieser Mann etwa doch so etwas wie Humor? Als ich mir seiner Worte bewusst wurde, schaute ich an ihm herab und entdeckte auf seiner blauen Jeans einige Schmutzflecken, die er wohl meinem Schuh zu verdanken hatte. Ein schlechtes Gewissen plagte mich.
»Oh verdammt, das tut mir leid! Warten Sie, ich erledige das«, schuldbewusst ließ ich mich instinktiv auf die Knie sinken, stellte meinen Becher ab und hob die Hand, um den Dreck auf seiner Jeans abzuklopfen.
»Miss Taylor!«, Professor Wright schnappte erschrocken nach Luft und starrte auf mich herab. »Was tun Sie da?«
»Es tut mir wirklich leid, ich habe Sie nicht gesehen, ehrlich nicht. Das war keine Absicht«, erklärte ich nochmals. Wäre ich nicht so sehr mit dem Versuch beschäftigt gewesen, meinen Fehler wieder auszubügeln, wäre mir wohl die Tatsache aufgefallen, dass er sich meinen Namen gemerkt hatte - und dass ich meinem Professor in aller Öffentlichkeit an der Hose rummachte! Doch die Angst davor, noch tiefer in seiner Ungnade zu fallen, beraubte mich jeglichem Realitätssinn. Stattdessen verfiel ich in Hektik, als ich den Dreck auf seiner Hose nur noch mehr verteilte.
»Oh shit! T-tut mir wirklich leid! Spätestens in der Waschmaschine bekommen Sie das bestimmt wieder raus! I-ich zahle die Reinigung auch«, stotterte ich nervös.
»Miss Taylor, es reicht, hören Sie auf damit!«, Professor Wright biss die Zähne zusammen. Einen Wimpernschlag später spürte ich, wie sich zwei starke Hände um meine Handgelenke schlangen, meinem Tun Einhalt geboten und sie festhielten. Dann wurde ich mit einem kräftigen Ruck wieder hoch auf die Füße gezogen.
»Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen?«, schnauzte er mich völlig fassungslos an.
Sofort hielt ich inne und erwiderte den entgeisterten Blick, mit dem er mich bedachte. Aufgrund der Tatsache, dass er mich hochgezogen hatte, standen wir nun ziemlich nahe beieinander und sein Gesicht schwebte unmittelbar vor dem meinem.
Aufregung machte sich in mir breit und für einen klitzekleinen Moment gestattete ich mir, Julian Wright unverhohlen zu mustern. Mein Blick wanderte zu seinen perfekt geschwungenen Lippen über die gerade Nase, bis hin zu den grünen Augen, die von einem schwarzen Ring umgeben waren und einen krassen Kontrast zu dem braunen Haar bildeten. Zum ersten Mal fiel mir auch ein kleiner Schönheitsfleck auf, der seinen rechten Wangenknochen zierte. Professor Wrights Gesicht hatte etwas Hartes, Unnachgiebiges an sich und wirkte dennoch gleichermaßen verwegen.
Und plötzlich hatte ich Verständnis. Ich hatte Verständnis dafür, dass ihm sicherlich alle Frauenherzen zuflogen. Ich hatte Verständnis für die Studentinnen, die ihm laut Cayas Aussage alle gar der Reihe nach verfielen und ich hatte auch Verständnis dafür, dass sie sich kaum auf die Vorlesungen konzentrieren konnten und ihm schmachtende Blicke zuwarfen.
Bedauerlicherweise tat ich in diesem Augenblick nämlich nichts anderes.
Ich wusste gar nicht, wie mir in diesem Moment geschah. Es war, als stünde die Zeit kurz still, als hätte jemand den Pausenknopf betätigt und die Erde hörte für ein paar Sekunden auf sich zu drehen. Ich war so sehr von ihm eingenommen, dass ich sogar das Atmen vergaß. Professor Wright erwiderte meinen Blick mit zusammengekniffenen Brauen, doch war der Ausdruck auf seinem Gesicht undurchdringlich.
Ich bemerkte erst, dass er noch immer meine Hände festgehalten hatte, als er sie nun losließ und etwas Abstand zwischen uns brachte. Meine Haut kribbelte allerdings noch immer von seiner Berührung. Unter größter Not und Anstrengung schaffte ich es, mich von seiner vereinnahmenden Präsenz loszureißen. Ich konnte nur aus tiefstem Herzen hoffen, dass er mein Starren nicht als solches wahrgenommen hatte. Krampfhaft versuchte ich mich zu erinnern, was gerade passiert war und allmählich sickerte die Erkenntnis durch. Langsam sah ich nach unten auf seine Hose und realisierte, was ich getan hatte.
»Oh mein Gott, entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht...«, kopfschüttelnd suchte ich nach dem richtigen Wort, während ich bis zu den Haarwurzeln errötete. »Nicht unsittlich berühren«
Professor Wright hob eine Braue. Statt einer Antwort starrte er mich einfach nur stumm an, was mich nur noch nervöser machte. In meinem Hals bildetet sich ein Kloß.
Scheiße. Scheiße. Scheiße.
»Unsittlich?«, wiederholte er. Er räusperte sich und schien sich sichtlich ein Schmunzeln verkneifen zu müssen.
»Ja, es tut mir wirklich leid. Ich hatte einfach nur panische Angst, dass sie mich dem Dekan melden«, nervös begann ich wie wild mit den Händen zu gestikulieren. »Die habe ich übrigens immer noch! Ich weiß, dass wir keinen guten Start miteinander hatten, aber ich möchte Ihnen beweisen, dass ich eine gute Studentin sein kann. Ich werde mich bemühen, wenn Sie mir noch eine Chance geben, das verspreche ich. Ich werde Sie nicht enttäuschen und auch auf meinen Ton achten und ich werde...«,
»Holen Sie gelegentlich auch einmal Luft beim Reden?«, unterbrach er mich. »Sie reden wie ein Wasserfall.«
Erst jetzt bemerkte ich, dass ich wieder einmal drauf los geplappert hatte, ohne nachzudenken. Ich seufzte resigniert.
»Wasserfälle sollte man stoppen können.«
»Wie bitte?«, fragte er sichtlich irritiert.
»Ach nichts«, ich schüttelte den Kopf.
Es herrschte kurze Stille. Dann räusperte Professor Wright sich.
»Nun denn, ich hoffe Sie sind in der Vorlesung am Montag genauso engagiert, wie eben.«
Mein Gesicht erhellte sich und mit großen, hoffnungsvollen Augen sah ich zu ihm auf.
»Das heißt, Sie melden mich nicht dem Dekan?«, ich hielt angespannt die Luft an.
Ein seltsamer Ausdruck legte sich über sein Gesicht, der fast schon etwas von liebevoller Nachsicht an sich hatte.
»Ich weiß zwar nicht, wie viele zweite Chancen Sie noch von mir verlangen, aber nein, Miss Taylor, ich werde Sie nicht dem Dekan melden. Vorerst jedenfalls.«
Ein Stein fiel mir vom Herzen und um ein Haar wäre ich Professor Wright vor Freude um den Hals gefallen. Ich hielt mich jedoch geflissentlich zurück. Stattdessen schenkte ich ihm ein breites Lächeln.
»Ich danke Ihnen! Sie werden es nicht bereuen!«
»Das hoffe ich«, fast erwiderte er mein Lächeln. Aber nur fast. Mit einem Mal wirkte er nicht mehr wie der arrogante Mistkerl, für den ich ihn gehalten hatte - und für den ein Teil von mir ihn immer noch hielt. Doch trotz der ungünstigen und unangenehmen Umstände hatte Professor Wright soeben ein klein wenig Menschlichkeit gezeigt. In meiner Magengegend rührte sich etwas. Etwas, das sich verdächtig nach Bauchkribbeln anfühlte.
Das war nicht gut. Das war ganz und gar nicht gut.
Der Fluchtreflex in mir ergriff die Oberhand.
»Na schön, dann werde ich mal zurück gehen«, ich deutete auf das Wohnheim hinter mir und wandte mich zum Gehen.
»Miss Taylor?«, hörte ich Professor Wright rufen, nachdem ich mich bereits ein paar Schritte entfernt hatte. Sofort drehte ich mich zu ihm um. Er hob in der einen Hand meine Schuhe und in der anderen meinen Becher in die Höhe.
»Sie haben da etwas vergessen.«
Verdammt. In meinem Gefühlschaos hatte ich vollkommen versäumt, meine Schuhe und mein Bier mitzunehmen. Wieder einmal lief ich hochrot an und tapste peinlich berührt zu ihm zurück.
Ich nahm ihm meine Schuhe ab und schlüpfte hastig hinein. Als ich ihm jedoch den Becher aus der Hand nehmen wollte, zögerte er kurz und hielt ihn zurück.
»Sie wissen schon, dass Alkohol erst ab einundzwanzig erlaubt ist, oder?«, er grinste. Es war ein absolut umwerfendes und entwaffnendes Grinsen, das mich beinahe in die Knie zwang.
»Woher wollen Sie wissen, dass ich noch keine einundzwanzig bin?«, konterte ich und legte den Kopf schräg.
Professor Wrights Grinsen wurde breiter und er zuckte geheimnisvoll mit den Schultern.
»Vielleicht aufgrund ihres frechen und kindischen Benehmens.«
»Hey!«, stieß ich empört aus und warf ihm einen bösen Blick zu. »Und ich dachte gerade schon Sie seien doch kein arroganter Mistkerl.«
»Vorsicht, Miss Taylor, Sie wollen doch nicht den vorübergehenden Frieden gefährden«, warnte er mich. Hätte ich anhand seiner Wortwahl nicht herausgehört, dass er noch immer scherzte, hätte man fast annehmen können, dass er die Drohung ernst meinte.
»Sie messen mit zweierlei Maß, Professor«, legte ich es dennoch darauf an, denn ich wollte beweisen, dass ich ihm keineswegs unterlegen war.
Argwöhnisch kniff er die Augen zusammen.
»Außerdem«, ich deutete auf mein Getränk, das er noch immer in den Händen hielt. »Sind Sie sicher auch einmal aufs College gegangen und haben während dieser Zeit Partys gefeiert und Alkohol getrunken«, parierte ich und traf mit meiner Aussage wohl genau ins Schwarze, denn wieder zeichnete sich dieses Lächeln auf seinen Lippen ab.
Oh Mann...
»Na gut«, er gab mir den Becher zurück. »Ich tue mal so, als hätte ich das nicht gesehen.«
»Überaus solidarisch von Ihnen«, sagte ich mit neckendem Tonfall und nahm den Becher entgegen.
»Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche erste College Party, Miss Taylor.«
»Danke schön«, instinktiv dachte ich an meinen Streit mit Josh und die folgenden Worte rutschten einfach so aus mir heraus. »Erfolgreich war sie bisher eher weniger.«
Professor Wright hakte jedoch nicht weiter nach, stattdessen wandte er sich langsam zum Gehen.
»Ich bin sicher, es werden noch Unzählige folgen«, er zwinkerte mir zu.
»Das glaube ich nicht«, erwiderte ich leise und legte mir eine Hand aufs Herz, das ein klein wenig zu schnell schlug, als gut für mich war.
Eins Zwei.
Eins Zwei.
Eins Zwei.
Professor Wright jedoch hatte meine deprimierende Aussage nicht gehört. Stattdessen verabschiedete er sich mit einem Nicken und den Worten Ich sehe Sie am Montag in meiner Vorlesung. Dann verschwand er in der Dunkelheit, aus der er gekommen war.
Noch eine geschlagene Ewigkeit stand ich da, mit der Hand über meinem Herzen und starrte ins Leere. Erst dann begann ich zu begreifen, warum zur Hölle mein Herz nur so schnell schlug - und der Grund dafür war definitiv nicht meine Erkrankung ...
Laut fluchend wandte ich mich dem Weg zurück zum Wohnheim zu.
»Dieser arrogante, überhebliche und anmaßende Mistkerl!«
Hallo ihr Lieben :)
Endlich wieder ein neues Kapitel! Ich hoffe es gefällt euch, schreibt mir eure Meinungen in die Kommentare! Leider komme ich in letzter Zeit mal wieder nicht so viel zum Schreiben, weshalb ihr bei "Love me tomorrow" und "Logans Story" noch ein bisschen warten müsst. Ich wollte euch jedoch bei "Her Heart" nicht noch länger auf die Folter spannen. Ich bin schon gespannt, was ihr von dem neuen Kapitel hält!
Ganz liebe Grüße,
eure Lora <3
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